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Gen Z steht für Genoss*in

Indonesien, Madagaskar, Marokko, Peru – was verbindet die globalen Jugendrevolten, und ist der Aufstand jetzt zurück?

Von ak-Redaktion

Eine Gruppe junger Menschen posiert jubelnd für ein Foto, im Hintergrund eine größere Menschenansammlung und ein Gebäude, aus dem Rauch auftsteigt.
Von antriebslos keine Spur: Jugendliche vor dem brennenden Parlament in Kathmandu am 9. September 2025. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Amit Machamasi

Die bis dato meist als depressiv, arbeitsscheu und Social-Media-süchtig beschriebene Generation der zwischen 1995 und 2010 Geborenen hat sich mit einem Paukenschlag zu Wort gemeldet. Indonesien, Nepal, die Philippinen, Marokko, Madagaskar, Peru, Ecuador, Paraguay – das sind nur die Länder, aus denen seit Mitte August jugendliche Massenproteste und Aufstände gemeldet wurden. Auch in Serbien wird seit Monaten demonstriert, in Kenia und Bangladesch gab es 2024 ähnliche Revolten.

Fast überall bilden sich die Proteste spontan, sind wenig organisiert, außer über Social Media, immer entzünden sie sich an sozialer Ungerechtigkeit, oft geht es um Korruption und Misstrauen gegen eine etablierte Politiker*innenklasse, schlechte Zukunftsperspektiven, Polizeigewalt. In Kommentaren wird als Charakteristikum der »Gen-Z«-Proteste oft die digitale Mobilisierung hervorgehoben, die Verwendung der Piratenfahne aus dem Anime »One-Piece« darf als Symbol hierfür nicht fehlen. Doch das ist banal und vor allem nicht neu. Schon die Revolten in nordafrikanischen und arabischen Ländern 2011 wurden als Facebook- oder Twitter-Revolutionen bezeichnet. Nun sind es eben TikTok oder Discord, auch über das alte Facebook wird in vielen Ländern noch mobilisiert.

Nicht nur in ihrer Spontaneität und Unorganisiertheit ähneln die Proteste den globalen Aufständen von 2011 und dann noch einmal denen von 2019, auch wenn im sogenannten Arabischen Frühling die Befreiung von Diktaturen und 2019 die Sorge vor Diktaturen eine etwas größere Rolle spielten. Auch die Anlässe gleichen sich: Armut, Perspektivlosigkeit der Jugend, Unzufriedenheit mit dem System, Hass auf seine Profiteure, weshalb die spontanen Bewegungen schnell zu Forderungen nach dem Sturz der Regierung übergehen. Kein Wunder: Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind seit Jahrzehnten eingefroren, Wege in eine bessere Zukunft blockiert.

Die Anlässe der Aufstände gleichen denen von 2011 und 2019: Armut, Perspektivlosigkeit, Hass auf das System und seine Profiteure.

Viele der Länder, in denen nun protestiert wird, haben im kapitalistischen Weltsystem vor allem die Rolle als Lieferanten von Rohstoffen und Arbeitskräften. Sozialer Aufstieg ist oft nur über Zugang zum Staat und seinen Ressourcen oder in einigen exklusiven Industrien möglich. Ein kapitalistisches Entwicklungs- und Fortschrittsversprechen für die Mehrheit existiert nicht. Auffallend – und ein Unterschied zu den vorherigen Protestwellen – ist, dass die jugendliche Aufstandsbewegung bisher vor allem arme bis sehr arme Länder erfasst hat. In Nepal (drittärmstes Land Asiens), Madagaskar (fünftärmstes Land der Welt) und Peru ist es den Protestierenden gar gelungen, die Regierung zu Fall zu bringen. Alle drei Länder haben eine lange Geschichte sozialer Kämpfe. In Nepal wie Madagaskar haben die Revolten korrupte Präsidenten abgesägt, die einst selbst im Zuge von Aufständen oder mit dem Versprechen, einen grundlegenden Wandel einzuleiten, an die Macht gekommen waren. Dass sich durch die Umstürze die Verhältnisse grundlegend ändern werden, ist aus den genannten Gründen allerdings unwahrscheinlich.

