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Faschismus in Orange

In Indien gilt die Wiederwahl von Narendra Modi als wahrscheinlich, sein Erfolg lässt sich durch lange Organisierungsarbeit der hindunationalistischen Bewegung erklären

Von Merle Groß

Modi auf einem Wagen winkt in die Menge
Der Wahlkampf in Indien dreht sich um zwei Dinge: den Kult um Premierminister Modi sowie die Etablierung einer homogen hinduistischen Nation. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Rajesh Kumar

Die Ideologie des Hindu-Nationalismus wird als Hindutva bezeichnet und unterscheidet sich von der Religion des Hinduismus. Hindutva fordert die Vorherrschaft der Hindus auf dem indischen Subkontinent. Die Ideologie entstand in den 1920er Jahren, inspiriert durch den italienischen und deutschen Faschismus. Sie bildete einen Gegenentwurf zum säkularen Modell der Nation, welches mit der Kongresspartei, heute die größte liberale Oppositionspartei, assoziiert wird und die Grundlage der indischen Verfassung bildet. Mit der Unabhängigkeit wurde das Land in Indien und Pakistan geteilt, was Hindunationalist*innen als Verrat der Kongresspartei an der hinduistischen Mehrheit interpretierten.

Hindutva stellt, ähnlich einer Ideologie von Blut und Boden, eine Verbindung zwischen dem Land und Hindus her. Das Land selbst wird oft als Muttergottheit imaginiert, die es zu verteidigen gilt. Dabei wird die größte Bedrohung in den Muslim*innen verortet: von außen durch Pakistan und von innen in Form der muslimischen Minderheit, die etwa 14 Prozent der Bevölkerung (etwa 200 Millionen Menschen) ausmacht. Über die Zeit stützten Hindunationalist*innen sich auf verschiedene anti-muslimische Erzählungen: Muslim*innen würden staatliche Zuwendungen ausnutzen, durch Einwanderung, Missionierung oder eine angeblich höhere Geburtenrate die Mehrheitsverhältnisse bedrohen und als potenzielle Terrorist*innen ein Sicherheitsproblem darstellen. Die Parallelen zu europäischer Islamfeindlichkeit zeigen auch, dass rechte Bewegungen global vernetzt sind und aus einem gemeinsamen Repertoire schöpfen.

RSS und Sangh Parivar

Im Jahr 1925 wird die rechte Freiwilligenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) zur Verteidigung der Hindu-Nation gegen eine vermeintliche »muslimische Bedrohung« gegründet. Der RSS ist eine Kaderorganisation mit freiwilligen und hauptberuflichen Mitgliedern. Zur Ausbildung durch den RSS gehört intensives körperliches Training und ideologische Indoktrination. Der Politikwissenschaftler Achin Vanaik betont, was die Stärke des RSS im Vergleich zu anderen rechten Bewegungen ausmacht: Der RSS besteht seit über 90 Jahren ohne größere interne Spaltungen und durchdringt die Zivilgesellschaft durch ein breites Netz an Niederlassungen in ganz Indien. Hinzu kommen schwindelerregende Mitgliedszahlen.

Während die RSS etwa fünf Millionen aktive Mitglieder hat, ist die rechte Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) mit 180 Millionen (teils passiven) Mitgliedern sogar größer als die Kommunistische Partei Chinas und gilt als mitgliederstärkste Partei der Welt. Der RSS mobilisiert durch Basisarbeit und ist besonders in Räumen aktiv, die nicht als politisch wahrgenommen werden, beispielsweise in Form von Jugendarbeit oder Katastrophenhilfe.

Narendra Modi gelang es, der BJP ein anti-elitäres Image zu geben und die Kasten- und Klassenunterschiede der Wählerschaft durch die Identifikation mit der Hindu-Nation zu verschleiern.

