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Massen gegen Marktmacht

In Indien demonstrieren Arbeiter*innen und Landwirt*innen gegen die Liberalisierung von Arbeitsrecht und Agrarindustrie

Von Nikita Jain, Aju John und Mihir Sharma

Landwirt*innen und Arbeiter*innen beteiligten sich Ende November und Anfang Dezember an Generalstreiks in Indien. Foto: Nikita Jain

Neu-Delhi im November: Tausende von Lastwagen und Anhängern mit protestierenden Landwirt*innen blockieren die Autobahnen, die die indische Hauptstadt mit den Staaten Haryana und Punjab verbinden. Auf wichtigen Zugangsstraßen werden tiefe Gräben ausgehoben und Barrikaden errichtet, die Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer ein. Die Autobahnblockaden erstrecken sich über mehrere Kilometer, viele Landwirt*innen sind entschlossen zu bleiben, bis die Gesetze, gegen die sie protestieren, zurückgezogen werden. Die Straßenblockade an der Grenze von Singhu zu Haryana ähnelt bald einem großen Lager – oder eher einer kleinen Stadt, mit medizinischen Einrichtungen, Lebensmittelküchen, aufwändigen Wasser-, Milch- und Teeverteilungsstellen und Vorräten für mehrere Wochen.

Während Haryana eine lange Grenze mit Delhi teilt, sind die meisten Dörfer im Punjab zwischen vier und neun Stunden von der Blockade entfernt. Viele Bäuerinnen und Bauern wechseln alle paar Tage mit ihren Verwandten ab und kehren mit neuen Vorräten zurück, um die Blockade zu verstärken. Auch Bäuerinnen und Bauern aus anderen nördlichen Bundesstaaten wie Rajasthan und Uttar Pradesh haben sich den Protesten angeschlossen, in südlichen Bundesstaaten wie Karnataka und Tamil Nadu gibt es Solidaritätsaktionen. Obwohl die meisten Landwirt*innen, die die Hauptstadt belagern, relativ wohlhabend sind und größere Landparzellen bewirtschaften, werden die Auswirkungen der Gesetze, um die es geht, für landlose Landarbeiter*innen und Randbäuer*innen, von denen viele Dalits sind, am härtesten sein.

Am 26. November hatte ein Bündnis von zehn Gewerkschaftsorganisationen und über 250 Bauernkollektiven zu einem landesweiten Generalstreik in Indien aufgerufen, an dem Hunderttausende Arbeiter*innen, Student*innen, Arbeitslose, Bäuerinnen und Bauern teilnahmen. Schon zu Beginn dieses Jahres, am 8. Januar, hatte die gemeinsame Plattform der Zentralgewerkschaften (CTU) einen Generalstreik gegen drei neue Arbeitsgesetze organisiert, die unter anderem das Streikrecht stark einschränken. Nun treiben drei neue Landwirtschaftsgesetze, die auf eine Deregulierung des Agrarsektors abzielen, die Landwirt*innen auf die Straßen, am 8. Dezember gab es einen weiteren Generalstreik. Die Tageszeitung The Hindu stellte in einem Bericht über diesen Streik fest, dass »der Aufruf von mindestens 25 politischen Parteien sowie von einem breiten Spektrum der Gesellschaft, einschließlich großer Gewerkschaften, Händler- und Transportverbände sowie Berufsverbände wie der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs, unterstützt wurde«.

Mandis und Mindestpreise

Im Mittelpunkt der jüngsten Proteste stehen drei neue Landwirtschaftsgesetze, die den Agrarsektor »reformieren« sollen. Die Verdoppelung der landwirtschaftlichen Einkommen war eines der größten Versprechen der Regierung Narendra Modi nach ihrem Amtsantritt 2014, doch die Einkommen sind im Gegenteil zurückgegangen. Die neuen Gesetze – die auch mit dem Grundsatz brechen, dass Gesetze zum Thema Landwirtschaft eigentlich bei den Regierungen der Bundesstaaten liegen – werden von der Zentralregierung als ein Weg, die Einkommen zu erhöhen, verkauft. Sie sehen eine größere Rolle des Marktes und des Privatsektors in der landwirtschaftlichen Wertschöpfung vor, indem sie den Vertragsanbau deregulieren, die Beschränkungen für den Transport und die Lagerung von Lebensmitteln aufheben und den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten außerhalb der Mandis, den regulierten Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse, zulassen. In fast allen Bundesstaaten erhalten Landwirt*innen bislang Lizenzen und zahlen Provisionen, um ihre Produkte auf registrierten Mandis zu verkaufen.

