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»Wir müssen uns aus dem polizeilichen Blick herausarbeiten«

Warum identifizieren sich so viele Menschen mit der Polizei? Das erklären Vanessa E. Thompson und Daniel Loick im Interview

Interview: Jan Ole Arps und Nelli Tügel

Vier Polizisten (von hinten zu sehen) stehen auf einer Straße und betrachten eine Menschenmenge.
Wo die Polizei auftaucht, muss ja etwas Kriminelles vorgefallen sein. Foto: Montecruz Foto / Flickr, CC BY-SA 2.0

Nachdem rund um die Black-Lives-Matter-Bewegung kurz eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Rassismus und Polizei auch in Deutschland möglich schien, wird nun doch wieder nur über Gewalt gegen Beamt*innen geredet – und darüber, dass man nicht alle Polizist*innen über einen Kamm scheren dürfe. Erneut ist deutlich geworden, wie viele Menschen sich mit der Polizei und ihrer Perspektive identifizieren. Wie diese Identifikation funktioniert und immer wieder neu hergestellt wird, erklären die kritischen Polizeiforscher*innen Vanessa E. Thompson und Daniel Loick.

Vor wenigen Wochen gab es große Black-Lives-Matter-Proteste auch in Deutschland, eine Debatte über Rassismus bei der Polizei schien in Gang zu kommen. Wenige Wochen später ist nun Gewalt gegen die Polizei das große Thema, Kritik an der Polizei erscheint fast als eine Art Gotteslästerung. Woher kommt diese extreme Identifikation mit der Polizei?

Vanessa E. Thompson: Schon in den Reaktionen auf das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz hat man gesehen: Wenn es um institutionellen Rassismus in der Polizei geht, gibt es starke Abwehrreaktionen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Diese Abwehr behauptet, man könne die US-Polizei nicht mit der deutschen Polizei vergleichen. Auch bei den Black-Lives-Matter-Protesten hat man gesehen, wie gut es funktioniert, Themen wie Polizeigewalt und Rassismus in die USA auszulagern, während es in Deutschland angeblich nur Einzelfälle gibt. Dabei wird institutioneller Rassismus in der Polizei auch in Deutschland schon lange kritisiert.

Daniel Loick: Bemerkenswert ist auch, dass der Fall von George Floyd die Proteste in Deutschland ausgelöst hat. Deutsche Ereignisse, wie der Mord an Oury Jalloh, die Tötung von Christy Schwundeck, der NSU 2.0 oder die Morde in Hanau haben keine solche Reaktion erzeugt. Offenbar braucht es den Umweg über die USA, um Empörung zu produzieren. Das gilt auch für die Berichterstattung in den Medien: Finden Riots in den USA statt, ist das für viele zumindest nachvollziehbar, aber wenn das in Stuttgart passiert, ist es sofort ein Skandal. Ich glaube, das liegt an der in Deutschland weit verbreiteten Identifikation mit einer polizeilichen Perspektive auf die Welt.

Die Interviewpartner*innen

Daniel Loick lehrt politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. 2018 hat er den Sammelband »Kritik der Polizei« herausgegeben.
Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. In ihrem aktuellen Projekt forscht sie zu Polizieren von Schwarzsein in Europa. 

Fotos: privat

Was meinst du damit?

Daniel Loick: Linke Polizeikritik hat sich in Deutschland oft auf Anti-Repressions-Arbeit konzentriert und so getan, als wären alle gleichermaßen betroffen von der Polizei, die uns von außen mit Schlagstock und Tränengas unterdrückt. So kann man aber nicht verstehen, warum es seitens der Mehrheitsgesellschaft so eine große subjektive Identifikation mit der Polizei gibt. Hier kommt man weiter, wenn man die Doppelrolle der Polizei versteht: Einerseits marginalisiert und schikaniert sie bestimmte Bevölkerungsgruppen, aber zugleich bietet sie sich anderen als Vollstreckerin der eigenen Interessen, zum Teil auch nur der eigenen phantasmatischen Vorstellungen, an.

