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Schatzsuche im Kriegsgebiet

Der Wiederaufbau der Ukraine wird auch Deutschland Milliarden kosten und verspricht dennoch vor allem eins: Profite

Von Lene Kempe

Das Bild zeigt vermutlich einen älteren Mann mit Manel und Mütze von hinten, der vor einem zerstörten Wohnblock auf sich das Haus ansieht. Vor ihm flattert ein rot weisses Absperrband
Wenn der Krieg vorbei ist, wird hier mit internationaler Hilfe ein neues, modernes Wohnhaus errichtet werden. Oder ein deutsches Unternehmen. Foto: UNDP Ukraine/Flickr, CC BY-ND 2.0 Deed

Die Wirtschaft habe die Zukunft der Ukraine fest im Blick, so ließ sich Robert Habeck nach seinem letzten Besuch in Kiew Mitte April zitieren, wo er mit Präsident Selenskyj unter anderem über den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes sprach. Begleitet wurde der Wirtschaftsminister dabei von einer Delegation aus Verbands- und Unternehmensvertreter*innen, insbesondere aus der Rüstungs-, aber auch aus der Solarindustrie.

Nach mehr als zwei Jahren Krieg sind große Teile der Industrie und der landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine zerstört, okkupiert oder vermint, etliche Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, weite Teile der Energieinfrastruktur, Straßen, und Bildungseinrichtungen sind zerbombt oder gesprengt.

Wie und von wem die Ukraine wieder aufgebaut werden soll, darüber wurde schon kurz nach Ausbruch des Krieges ein Diskussionsprozess in Gang gesetzt – in der Bundesregierung, auf EU-Ebene, in der US-Administration, bei internationalen Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank und bei finanzstarken Fonds wie Blackrock. Die internationale »Gebergemeinschaft« malte sich eine (neoliberale) Ukraine der Zukunft aus und die EU beeilte sich, mit der Gewährung des offiziellen Beitrittskandidatenstatus für das Land im Juni 2022 deutlich zu machen, dass sie anstrebte, in diesem Prozess eine Führungsrolle einzunehmen.

Doppelte Herausforderung

Seitdem hat die Ukraine eine doppelte Herausforderung zu meistern: gegen Russland bestehen; und der EU und anderen »Gebern« glaubhaft vermitteln, dass dieser schon mehr als zwei Jahre währende Krieg den Reformwillen der Regierung nicht schmälert. Denn von den Milliarden an Geldern, die bewilligt oder bereits in die Ukraine geflossen sind, hat nur ein geringer Teil die Form nicht-rückzahlbarer Finanzhilfen. Die meisten »Hilfsgelder« sind – nach dem Modell der Strukturanpassungsprogramme der 1980er und 1990er Jahre und im Sinne der EU Beitrittskriterien – an die Umsetzung von Reformen geknüpft; auch unter Kriegsbedingungen.

Schon vor dem Krieg hatte sich Selenskyj einen Namen als neoliberaler Reformer gemacht.  2020 etwa brachte er eine höchst umstrittene Bodenreform durchs Parlament, die den vorher staatlich regulierten Grundstücksmarkt liberalisierte. Diesen Kurs hat er in den vergangenen zwei Jahren beibehalten. So hat Selenskyj das Kriegsrecht genutzt, um das Arbeitsrecht weiter auszuhöhlen, er hat die Gewerkschaften geschwächt, den kostensparenden Umbau des Bildungs- und Gesundheitssystems zugesagt und den Energiemarkt liberalisiert – stets auf Drängen von internationalen Gebern oder der EU. Denn schon vor dem Krieg war die Ukraine durch ein Assoziierungsabkommen an diese gebunden – ein Abkommen »neuen Typs«, das dem Land Reformen abverlangte, ohne eine klare Beitrittsperspektive zu eröffnen. Bei einem Besuch in Kiew im November lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Reformeifer des Präsidenten. Sie wisse, dass er dabei wäre, die noch ausstehenden Reformen zu vollenden. 

Etwas anderes bleibt der Ukraine auch kaum übrig. Schon vor Kriegsbeginn beliefen sich die Staatsschulden auf 56,9 Milliarden US-Dollar, knapp die Hälfte davon entfiel auf multilaterale Gläubiger, wie IWF und Weltbank. Allein zwischen Februar 2022 und Februar 2024 nahm die Ukraine dann weitere 50,4 Milliarden US-Dollar auf, wiederum ein Großteil davon bei IWF, Weltbank, EU, USA und anderen öffentlichen Gebern. Sie alle haben ihre Finanzzusagen ganz oder teilweise an die Umsetzung weiterer neoliberaler Reformen geknüpft.  Die Rückzahlung dieses Schuldenbergs wird – trotz bestehender Moratorien und selbst im Falle eines viel diskutierten Schuldenschnitts – Jahrzehnte dauern und die Ukraine weitere Milliarden an Schuldendienst kosten. 

Nun hat sich unter anderem die Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben, vermehrt privates Kapital in die Ukraine locken. Denn der Wiederaufbau des Landes könne allein in den nächsten zehn Jahren insgesamt knapp 500 Milliarden US-Dollar kosten. Diese enorme Summe ließe sich nicht allein durch die öffentliche Hand (und neue Kredite) finanzieren.