Dennoch ist die neue Aufstandswelle ein Hoffnungsschimmer. Während auf das Protestjahrzehnt von 2011 bis 2019 eine Welle autoritärer bis faschistischer Machtübernahmen folgte und die bröckelnde Stabilität des US-dominierten Weltsystems zuletzt immer öfter in Krieg und Nationalismus mündete, zeigen sie, dass der Wunsch nach einem besseren Leben sich weiterhin gegen die Mächtigen richten und solidarische Formen annehmen kann. Dass die Protestierenden sich mit der Verwendung der »One-Piece«-Flagge ausdrücklich in einen internationalen Zusammenhang stellen, ist vielleicht die beste Nachricht. Auch wenn die Bewegungen noch keinen Ausweg aus der spätkapitalistischen Blockade zeigen: Dass die Basis für eine globale Klassenpolitik besteht, führen sie eindrucksvoll vor.

Indonesien

»Viele sind Studierende. Dazu kommen Fabrikarbeiter, Taxifahrer, Aktivisten, Menschenrechtsgruppen und Minderheitenorganisationen. Es ist eine vielseitige Bewegung, keine kleine Elitenbewegung.« So beschrieb der indonesische Politikwissenschaftler Djayadi Hanan Anfang September in einem Interview mit Zeit Online die Protestbewegung, die um den 25. August herum in Indonesien in Erscheinung getreten war.

Zunächst hatten die Proteste sich daran entzündet, dass sich die Abgeordneten des Parlamentes selbst die Wohnzuschüsse großzügig erhöht hatten: um 50 Millionen Rupiah (etwa 2.600 Euro), das Zehnfache eines monatlichen Mindestlohns in der Hauptstadt Jakarta. Das landesweite durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen lag 2024 bei 6,5 Millionen Rupiah (knapp 340 Euro).

Die Tötung des 21-jährigen Kurierfahrers Affan Kurniawan durch die Aufstandsbekämpfungspolizei Brimob am 28. August heizte die Demonstrationen weiter an. Die eilige Rücknahme der beschlossenen Wohnzuschüsse konnte sie zunächst nicht beruhigen. Wie so oft war dieser Anlass nur ein Ventil, das lang angestaute Wut über sehr viel grundsätzlichere Ungerechtigkeiten freisetzte. 60 Prozent der indonesischen Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor, Teuerungen bei Nahrungsmitteln haben vielen Menschen zuletzt besonders zugesetzt. In den vergangenen fünf Jahren seien zehn Millionen Indonesier*innen sozial abgestiegen, heißt es. Schon im Februar hatten Menschen daher gegen Sparmaßnahmen demonstriert. So ganz spontan waren die Proteste also nicht, etwas lag bereits länger in der Luft. Aus Angst vor Unruhen hatte die Regierung in Jakarta Mitte des Jahres die Veröffentlichung offizieller Arbeitsmarktdaten gestoppt.

Eine große Gruppe junger Menschen steht vor einer besprühten Mauer, einige sind hinaufgeklettert, dahinter steht eine sehr große Gruppe Polizisten mit Helmen und ein Wasserwerfer
Studierende protestieren am 29. August nach der Tötung eines 21-jährigen Kurierfahrers durch die Polizei in Jakarta. Foto: Efraimleonard / Wikimedia Commons, Public Domain

Genützt hat es nichts, wenige Wochen später brannten die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten des Landes, so in Surabaya, Bandung, Yogyakarta, Pontianak oder Makassar, wo Zehntausende wütend demonstrierten. Viele Medien schreiben von den größten Protesten seit dem Ende der Suharto-Diktatur, also seit Ende der 1990er Jahre. Am Anfang der mehr als drei Jahrzehnte währenden Diktatur hatten monatelange Massaker mit mindestens einer halbe Million Toten gestanden, echte wie vermeintliche Mitglieder und Unterstützer*innen der Kommunistischen Partei Indonesiens, die damals – Mitte der 1960er Jahre – eine der größten der Welt war. (ak 689) Wirtschaftlich ging die Diktatur mit der Abkehr von der Bewegung der Blockfreien Staaten und einer frühen radikal-neoliberalen Umgestaltung des Landes einher.