Vanessa E. Thompson: Die Polizei unterdrückt und kontrolliert die einen, indem sie machtvolle Positionen und Verhältnisse schützt. Das macht etwas mit den Subjektivitäten auch jener Menschen, die im Alltag die Polizei nicht wirklich erleben: Die Mehrheitsgesellschaft wird dadurch polizeilich ermächtigt. Angehörige der Mehrheitsgesellschaft betrachten die Polizei als sicherheitsbringend und sehen sich zugleich durch die Kontrolle der anderen in ihren eigenen Rassismen bestätigt. Sie werden darin bestärkt, dass sie ein Recht haben auf Sicherheit und Schutz und dass die Polizei dafür da ist, dieses Recht auch durchzusetzen.

Wenn ein Polizeieinsatz beispielsweise in einer Geflüchtetenunterkunft stattfindet, dann ist das also auch Training des Blicks der Mehrheitsbevölkerung?

Vanessa E. Thompson: Genau, solches Handeln wirkt auf die Gesellschaft zurück. Aber das gilt auch für die unspektakuläreren Formen des Polizierens, wie etwa Racial Profiling, das natürlich für die Betroffenen eine Form der alltäglichen Gewalt darstellt. Racial Profiling vermittelt der Mehrheitsbevölkerung ein Versprechen von Sicherheit, das auf der Kontrolle der polizierten Subjekte aufbaut.

Polizeieinsätze wie hier in einer Unterkunft für Geflüchtete in Siegen trainieren den Blick der Bevölkerung für das, was stört oder bedrohlich ist. Foto: Andreas Trojak / Flickr, CC BY 2.0

Daniel Loick: Hier spielen auch Medien eine große Rolle. Stuart Hall hat in dem Buch »Policing the crisis« beschrieben, wie mediale Diskurse und das polizeiliche Narrativ zusammenspielen. Ich wohne im Frankfurter Bahnhofsviertel, da kann man dieses Zusammenspiel perfekt beobachten. Es ist ein Viertel, in dem auf vielfältige Weise poliziert wird, weil hier viel Drogengebrauch, aber auch Sexarbeit und zugleich ein starker Gentrifizierungsprozess stattfindet. Es gibt hier Leute, die nie die Polizei rufen, die sie nicht in Anspruch nehmen können. Und es gibt die weißen, relativ wohlhabenden Menschen, denen durch polizeiliche Aktionen immerzu signalisiert wird, dass diese anderen Personen stören. Es ist aber nicht nur die Polizei, die das signalisiert, sondern das Polizeihandeln wird auch eingefordert – von Medien beispielsweise, die an Polizei und Politik die Forderung richten, härter durchzugreifen. Das ermöglicht es Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die Perspektive der Polizei einzunehmen statt die der Unterdrückten. Es ist eine Komplizenschaft des weißen Blickes mit der polizeilichen Perspektive, die sich immer wieder neu herstellt.

Gleichzeitig gibt es auch das Gegenteil, wie man in Stuttgart gesehen hat: eine große Wut auf die Polizei.

Vanessa E. Thompson: Gerade für diejenigen, die alltäglich poliziert werden, ist die Polizei schon lange keine schutzbringende und sicherheitsstiftende Institution. Dass es Leuten dann auch mal reicht, erleben wir nicht nur in den USA, sondern auch in Paris, London und anderswo. Das sind Formen politischer Wut, die nicht pathologisiert werden sollten und die zudem auch Forderungen beinhalten. Ich denke es ist wichtig, die systematische Gewalt, die Polizieren bedeutet, immer auch im Blick zu haben, wenn wir über Wut reden.  

Viele Polizeipraktiken wurden in europäischen Kolonien erprobt.

Daniel Loick

Die Polizei im Norden der USA wurde vor allem zur Bekämpfung von Streiks gegründet, in den Südstaaten entstand sie aus den Slave Patrols. Welche Traditionen gibt es in Deutschland?