Über die Jahre entsteht die Sangh Parivar, eine vernetzte »Familie« hindunationalistischer Organisationen, die auch Gewerkschaften, Frauenorganisationen, NGOs und Think Tanks umfasst. In den 1980er Jahren gründete sich die BJP als politisches Organ der hindunationalistischen Bewegung. Die BJP erkannte früh, dass sie besonders in Regionen erfolgreich ist, in denen allgemeine Spannungen zwischen Hindus und Muslim*innen zu Gewaltausbrüchen führten, und verfolgte daher eine Strategie der Polarisierung. In Kollaboration mit anderen Organisationen der Sangh Parivar mobilisierte die BJP für den Bau eines Tempels anstelle einer historischen Moschee im nordindischen Ayodhya.

Diese Strategie der Massenagitation ging auf und verhalf der BJP zu Wahlerfolgen. In den 1980er und 1990er Jahren blieb die BJP allerdings vor allem auf eine Wählerschaft aus den oberen Kasten, häufig aus der urbanen Mittelschicht, beschränkt. Erst Narendra Modi gelang es dann, der BJP ein anti-elitäres Image zu geben und die Kasten- und Klassenunterschiede der Wählerschaft durch die Identifikation mit der Hindu-Nation zu verschleiern.

Modis Aufstieg

Als Modi 2014 im Wahlkampf für die BJP antrat, war er bereits für seine Politik im Bundesstaat Gujarat bekannt. Das »Gujarat-Modell« umfasst genauso rasantes wie ungleiches Wirtschaftswachstum sowie einen zunehmend aggressiven Hindu-Nationalismus. Modis Populismus vermittelt die Vision eines Indiens, das durch seine neu gefundene Hindu-Identität erstarkt und sich als Weltmacht behauptet. Er verspricht wirtschaftlichen Aufschwung und sagt den korrupten Eliten den Kampf an.

Modi kann seine eigene Biografie entsprechend in Szene setzen: Er kommt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war Teeverkäufer. Früh ist Modi in den RSS eingetreten, und obwohl er nicht aus den oberen Kasten kommt, die im RSS dominieren, steigt er in der Organisation schnell auf. Wenig aus Modis Vergangenheit ist tatsächlich belegt, doch er kann seine Wählerschaft davon überzeugen, dass er »einer von ihnen« ist. Zusätzlich eint Modi seine Wählerschaft über ein klares, muslimisches Feindbild. Modi hat sich immer wieder als intelligent, wandelbar und charismatisch bewiesen. Er versteht es, sich zu inszenieren, Emotionen auszuspielen, und hat, wie die Rechte überall, früh die Bedeutung sozialer Medien erkannt und für seine Agenda genutzt.

In Modis erster Amtszeit von 2014 bis 2019 fingen gewaltbereite Gruppen an, die Vision einer Hindu-Nation in die Tat umzusetzen. Bürgerwehren mit Verbindungen zur Sangh Parivar setzten Verbote von Rindfleisch durch oder versuchten, interreligiöse Hochzeiten zwischen Hindus und Muslim*innen zu verhindern. Bis heute kommt es immer häufiger zu Gewalt und Lynchmorden an Muslim*innen, immer seltener werden die Täter*innen strafrechtlich verfolgt. Durch den Druck der Bürgerwehren entwickelte sich laut dem Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot eine de facto ethnische Demokratie, die von Hindus dominiert wird.

Destabilisierung der Demokratie

Gestärkt durch den Sieg bei der Parlamentswahl 2019, beginnt Modi in seiner zweiten Amtszeit damit, die Vorstellung einer Hindu-Nation mithilfe der Staatsorgane zu realisieren. Kurz nach der Wahl wurde der Sonderstatus des mehrheitlich muslimischen Bundesstaates Kaschmir aufgelöst und das Erlangen der Staatsbürgerschaft für muslimische Migrant*innen in Indien erschwert. Demokratische Institutionen greift Modi zunehmend an. Der BJP gelingt es, das Rechtssystem zu destabilisieren und Einfluss auf den Obersten Gerichtshof zu nehmen. Auch die Pressefreiheit leidet unter der Modi-Regierung: Die großen Medienhäuser und Fernsehsender wurden von BJP-Sympathisanten gekauft, darunter die reichsten Männer Asiens, Mukesh Ambani und Gautam Adani. Immer häufiger kommt es zu Verhaftungen von Journalist*innen und Intellektuellen. Auch Freiräume an Universitäten und Schulen schwinden.