Eine echte Aufarbeitung steht bis heute aus, die Verantwortlichen für die Massenmorde sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. Suhartos Schwiegersohn, der frühere General Prabowo Subianto, ist seit letztem Jahr Präsident Indonesiens. Er steht damit auch für eine Kontinuität der Nicht-Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen, die sich im Umgang mit den aktuellen Protesten wieder zeigte. Mitte Oktober sprach Amnesty International von einer »umfassenden gewaltsamen Niederschlagung« der landesweiten Demonstrationen und prangerte die willkürliche Verhaftung von Protestierenden an, von denen acht nun angeklagt wurden, nur weil sie, so Amnesty, »protestiert oder soziale Medien zur Unterstützung der jüngsten Proteste genutzt hatten«.

Peru

Seit Mitte September geht die Generation Z auch in Peru auf die Straße. Gemeinsam mit Lkw- und Busfahrer*innen, Gewerkschaften und Umweltgruppen hat sie bereits einen ersten Teilerfolg errungen: Anfang Oktober führten die Proteste, bei denen die Polizei Gewalt einsetzte und Demonstrierende und Journalist*innen verletzte, dazu, dass der Kongress Präsidentin Dina Boluarte des Amtes enthob.

Auslöser war eine geplante Rentenreform, die Peruaner*innen mit 18 Jahren dazu verpflichten soll, in einen privaten Rentenfonds einzuzahlen. Die jungen Protestierenden, die sich auch in Peru mit der »One-Piece«-Piratenflagge versammeln, kritisierten, dass davon nur private Rentenfonds profitieren, während ihnen die abgeführten Beiträge fehlen, um den Alltag zu bewältigen. Das ist in den letzten Jahren immer schwieriger geworden: Gesunkene Rohstoffpreise und politische Instabilität – Peru hatte sieben Präsident*innen in neun Jahren – haben die Wirtschaft stagnieren lassen. Die soziale Ungleichheit ist groß, junge Menschen haben meist unsichere Jobs im informellen Sektor.

Hinzu kommt, dass die Kriminalität explodiert, seitdem Dina Boluarte zum Jahreswechsel 2022/23 auf den linken Ex-Präsidenten und ihren einstigen Parteifreund Pedro Castillo folgte. Allein zwischen Januar und August dieses Jahres wurden 1.508 Morde und 18.535 Erpressungen registriert, ein Anstieg um 12,6 bzw. 29,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insbesondere Busfahrer*innen sind das Ziel von Schutzgelderpresser*innen geworden. Seit Jahresbeginn wurden im Großraum Lima 46 Busfahrer*innen ermordet. Die Polizei schaue weg, wenn man sie bitte, gegen Kriminelle vorzugehen, kritisierte ein Demoteilnehmer gegenüber dem Nachrichtenportal amerika21. Gleichzeitig seien sie zu Dutzenden zur Stelle, »um uns zu unterdrücken«.

Bereits 2023 hatte Human Rights Watch in einem Bericht auf massive Gewalt vom peruanischen Militär und der Polizei während der Proteste zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 hingewiesen. Je nach Schätzung wurden bis zu 60 Menschen getötet und Hunderte verletzt – die meisten von ihnen gehörten zu den Ärmsten, zu indigenen Gemeinschaften oder waren Kleinbäuer*innen. Dem Bericht zufolge können die Fälle als außergerichtliche oder willkürliche Hinrichtungen angesehen werden.

Mit der Absetzung Boluartes ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Nicht nur die Präsidentin, der gesamte Kongress wird von den Demonstrierenden als korrupt wahrgenommen. Eine Erklärung der dezentralen Organisation Generación Z endet mit der Losung: »Nieder mit der Diktatur von Dina Boluarte! Nie wieder dieselben alten Parteien! Für die Entmachtung der Fuerza Popular!«

Der neue Interimspräsident José Jerí gehört zwar nicht der rechtskonservativen und wirtschaftsliberalen Fuerza Popular unter Keiko Fujimori an, der Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori, aber der ebenfalls konservativen christdemokratischen Somos Peru. Diese wird wie der gesamte Kongress als Teil des Problems wahrgenommen. Zudem gilt Jerí als Verbündeter seiner Vorgängerin, die meisten von ihm berufenen Minister*innen sind rechte oder wirtschaftsnahe Politiker*innen. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Proteste inzwischen auch gegen ihn richten. Bei Straßenschlachten mit der Polizei vor dem Kongressgebäude starb Mitte Oktober eine Person, mehr als 100 wurden verletzt. Die Übergangsregierung will, Stand 17. Oktober, den Ausnahmezustand in Lima ausrufen; Jerí fordert vom Kongress bereits Sonderrechte, um diese nicht abstimmen zu müssen.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.