Daniel Loick: In den USA liegt die institutionelle Verbindung von Rassismus und Polizei unmittelbar auf der Hand. In Europa ist das schwieriger nachzuvollziehen, weil es unterschiedliche Entstehungsgeschichten der Polizei gibt. Daraus wird dann fälschlicherweise oft der Schluss gezogen, in Europa sei es nicht »so schlimm«. Für Europa und konkret Deutschland sind zwei Kapitel der Polizeigeschichte besonders wichtig: Das ist zum einen der Kolonialismus. Viele Polizeipraktiken wurden in europäischen Kolonien erprobt. Das zweite ist die Einbindung der Polizei im Nationalsozialismus. Beispiel Schutzhaft: Die spielte in der nationalsozialistischen Polizeipraxis eine große Rolle dabei, Dissidenten massenhaft zu inhaftieren. Dann gab es sie lange Zeit nicht mehr, nun wurde sie mit dem Bayerischen Polizeiaufgabengesetz von 2018 wieder begrenzt erlaubt. Noch wichtiger aber als solche institutionellen Kontinuitäten sind jene der polizeilichen Perspektive: Wie die Polizei etwa auf Romnja und Sintezzi blickt, ist nach wie vor geprägt von nationalsozialistischen Kontinuitäten.

Vanessa E. Thompson: Das Anhalten und Kontrollieren von Romnja und Sintezzi ist inhärenter Teil moderner Polizeipraktiken in Europa und auch in Deutschland. Verordnungen zur Kontrolle, Einhegung der Mobilität und Dehumanisierung von Romnja und Sintezzi gab es in vielen Teilen Deutschlands sogar schon vor dem NS, und sie sind bis in die 1970er Jahre direkt in polizeiliches Wissen und Handeln eingeflossen. Hier gibt es einen Zusammenhang zu den Kolonien: Bei der Kontrolle von Romnja und Sintezzi ging und geht es ganz stark um das Einschränken von Bewegungsfreiheit zum Erhalt von Kontrolle und internen rassifizierten und vergeschlechtlichten Besitzverhältnissen. Das hatten wir in den Kolonien mit externem Bezug: Arbeitscamps, Restriktionen von Versammlungen der kolonisierten Bevölkerungen, exzessive Gewalt. Heute gibt es das nicht nur in Bezug auf Romnja und Sintezzi, sondern auch auf Schwarze, migrantische und als muslimisch gelesene Menschen, und besonders mit Bezug auf geflüchtete Menschen.

Daniel Loick: Auch das Verbot von Landstreicherei durchzusetzen, ist in Europa von Anfang an Teil der Polizeiaufgaben gewesen. Es ging dabei um das Produktivmachen von Körpern für die kapitalistische Ausbeutung, wie auch Foucault oder die marxistische Polizeikritik betonen. Aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Kontrollen regelmäßig rassifiziert werden. Das wiederum kann nicht ohne die Kolonialgeschichte verstanden werden.

In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland immer wieder Verbindungen rechter Terrorgruppen in die Polizei oder zu einzelnen Polizisten aufgedeckt.

Vanessa E. Thompson: Ja, das wird meist als sehr überraschend wahrgenommen. Wenn man sich die historischen Kontinuitäten anschaut, ist es leider eher wenig überraschend. Es zeigt, dass Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in einer Institution des institutionellen Rassismus gut gedeihen können.

Diversifizieren, das sehen wir in Großbritannien und den USA, schützt kein Schwarzes Leben. Diversifizieren von Polizei diversifiziert das Problem nur.

Vanessa E. Thompson

Gleichzeitig gibt es die Idee, dass man nur mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Polizeidienst holen und Diversity Workshops in der Polizeiausbildung etablieren müsse, damit sich etwas ändert.

