analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 677 | International

Eine Stadt ist geboren

Arbeiter*innen und Landwirt*innen in Indien konnten Modis Agrarreformen zurückdrängen, doch der Kampf ist nicht vorbei

Von Likhita Banerji und Mihir Sharma

Der ein Jahr dauernde Protest hat den Bäuer*innen vieles abverlangt. Die Aufhebung der Landwirtschaftsgesetze reicht lange nicht mehr aus. Foto: Guneet Kaur

In einer unvorhergesehenen Kehrtwende anlässlich des heiligen Sikh-Festes Guru Nanak Jayanti versprach Premierminister Narendra Modi im nationalen Fernsehen, dass die drei Landwirtschaftsgesetze, gegen die indische Landwirt*innen seit November 2020 mobilisieren, in der kommenden Wintersitzung des Parlaments aufgehoben werden. Die Ankündigung erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo sich die Bundesstaaten Uttar Pradesh und Punjab auf die Wahlen im Jahr 2022 vorbereiten.

Die Gesetze, darunter das Farmers Agreement of Price Assurance and Farm Services Act, das Farmers Produce Trade and Commerce Act und das Essential Commodities Act 2020, sahen eine größere Rolle des Marktes und des Privatsektors in der landwirtschaftlichen Wertschöpfung vor. So war geplant, den planungssicheren Vertragsanbau zu deregulieren, Beschränkungen für den Transport und die Lagerung von Lebensmitteln aufzuheben und den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten außerhalb der Mandis, den regulierten Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse, zuzulassen. Die Gesetze wurden ohne jegliche Konsultation mit Oppositionsparteien, Interessenvertreter*innen und Bauernverbänden verabschiedet und stark kritisiert, weil sie den großen Kapitalinteressen und privatunternehmerischen Geschäftsinteressen auf Kosten der Lebensgrundlage der Landwirt*innen begünstigt hätten.

Seit einem Jahr kampiert eine Koalition aus Bäuer*innenorganisationen, Kollektiven, Landarbeiter*innengewerk­schaften sowie Familien und Einzelpersonen, die in der Landwirtschaft tätig sind, am Rande der indischen Hauptstadt Neu-Delhi in einem der größten demokratischen Proteste, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Die Koalition forderte von der Regierung die Rücknahme der drei Landwirtschaftsgesetze, die zu Beginn des Jahres in beiden Häusern des Parlaments beschlossen worden waren. Trotz Kälte, Polizeigewalt, Wasserwerfern und Polizei-Absperrungen aus Beton, Metallzäunen und Stacheldraht, zwangen die Bäuer*innen mit ihrem Protest eine starrköpfige Regierung schließlich, ihre Niederlage einzugestehen.

In diesem Jahr setzte der Staat eine Reihe von Taktiken ein, um die Bewegung zu unterdrücken: Staatsnahe Medien führten Hetzkampagnen, in denen die Bäuer*innen als Terroristen, Separatisten oder reiche Landbesitzer dargestellt wurden. In den sozialen Medien hatten die Bäuer*innen mit Desinformationskampagnen und Zensur zu kämpfen. Sie waren mit polizeilicher Repression, körperlichen Angriffen und Einschüchterung konfrontiert, gegen ihre Anführer*innen wurden falsche Anschuldigungen erhoben. Einigen Schätzungen zufolge kamen während der einjährigen Proteste mehr als 700 Bäuerinnen und Bauern ums Leben, doch die Zentralregierung behauptete, keine Aufzeichnungen über diese Todesfälle zu haben.

Neue Netzwerke und Allianzen

Die drei Gesetze wurden zwar aufgehoben, doch der Kampf um die Behebung der Agrarkrise geht weiter. Neoliberale Politiken und Praktiken haben Kleinbäuer*innen und Landlose hart getroffen und zu schwindenden Einkommen und steigenden Schulden geführt. »Es geht nicht so sehr darum, dass die Demokratie in Indien funktioniert, sondern vielmehr darum, dass diese Bauern sich weigern, die neoliberale Übernahme ihrer Existenzen hinzunehmen«, erklärt die Menschenrechtsaktivistin Guneet Kaur im ak-Interview.

Die Bäuer*innen werden ihren Aufstand fortsetzen, bis ihre restlichen Forderungen erfüllt sind. Dazu gehören die Einführung eines Gesetzes, das allen Landwirt*innen regulierte Preise garantiert, Entschädigung, Rehabilitierung und Rechenschaftspflicht für den Tod von mehr als 700 Demonstrant*innen durch staatliche Repressionen sowie die Rücknahme von Verfahren gegen Landwirt*innen, Gewerkschaftsführer*innen und andere Personen. Außerdem fordern sie die Entlassung von Unionsminister Ajay Mishra, dessen Sohn beschuldigt wird, vier Landwirte ermordet zu haben, indem er sie mit einem Geländewagen überfuhr.