Madagaskar

Soziale Ungerechtigkeiten waren auch in Madagaskar Ausgangspunkt der dortigen Gen-Z-Revolte, die Mitte Oktober, nach der Flucht und anschließenden parlamentarischen Absetzung von Präsident Andry Rajoelina, in der Machtübernahme durch Teile des Militärs gipfelte.

Am 25. September begannen die Proteste auf der riesigen Insel vor der Südostküste Afrikas, die über eine einzigartige Biodiversität und große natürliche Reichtümer verfügt. Deren Abbau produziert allerdings auch schwere Umweltschäden, zudem kommt vom Erlös fast nichts bei der Bevölkerung an. Madagaskar mit seinen 32 Millionen Einwohner*innen zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, die Armutsquote liegt laut Weltbank bei 75 Prozent.

Anlass der Proteste: die absolut unzuverlässige Strom- und Trinkwasserversorgung. Zunächst waren es vor allem junge Menschen in der Hauptstadt Antananarivo, oft Studierende, die mit Slogans wie »Wir wollen leben, nicht überleben« auf die Straße gingen. Parallel kam es auch zu Plünderungen – die von den Protestierenden als Manöver der Sicherheitskräfte kritisiert wurden, Gründe für ein hartes Eingreifen zu provozieren. Wie schon in Nepal trug die Polizeigewalt, die mindestens 22 Todesopfer forderte, zum Anwachsen der Bewegung bei, die schnell auf andere Städte übergriff. Weitere Forderungen kamen hinzu: Rücktritt des Präsidenten, Entmachtung und Enteignung des Unternehmers und Multimillionärs Maminiaina »Mamy« Ravatomanga, der als graue Eminenz hinter Rajoelina gilt, Auflösung des Senats und des Verfassungsgerichts, die ebenfalls als korrupt verschrien sind.

Auch in Madagaskar gingen die Aktionen von jungen Menschen aus, die sich, inspiriert von den Aufständen in Indonesien und Nepal, unter dem Namen Gen Z Mada über Social Media organisierten. Ende September gewann die Bewegung an Breite. Gewerkschaften aus dem Gesundheitssektor und bei den Wasser- und Elektrizitätswerken (dem Staatsunternehmen Jirama, das wegen der Ausfälle in der Kritik stand) kündigten Streiks an, die Jugendbewegung rief zum Generalstreik auf. An Streiks beteiligten sich in den folgenden Tagen auch Lehrer*innen und Gefängniswärter*innen. Letztere erklärten, keine verhafteten Protestierenden mehr aufzunehmen.

Anfang Oktober machten Gerüchte über Unruhe in den Reihen der Armee die Runde, einige Soldaten wurden festgenommen. Auch Oppositionspolitiker*innen wagten sich aus der Deckung. Präsident Rajoelina, der 2009 selbst nach Protesten gegen hohe Lebenshaltungskosten und einem Militärputsch als junger Hoffnungsträger ins Amt gekommen war, unternahm noch Versuche, sich an der Macht zu halten, aber vergeblich. Am 10. Oktober schlossen sich erste Soldaten in der Stadt Antsiranana den Demonstrant*innen an. Tags darauf ging die Spezialeinheit Capsat (die Rajoelina einst an die Macht verholfen hatte) in offene Meuterei über und erklärte: »Unsere Kinder leiden, wir sind nicht hier, um sie zu töten oder zu schlagen. Wir erleben das gleiche Leid.«

Am 12. Oktober war es so weit. Capsat übernahm die Armeeführung, die ehemalige Kolonialmacht Frankreich evakuierte Rajoelina, Tycoon Ravatomanga floh im Privatjet nach Mauritius. Wenig später erklärte Capsat-Oberst Michael Randrianirina: »Wir ergreifen die Macht.« Die Verfassung sei ausgesetzt, binnen maximal zwei Jahren solle eine neue erarbeitet werden, dann Wahlen stattfinden. In der Zwischenzeit werde eine militärisch-zivile Übergangsregierung das Land führen. Auf Vorschlag des Verfassungsgerichts erklärte Randrianirina sich zum Übergangspräsidenten. Die Afrikanische Union setzte daraufhin Madagaskars Mitgliedschaft aus.