Vanessa E. Thompson: Die Frage bei Polizeireformen muss immer sein: Welche Reformen können Betroffene von alltäglicher Polizeigewalt unterstützen? Das wären etwa unabhängige Beschwerdestellen, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen getragen werden. Auch zum Prozess des Abolitionismus, also der Überwindung der Polizei im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation auf vielen Ebenen, gehören Reformansätze, die die Betroffenen unterstützen und ermächtigen. Diversifizieren, das sehen wir in Großbritannien, aber auch in den USA, schützt kein Schwarzes Leben. Wir haben Schwarze Polizist*innen in diesen Polizeibehörden, Polizist*innen of Color – aber die Polizeigewalt bleibt überbordend. Diversifizieren von Polizei diversifiziert das Problem nur.

Daniel Loick: Die abolitionistische Perspektive, die auf die Überwindung von Polizei zielt, bietet für Reformmaßnahmen eine gute Leitlinie: Man sollte alle Reformen ablehnen, die dazu führen, dass mehr Ressourcen in die Polizei gesteckt werden. Zum Beispiel alle, die auf technische Lösungen abzielen, Bodycams etwa. Stattdessen müssen Mittel aus dem polizeilichen Apparat abgezogen und in andere gesellschaftliche Bereiche reinvestiert werden. Die Defunding-Idee muss auch begleitet werden von einer Entkriminalisierung. Ein sehr großer Teil des Racial Profiling in Deutschland wird mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz gerechtfertigt. Ein Drittel der Gefängnispopulation ist auf Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zurückzuführen. Allein die ersatzlose Streichung dieser Straftatbestände wäre schon eine große Erleichterung für viele Menschen; ein großer Teil der Gewalt in ihrem Leben würde wegfallen. Außerdem muss die Reform der Polizei immer Teil eines breiteren gesellschaftlichen Kampfes sein, mit der Frage der demokratischen Selbstregierung verknüpft sein, mit ökonomischer Absicherung, Gesundheitsversorgung und so weiter.

Mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, dass jede grundsätzliche Kritik an der Polizei schnell weggewischt wird mit dem Argument, es gäbe keine Alternative. Ohne Polizei herrsche Chaos. Oft wird dann auf sexuelle Gewalt verwiesen: Wer soll Sexualstraftaten dann verfolgen?

Vanessa E. Thompson: Die Leute, die vor Chaos warnen, sind meist die, die im Alltag keinen Kontakt mit der Polizei haben, denn das bedeutet eher Angst und Chaos. Es sind hauptsächlich weiße Perspektiven von relativ wohlhabenden Personen, die sozial und ökonomisch abgesichert sind. Dabei herrscht in diesen weißen Communities, wo die Polizei nicht auftaucht, ja auch kein Chaos. Es braucht also eine Stärkung von Institutionen sozio-ökonomischer Gerechtigkeit und politischer Teilhabe, nicht mehr Polizei und Kontrolle. Bei Alternativkonzepten zur Polizei stehen die Perspektiven der von verschränkten Formen von Gewalt Betroffenen im Mittelpunkt: Transformative Justice und Community Accountability sind abolitionistische Konzepte, die entwickelt wurden von Schwarzen trans Frauen, von Women of Colour, die sowohl von interpersoneller sexualisierter Gewalt als auch von staatlicher Gewalt betroffen sind. Aus der Perspektive von rassifizierten und illegalisierten Frauen, trans und nichtbinären Personen bedeutet Polizei keinen Schutz, sondern eher weitere Brutalisierung. In den USA sind viele Schwarze trans Personen im Gefängnis, weil sie sich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt gewehrt haben und dann noch polizeilich kriminalisiert worden sind. Es geht also auch hier darum, sich aus dem polizeilichen Blick herauszuarbeiten. Denn es gibt keine emanzipatorische Reform von Institutionen, die kriminalisierend und tötend sind.

In den USA gibt es Studien, dass Polizeibeamte viermal so oft Täter von häuslicher Gewalt werden wie der Bevölkerungsdurchschnitt.