Die Verdoppelung der landwirtschaftlichen Einkommen war eines der größten Versprechen der Regierung Narendra Modi nach ihrem Amtsantritt 2014, doch die Einkommen sind im Gegenteil zurückgegangen.

Dieses System wurde schon lange kritisiert – es gibt nicht genügend Mandis, sie kosten die Bauern und Bäuerinnen zu viel, und lokale Machthaber*innen haben die Kontrolle über sie übernommen. Durch die Agrarreform werde, so die Regierung, das System der Kommissionen für Zwischenhändler*innen durchbrochen. Kritiker*innen argumentieren, dass die Mandis das neue System nicht überleben und die derzeitigen Zwischenhändler*innen durch mächtigere Unternehmen verdrängt werden. Seit Jahren schon stellen auch die Industrieländer die staatliche Unterstützung Indiens für die Landwirtschaft in Frage. Die Deregulierung der Agrarmärkte stand seit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft im Jahr 1991 auf der Agenda der indischen Regierungen. Verschiedene Zentralregierungen hatten bereits versucht, die Regierungen der Bundesstaaten zur Öffnung ihrer Agrarmärkte zu bewegen.

»Märkte sind ein soziales Terrain«, erklärt Subir Sinha, Professor an der University of London im Gespräch mit ak. »Zwischen den Menschen auf Märkten bestehen langfristige Beziehungen. Die neuen Gesetze würden das aktuelle System durch eine neue Art von Marktnetzwerk ersetzen, das an die Kontrolle der Konzerne, an das neoliberale globale Nahrungsmittelregime gebunden ist. Und so wird der Grad der Kontrolle, die die Bauern, einschließlich der reichen Bauern, über viele Aspekte dieser Vertriebskette haben werden, wahrscheinlich weitaus geringer sein als im Fall der lokalen Märkte.«

85 Prozent der indischen Landwirt*innen verfügen indes über einen Landbesitz von weniger als zwei Hektar. Die meisten von ihnen haben keinen Zugang zu den Mandis. Es fehlt ihnen an Lagerkapazität und anderer Infrastruktur, und sie sind schon jetzt gezwungen, ihre Produkte sofort zu den angebotenen Preisen zu verkaufen. Die überwiegende Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern aus den marginalisierten Gemeinschaften Indiens gehört in diese Kategorie.

Die protestierenden Landwirt*innen befürchten auch, dass die Schaffung privater Märkte ein erster Schritt zur Abschaffung der Mindestpreise ist. Zweimal im Jahr verkündet die indische Zentralregierung den Garantiepreis, zu dem sie verschiedene Feldfrüchte von den Landwirt*innen beziehen wird. Das soll bei starken Marktschwankungen einen Mindestgewinn für deren Ernte sichern. Die Veröffentlichung dieses Mindestpreises (Minimum Support Price, MSP) vor der Aussaat beeinflusst die Investitionsentscheidungen der Landwirt*innen, aber seine Stabilitätsgarantie ist vielleicht noch wichtiger. Der MSP trägt zudem zur Nahrungsmittelsicherheit durch die Schaffung von Pufferbeständen und eines öffentlichen Verteilungssystems bei. Den Mindestpreis zu erhalten ist eine zentrale Forderung des Protestes. Die Regierung hat zwar versichert, dass der MSP-Mechanismus beibehalten wird, aber es herrscht Misstrauen.

»Die Sorgen der Bauern beziehen sich weniger auf das, was in den Gesetzestexten steht, als auf das, was dort nicht steht«, erklärt Ankur Sarin, Professor für öffentliche Politik am Indian Institute of Management, Ahmedabad, gegenüber ak und verweist auf die fehlenden Aussagen zu den MSP in den Gesetzestexten. »Die Bauern haben ihre Schlüsse gezogen.«

Angriff auf Streikrecht

Allen drei neuen Landwirtschaftsgesetzen liegt die Annahme zugrunde, dass private Investitionen in der Landwirtschaft zu Effizienzgewinnen führen und die dadurch erwirtschafteten Gewinne an die Landwirt*innen weitergegeben würden. Viele ärmere Landwirt*innen sagten uns hingegen, dass die Agrarreform zur Folge haben wird, dass sie am Ende wahrscheinlich ihren Landbesitz verlieren. Kritiker*innen befürchten, dass große Unternehmen zukünftig in der Lage sein werden, auf landwirtschaftliche Praktiken und Investitionen Einfluss zu nehmen und große Mengen landwirtschaftlicher Produkte zu horten. Sie glauben, dass die Maßnahmen den weitgehenden Rückzug der staatlichen Unterstützung aus der Landwirtschaft einläuten werden.