Entgegen Modis Versprechen, nimmt die Armut im Land weiter zu. Gleichzeitig ist Indien unter den Ländern mit dem größten Zuwachs an Millionären. Dem Ökonomen Thomas Piketty zufolge erreicht die Ungleichheit ein Ausmaß, das die britische Kolonialzeit sogar übersteigt – bei aller Vorsicht, mit der solche Vergleiche zu betrachten sind. Wie Modis Maßnahmen diese Trends verschärfen, analysiert Christophe Jaffrelot: Effektive Programme zur Bekämpfung ländlicher Arbeitslosigkeit, die die Vorgängerregierung eingeführt hatte, stellte Modi ein und konzentrierte sich auf Maßnahmen zur Förderung von Sauberkeit und dem Bau von Toiletten.

Mit der Demonetisierung im Jahr 2016 erklärte Modi alle 500- und 1000-Rupien-Noten über Nacht für ungültig, was nicht, wie angekündigt, Korruption beseitigte, sondern die arme Bevölkerung traf. Überdies reduzierte Modi die Steuern für Wohlhabende und Unternehmen, während er indirekte einkommensunabhängige Steuern z.B. auf Treibstoff einführte. Darüber hinaus sind Politik und Kapital auch noch direkter verschränkt. So vergeben etwa Banken, aufgrund der Freundschaft zwischen Modi und Adani, hohe Kredite an Adanis Unternehmensgruppe, die Adani Group. So konnte die Adani Group einen Hafen und Kraftwerke kaufen, ohne die Kredite allerdings zurückzahlen zu können. Die Regierung profitiert von Großkonzernen wie der Adani Group, da diese enorme Summen an die BJP spenden und so deren Wahlkampf finanzieren.

Der mächtigste Premier, den Indien je hatte

Heute ist der Wahlkampf der BJP ausschließlich auf Modi zugeschnitten, und der Personenkult um ihn nimmt extreme Ausmaße an. Modi hofft auf 400 von 543 Sitzen im Parlament, was ihm Verfassungsänderungen ermöglichen würde. Schon jetzt ist er durch die Zentralisierung auf seine Person der mächtigste Premierminister, den Indien je hatte. Neben seinem populistischen Geschick baut sein Erfolg auf der langjährigen Organisierung »von unten« durch den RSS und die Sangh Parivar auf. Nicht zu vernachlässigen ist aber auch die Schwäche der oppositionellen Kongresspartei.

Währenddessen hoffen linke Bewegungen und Parteien darauf, dass die Unterstützung für die BJP, von deren Politik vor allem die oberen Kasten und Klassen profitieren, in Frustration und politische Gegenwehr der Massen umschlägt. Dass Modi nicht unbezwingbar ist, hat die Massenbewegung der Bäuer*innen 2020/21 gezeigt, auf deren Druck hin die BJP ihre Landwirtschaftsreform zurücknehmen musste. Der Protest der Bäuer*innen flammte zuletzt im März dieses Jahres wieder auf, aber blieb auf landwirtschaftliche Forderungen beschränkt.

In der deutschen Linken fehlt es bislang an ernsthafter Auseinandersetzung mit der indischen Rechten. Doch für den globalen Kampf gegen den Faschismus ist es notwendig zu verstehen, wie rechte Bewegungen organisiert sind, sich global vernetzen und voneinander lernen. Dabei führt kein Weg an Indien vorbei.

Merle Groß

hat Südasienwissenschaften und Soziologie in Berlin und Neu-Delhi studiert.

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