Daniel Loick

Daniel Loick: Viele dieser Debatten wurden auch von der autonomen Frauenbewegung in Westdeutschland schon geführt. Es gab lange Zeit eine Position, dass der Vergewaltiger im Nahkontext und die Bullen Teil desselben patriarchalen Systems sind. Deshalb kann man nicht die einen benutzen, um sich vor den anderen zu schützen. Denn erstens funktioniert der Schutz nicht. Für den braucht es andere Strukturen wie zum Beispiel Frauenhäuser, die durch feministische Selbstorganisation erkämpft wurden. Zweitens sind Polizisten Teil des Problems, weil sie patriarchale Gewalt reproduzieren. In den USA gibt es Studien, dass Polizeibeamte viermal so oft Täter von häuslicher Gewalt werden wie der Bevölkerungsdurchschnitt. Und drittens gibt es gute Alternativen zur staatlichen Gewalt, die in den Communities selbst entwickelt wurden.

Was zeichnet diese Alternativen aus?

Daniel Loick: Der Ausgangspunkt von Konzepten wie Transformative Justice und Community Accountability war die Aussage: Wir wollen die Gewalt in unseren Communities nicht akzeptieren, weder die sexualisierte und häusliche Gewalt, noch die der Polizei. Das bedeutet, dass wir kollektiv Verantwortung übernehmen und auch die Bedingungen in den Blick nehmen müssen, die Gewalt produzieren – mit dem Ziel, sie zu überwinden. Dabei geht es darum, die Bedürfnisse und Perspektiven der Person, die Gewalt erfahren hat, in den Mittelpunkt zu stellen.

Vanessa E. Thompson: In Deutschland ist die aktuelle Diskussion um abolitionistische Ansätze sehr auf den Defunding-Aspekt der Polizei beschränkt, dabei setzen sich gerade selbstorganisierte geflüchtete Frauen etwa schon lange für die Abschaffung der Lager ein. Es geht aber auch darum, sich von der Idee zu verabschieden, Kriminalisierung würde Gerechtigkeit schaffen, denn es gibt ja auch weitere Institutionen, durch die Polizieren wirkt (Fürsorgeregime, etc.). In der Hinsicht ist Abolitionismus auch ein Prozess, der unsere gesellschaftlichen Beziehungen, Institutionen und unsere Beziehungen zueinander transformiert.

In Deutschland wird Rassismus als institutionalisiertes System der Ausbeutung, der Dehumanisierung und des Ausschlusses einfach systematisch geleugnet.

Vanessa E. Thompson

Vanessa, du hast vorhin gesagt, dass es in manchen Ländern stärkere Traditionen von Polizeikritik gibt. Woran liegt es, dass die Polizeikritik in Deutschland so besonders schwach ausgeprägt ist?

Vanessa E. Thompson: Polizeikritik gibt es zwar schon, aber die unterschiedlichen Ebenen und besonders die Dimension des intersektionalen Rassismus und der kolonialen Kontinuitäten werden viel zu wenig mitbedacht. In Deutschland wird Rassismus als institutionalisiertes System der Ausbeutung, der Dehumanisierung und des Ausschlusses einfach systematisch geleugnet. Das sehen wir am Nicht-Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte, an der fehlenden Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama, des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts. Das sehen wir im Rassismus in Bildungsinstitutionen und anderen Institutionen. Kämpfe für Schwarzes und rassifiziertes Leben gibt es in Deutschland aber schon lange. Jetzt ist die Frage: Gibt es eine Öffnung für eine breitere und systematische Auseinandersetzung und Bekämpfung von institutionellem Rassismus? Deswegen ist es wichtig, dranzubleiben. Die heftigen Reaktionen auf die Debatte um Polizeikritik haben wieder gezeigt, dass Deutschland in Bezug auf die Verhandlung von Rassismus ein »Entwicklungsland« ist. Ich benutze den Begriff Entwicklungsland bewusst sehr selten, in diesem Fall ist er angebracht.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

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