Mit den neuen Gesetzen wird die Ankündigung für alle Streiks in allen Industriezweigen obligatorisch.

Das indische Parlament hat überdies auch drei neue Arbeitsgesetze beschlossen. Ähnlich wie mit Blick auf die Landwirtschaft standen die Regierungen lange Zeit unter Druck, die Arbeitsgesetze Indiens zu vereinfachen und zu ändern. Auch hier herrschte unter den größeren nationalen Parteien Indiens Konsens darüber, dass die alten Vorschriften zur mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der indischen Firmen beitrügen. Und auch hier waren die Änderungen zunächst durch Gesetze in den Bundesstaaten versucht worden, bevor die Modi-Regierung meinte, lange genug gewartet zu haben. Anders als die Regierungen in der Vergangenheit versuchte sie gar nicht erst, einen Konsens mit den Gewerkschaften zu erreichen.

Die meisten der bisherigen Gesetze, die Mindeststandards für Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen, Sozialversicherungsleistungen und Tarifverhandlungsrechte garantierten, galten nur für den formellen Sektor des Landes, in dem weniger als zehn Prozent der Beschäftigten arbeiten. Die langjährige Forderung der indischen Gewerkschaften, den Schutz auf die Millionen von nicht regulären und prekären Arbeiter*innen auszudehnen, wurde von der Zentralregierung ignoriert.

Das indische Arbeitsrecht missbilligt Streiks schon jetzt – die neuen Gesetze schränken das Streikrecht weiter ein. Ein Gesetz von 1947 schrieb vor, dass Streiks in öffentlichen Versorgungsbetrieben nicht ohne mindestens 14-tägige Vorankündigung durchgeführt werden durften. Dies führte in der Praxis dazu, dass in mehreren Industriezweigen, darunter auch im Bergbau und in der Zementindustrie, erfolgreich Lobbyarbeit betrieben wurde, um als öffentliche Versorgungsbetriebe deklariert zu werden. Mit den neuen Gesetzen wird die Ankündigung für alle Streiks in allen Industriezweigen obligatorisch. Ohne vorherige Ankündigung gelten Streiks nun als »illegale Streiks«. Die Unterstützung eines solchen Streiks kann mit hohen Geldstrafen und Gefängnisstrafen geahndet werden. Die Registrierung einer Gewerkschaft kann zukünftig bei einem solchen Verstoß aufgehoben werden. Das neue Gesetz führt zudem das Konzept einer einzigen Verhandlungsgewerkschaft ein: Eine Gewerkschaft muss mindestens 75 Prozent einer Belegschaft organisieren, um den Status der Verhandlungsgewerkschaft zu erlangen. Wenn, was meist der Fall ist, keine Gewerkschaft 75 Prozent der Beschäftigten als Mitglieder hat, können die Regierungen einen Verhandlungsrat bilden, der ihnen immense Macht über die Gewerkschaften verleiht.

Die Proteste gegen die neuen Arbeits- und Landwirtschaftsgesetze sorgten auch für internationales Echo: Solidaritätsaktionen auf internationaler Ebene wurden dabei weitgehend von der Sikh-Diaspora in Kanada, Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Neuseeland und anderswo angeführt. In San Francisco umringten Tausende Demonstrant*innen die indische Botschaft. Über internationale Netzwerke wie Khalsa Aid wurden beträchtliche Summen zur Unterstützung der Blockaden gesammelt. In Berlin organisierten das Kollektiv Arbeiter*innen Macht und Berlin for India zusammen eine Demonstration in Solidarität mit dem Generalstreik am Alexanderplatz am 26. November, weitere Aktionen in Berlin waren für Anfang Dezember geplant.

Nikita Jain

Nikita Jain ist Journalistin in Delhi und berichtet über sozialpolitische Themen.

Aju John

ist Gründer vom Open Civic Learning und Herausgeber des Podcasts Nagrik, er lebt in Berlin.

Mihir Sharma

ist Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropologie globaler Ungleichheiten bei der Bayreuth International Graduate School for African Studies (BIGSAS) und lehrt an der Universität Bayreuth. Er schreibt zu Anti-Rassismus, politischer Ökonomie und sozialen Bewegungen.