So will die Bundesregierung die dritte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz, die am 11. Und 12. Juni in Berlin stattfindet, vor allem nutzen, um die Bedingungen für privates Kapital vor Ort weiter zu verbessern, wie aus einem kürzlich veröffentlichten Eckpunktepapier hervorgeht. Darin schlägt sie verschiedenste Maßnahmen vor, neben der Verbesserung bestehender Instrumente der Außenwirtschaftsförderung und der Entwicklungshilfe, auch die Errichtung einer ukrainischen Förderbank für den Wiederaufbau oder die Einrichtung öffentlicher Fonds zur Unterstützung von großvolumigen privaten Investitionsvorhaben.

Der Reichtum der Ukraine

Ein ganzes Netz aus Vernetzungs- und Informationsplattformen, aus Handelskammern, Wirtschaftsforen und Beratungsangeboten wirbt nun um unternehmerisches Investment in der Ukraine. So informiert etwa der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft regelmäßig über neue Geschäftschancen. Nach den russischen Angriffen auf die Energieinfrastruktur etwa würden deutsches »Know-how« und Ausrüstung dringend gebraucht. Obwohl schon vor Kriegsbeginn etwa 2.000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Ukraine aktiv waren, zögert die deutsche Wirtschaft bislang, weitere Geschäftstätigkeiten in das Kriegsgebiet zu verlagern. Unternehmen müssten »echte Business Cases« in der Ukraine sehen, erklärt dazu Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, in einem Interview mit der Agentur für Wirtschaft und Entwicklung. Echte Geschäftschancen also, und die lägen vor allem »in den Sektoren Agrar- und IT-Wirtschaft, aber auch im Bereich Lohnveredelung (die das Lohngefälle zwischen Deutschland und der Ukraine ausnutzt, Anm. d. Red.), der Erzeugung von grüner Energie oder der Förderung wichtiger Rohstoffe«.

Ein großer Teil der begehrten Bodenschätze befindet sich im Osten des Landes.

Insbesondere der letzte Punkt spielt für die Bundesregierung, für die EU und nicht zuletzt für Russland eine wesentliche Rolle. Denn der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg um Rohstoffe. In dem Land befinden sich große Lager- und Abbaustätten für Kohle und Gas, aber auch riesige Vorkommen an Titan, Lithium, seltenen Erden, Kobalt, Nickel und Kupfer. Allein die Lithium-Reserven der Ukraine werden auf etwa 500.000 Tonnen geschätzt – und wären damit eine der größten der Welt. Lithium ist ein Hauptbestandteil von Batterien, die unter anderem in mobilen Endgeräten und Elektroautos verbaut werden.

Ein großer Teil dieser Bodenschätze befindet sich im Osten des Landes und damit in derzeit russisch annektierten oder besetzten Gebieten, oder nahe dem Frontverlauf. Der Einmarsch Russlands in die östlichen Gebiete, so interpretiert es beispielsweise eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung, war auch ein Versuch, sich den Zugriff auf das dort lagernde Gas (eine immer noch entscheidende »Brückentechnologie« auf dem Weg zur Energiewende) und auf Lithium- und andere Rohstoffvorkommen zu sichern. Zugleich wolle Russland die Ukraine daran hindern, eine strategisch wichtige Rolle für den Umbau der europäischen Wirtschaften zu spielen. Das dem Land diese Rolle auch von Deutschland und der EU zugedacht war, zeigt die Rohstoffpartnerschaft, die die EU schon im Juli 2021 mit der Ukraine abgeschlossen hatte. Die Ukraine verfügt über Vorkommen von 22 der 30 von der EU als kritisch eingestuften Rohstoffe. Aber auch China begann vor dem Krieg, die Fühler auszustrecken, im November 2021 bewarb sich das Land – neben Kanada – um Abbaurechte für zwei Lithiumvorkommen, die die ukrainische Regierung versteigerte. Nach Ausbruch des Krieges wurde das Verfahren auf Eis gelegt.

Planspiele

Im Wettlauf der kapitalistischen Blöcke um den Zugriff auf kritische Rohstoffe hat China die EU längst abgehängt, viele dieser Stoffe fördert das Land bereits weltweit, auch in Europa. Die Sorge davor, dass China sich den Zugriff auf die strategisch bedeutsamen Reserven der Ukraine sichert, dürfte in der EU und in Deutschland die Alarmglocken aktiviert haben. Insbesondere da sich China deutlich an der Seite Russlands positioniert hat. Die Bundesregierung wirbt deshalb auch in Kriegszeiten dafür, dass sich deutsche Unternehmen um Abbaurechte bemühen oder sich in ukrainische Projekte einkaufen, und sie fördert solche Initiativen finanziell.

Welche Rolle die Ukraine letztlich für die europäische und deutsche Energiewende spielen kann und wird, hängt nicht nur vom »Engagement« deutscher und europäischer Unternehmen und Investoren, sondern auch vom Kriegsverlauf ab. Sollte es nicht gelingen, die östliche Ukraine zurückzuerobern, wird ein großer Teil der Rohstoffe in russischer Hand bleiben. Kommt es anders, würden Deutschland und die EU sehr von einer stärkeren politischen Anbindung der Ukraine profitieren.

Die Debatte um einen »Wiederaufbau« der Ukraine ist jedenfalls in hohem Maße von solchen Szenarien geleitet, Kapitalinteressen und geopolitische Rechenspiele stehen im Vordergrund. Zugleich sind die Spielräume der aktuellen sowie kommender ukrainischer Regierungen, bei der Entwicklung eines Nachkriegsmodells die Richtung selbst zu bestimmen, angesichts der milliardenschweren Schuldenlast und der umfassenden Liberalisierungsmaßnahmen extrem begrenzt. Mit »build back better«, wie ein viel zitierter Slogan mit Blick auf den Wiederaufbau lautet, hat das nichts zu tun. 

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.

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