Was passiert mit den 700 Menschen, die von einem gleichgültigen, arroganten und kriegerischen Staat getötet wurden? Einige Mörder sind Minister und deren Angehörige, die frei herumlaufen.

Guneet Kaur, Menschenrechtsaktivistin, im ak-Interview

»Eine der zentralen Fragen für die Bewegung ist jetzt: Was passiert mit den 700 Menschen, die von einem gleichgültigen, arroganten und kriegerischen Staat getötet wurden? Einige Mörder sind Minister und deren Angehörige, die frei herumlaufen«, so Kaur, die bei den Protesten aktiv war.

Während die Regierung des Bundesstaates Punjab, das von der oppositionellen Kongresspartei geführt wird, einige Bäuer*innen entschädigt hat, kam von der Zentralregierung nichts. »Landwirt*innen in Haryana bleiben an den Grenzen von Neu-Delhi, weil dort die meisten Strafverfahren gegen sie registriert wurden«, berichtet Journalistin Nikita Jain vom Stadtrand von Delhi. Die Bäuer*innen in Delhi und Uttar Pradesh haben sich entschlossen, nicht aufzuhören, bis sie die Regierung für ihre Unterdrückung zur Rechenschaft gezogen wird. Am 4. Dezember 2021 wurden fünf Anführer der Dachorganisation von Bäuer*innen, Samyukt Kisan Morcha, ernannt, um mit der Zentralregierung über die verbleibenden Forderungen zu verhandeln. Aber die Bäuer*innen wissen, dass die Worte der Regierung nicht für bare Münze genommen werden können.

Für ihren Sieg zollten die Bäuer*innen doch einen hohen Tribut, den Indiens autoritäre Regierung von Menschen fordert, die sich an demokratischen Prozessen beteiligen. Dieser Prozess markiert einen neuen Tiefpunkt für den indischen Staat selbst.

Im Laufe der mehr als einjährigen Blockade und des Lagers hat die Bewegung zahlreiche Netzwerke, Allianzen und Beziehungen geschaffen, die sich um eine Quasi-Stadt gebildet haben, die durch die Blockade entstanden ist. Zum einen hat sich im Laufe der Proteste ein konsolidiertes agrarzentriertes Netzwerk nordindischer Bäuer*innen herausgebildet, das über die Grenzen der Bundesstaaten und oft auch über Klassen- und Kastenspaltungen hinausgeht. Dieses Netzwerk widersetzt sich der industriefreundlichen Zentralregierung und ihren Versuchen, im Agrarsektor Reichtum anzuhäufen. Zum Anderen hat die Bewegung eine Reihe von Beziehungen, Netzwerken und Subjektivitäten geschaffen. Dazu gehören Frauengruppen, die für Land und Arbeiterinnen und gegen sexuelle Gewalt kämpfen, transnationale Bündnisse von Landarbeitergewerkschaften, die Aktionen, Proteste und Streiks in mehreren Teilen des Nationalstaates koordinieren, aber auch internationale Finanzierungs- und Unterstützungsnetzwerke durch Diaspora- und Solidaritätsnetzwerke.

Im Laufe des Jahres wurden mehrere Hundert Lieder, Musikvideos und Tausende von selbstgedrehten Filmen und Videos über die Aufrechterhaltung der Blockade erstellt und verbreitet. Schließlich ist das Bewusstsein für die Zusammenarbeit zwischen der Regierung, ihren Behörden und Exekutivorganen, den Medien und den Interessen der Industrie und des Kapitals zu einer Grundvoraussetzung für jeden geworden, der mit der Bewegung in Verbindung steht. Dies schafft die Voraussetzungen dafür, dass diese Allianzen weiterhin eine ernsthafte Herausforderung für die Marktmacht und die Interessen der Regierungen darstellen können, um den Kampf gegen die Arbeitsgesetze, die Politik und den Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Rechte auszuweiten.

Likhita Banerji

ist Menschenrechtsforscherin und lebt in Berlin.

Mihir Sharma

ist Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropologie globaler Ungleichheiten bei der Bayreuth International Graduate School for African Studies (BIGSAS) und lehrt an der Universität Bayreuth. Er schreibt zu Anti-Rassismus, politischer Ökonomie und sozialen Bewegungen.