Wie es weitergeht, ist unklar. Die Protestierenden feierten den Putsch mehrheitlich, äußerten aber auch Befürchtungen, dass sie nun an den Rand gedrängt werden könnten. Auch wenn sich in den Protesten auf lokaler Ebene hier und da Komitees gebildet haben, ist die Bewegung bisher nicht wirklich organisiert. Auf einen institutionellen Prozess kann sie, anders als Parteien und das Militär, wenig Einfluss nehmen.

Marokko

Die Bewegung Gen Z 212 in Marokko wurde durch den Tod von acht Schwangeren bei der Entbindung in einem Krankenhaus in Agadir losgetreten. Protestaufrufen auf der Streamingplattform Discord folgten am 27. September Menschen in mindestens elf Städten. Denn die Tode der Schwangeren wären vermeidbar gewesen, hätte der Staat das Sozial- und Gesundheitswesen nicht jahrelang kaputtgespart. Es fehlt schon seit langem an Ausstattung, Personal und Zugang zu medizinischer Versorgung. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO kamen 2021 in Marokko nur etwa sieben Ärzt*innen auf 10.000 Menschen.

Doch bei den Protesten geht es um mehr, und dass vor allem junge Menschen sich anschließen, ist kein Zufall: Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen liegt in Marokko laut offiziellen Angaben bei 35,8 Prozent. Wenn sie nicht arbeitslos sind, sind sie oft in unsicheren und informellen Jobs, was ihren Zugang zum Sozial- und Gesundheitswesen erschwert. Die Protestierenden fordern daher gute Bildung und Gesundheitsversorgung für alle, bezahlbares Wohnen, bessere Löhne und mehr Arbeitsplätze.

»Wir wollen Krankenhäuser und Schulen, keine Fußballstadien«, lautet ein Slogan. Marokko richtet den Afrika-Cup aus, der im Dezember beginnt, und ist zudem Co-Gastgeber der Fußball-WM 2030. Während in der Bevölkerung Perspektivlosigkeit und Not herrschen und viele Jugendliche über Auswanderung nachdenken, fließen Milliarden in den Bau eines der weltweit größten Stadien und in den Tourismus. Die Rede von König Mohammed VI. am 10. Oktober verstärkte die Unzufriedenheit noch. Es gebe keinen Widerspruch oder Wettbewerb zwischen solchen nationalen Großprojekten und dem Sozialwesen, erklärte er im Parlament. Er forderte zwar die Verbesserung der Lebensbedingungen, äußerte sich zur Enttäuschung vieler Jugendlicher jedoch mit keinem Wort direkt zu den Protesten der letzten Wochen.

Auf diese antwortete der Staat – mit Repression und Gewalt: Hunderte wurden verletzt und drei Menschen getötet. Zudem wurden mehr als 1.000 Menschen festgenommen, 500 allein in den ersten sechs Protesttagen. Einige von ihnen sind inzwischen wieder frei, aber vielen drohen lange Haftstrafen. Laut dem marokkanischen Magazin Telquel wurden am 14. Oktober 17 Jugendliche, die an den Protesten beteiligt waren, zu insgesamt 162 Jahren Gefängnis verurteilt.

Dabei bringt Gen Z 212 keinesfalls neue Forderungen vor. In Marokko gab es in den letzten Jahren immer wieder Proteste für Reformen. Was die aktuelle Bewegung besonders macht, ist, dass sie keine Anführer*innen hat. Die Mobilisierung und Koordinierung findet zu einem großen Teil über Discord statt, wo der Kanal von Gen Z 212 mittlerweile mehr als 200.000 Abonnent*innen zählt. Dort wird weiter zu Protesten aufgerufen – sowie zum Boykott des Afrika-Cups und von Unternehmen des Premierministers Aziz Akhannouch.

Hêlîn Dirik

ist Redakteurin bei ak.

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