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Narendra Modi gefällt das

Indiens Hindunationalist*innen rufen immer lauter zum Genozid gegen Muslime, die Regierung verfolgt derweil Menschenrechtler*innen

Von Aurel Eschmann

In Deutschland wird Indien noch immer oft als Vorzeigedemokratie dargestellt. Das liegt wohl mehr an geostrategischen Gründen – Indien ist ein wichtiger Verbündeter gegen China – als an der Realität vor Ort. Unter den Hindunationalist*innen vollzieht sich ein faschistischer Umbau der Gesellschaft, wie er im Buche steht. Im heutigen Indien werden Menschenrechtsaktivist*innen brutal verfolgt, die Gewaltenteilung ist größtenteils Geschichte. Gleichzeitig ignoriert die Regierung die ausufernde Gewalt gegen die muslimische Bevölkerung und die immer lauteren Aufrufe zum Genozid.

Am 1. Januar jährten sich zum dritten Mal jene Ausschreitungen, die in Indien unter dem Namen Bhima Koregaon bekannt sind und die inzwischen Symbol für die staatliche Verfolgung von Menschenrechtsaktivist*innen geworden sind. Zum Jahresbeginn 2018 war eine Dalit-Gedenkveranstaltung im Bundesstaat Maharashtra von einem hindunationalistischen Mob angegriffen worden. Die Veranstaltung ist ein wichtiges Ereignis für die Unterdrückten des Kastensystems, da an diesem Tag der Sieg eines von der British East India Company unterstützten Dalit-Heeres über den Peshwa von Maratha, der damaligen Hauptmacht auf dem indischen Subkontinent, am 1. Januar 1818 gefeiert wird.

Verfolgung von Aktivist*innen …

Bei den auf den Angriff folgenden Unruhen wurde mindestens eine Person getötet, die Täter*innen blieben bis heute unbehelligt. Stattdessen nahm die indische Regierung Bhima Koregaon zum Anlass, um im Sommer desselben Jahres 16 Aktivist*innen im ganzen Land zu verhaften. Darunter waren die Menschenrechtsanwältin Rona Wilson, die Gewerkschafterin Sudha Bharadwaj und der Jesuitenpriester Stan Swamy. Ihnen wurden zunächst Aufwiegelung zur Gewalt, antinationale Aktivitäten und Verbindungen zum maoistischen Aufstand vorgeworfen, der in Indien seit 1967 schwelt. Später wurden die inzwischen als BK16 bekannten Aktivist*innen noch beschuldigt, ein Mordkomplott gegen Premierminister Modi geplant zu haben.

Seit mehr als drei Jahren sitzen die Beschuldigten ohne Verfahren in Haft. Möglich ist das durch zwei Antiterrorgesetze: den Sedition Act und den Unlawful Activities (Prevention) Act (UAPA). Sudha Bharadwaj durfte das Gefängnis Anfang Dezember auf Bewährung verlassen, Stan Swamy verstarb 2021 in Haft.

An den Anschuldigungen gegen die Aktivist*innen gibt es massive Zweifel. Die Anklage beruht zu großen Teilen auf Dokumenten, die auf den Geräten der Beschuldigten sichergestellt wurden. Arsenal Consulting, eine US-Beratungsfirma im Bereich Digitalforensik, veröffentlichte im Februar 2021 drei Berichte, die sie im Auftrag von Beschuldigten angefertigt hatte. Darin wies sie nach, dass mit Hilfe einer Schadsoftware Fernzugang auf die Computer hergestellt worden war. Über einen Zeitraum von 22 Monaten wurden kompromittierende Dateien in versteckten Servern abgelegt. Unter diesen ist auch das Schlüsseldokument, das das angebliche Mordkomplott gegen Narendra Modi belegen soll. Dieses wurde auf den entsprechenden Geräten kein einziges Mal geöffnet. Arsenal Consulting spricht von »einem der schlimmsten Fälle von Beweismanipulation, dem wir je begegnet sind«.

Dass die Hackerangriffe aus Regierungskreisen kommen, liegt nahe, nicht nur wegen des hohen technischen Niveaus des Vorgangs. Auch die Unwilligkeit der Behörden, die IP-Adresse zuzuordnen, von der die Hackerangriffe erfolgten, spricht dafür. Hinzu kommt, dass sich die Handynummern von acht Beschuldigten auf der geleakten Liste von Nummern befanden, die mit Hilfe der israelischen Spionagesoftware Pegasus rechtswidrig von der Regierung ausgespäht worden waren.

… und staatlich geduldete Pogrome

Die auf die BK16 angewandte Strategie ist kein Einzelfall. Sie wird immer häufiger angewandt, um unbequeme Journalist*innen und zentrale Bewegungspersonen aus dem Weg zu räumen, der Ablauf ist immer ähnlich. Hindunationalistische Mobs greifen einen friedlichen Protest an. Im Anschluss, werden nicht die Täter*innen verfolgt, sondern Intellektuelle und Aktivist*innen, die sich zuvor mit den Protesten solidarisch gezeigt hatten.

So auch im Februar 2020: Nach Wochen friedlicher Demonstrationen gegen ein neues Gesetz, das die indische Staatbürgerschaft auf (nichtmuslimischer) Religionszugehörigkeit definieren sollte, griffen hindunationalistische Gruppen den Protest in Delhi an. In den darauffolgenden Unruhen starben 53 Menschen, zwei Drittel von ihnen Muslime. Auch dieses Ereignis nahm Delhis Polizei zum Anlass, um sieben Monate später mehrere Universitätsprofessor*innen der Anstiftung zur Gewalt und des Antinationalismus zu beschuldigen. Unter den Genannten war auch die Ökonomin und UN-Beraterin Jayati Gosh, die ins Ausland fliehen musste.

Gewalt gegen Muslime und gegen Dalits ist im heutigen Indien allgegenwärtig, Lynchmorde werden häufiger.

Damit ist sie nicht allein: Immer mehr kritische Stimmen fliehen angesichts der Verfolgung, in der indischen Zivilgesellschaft wird es stiller. Dafür schlagen Diasporaorganisationen wie das in Berlin ansässige India Justice Project Alarm angesichts der »systematischen Zerstörung der indischen Demokratie«.

Während der Staat brutal gegen kritische Aktivist*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen vorgeht, ist er gegenüber der Gewalt und den Genozidaufrufen aus dem hindunationalistischen Spektrum bestenfalls indifferent. Gewalt gegen Muslime und gegen Dalits ist im heutigen Indien allgegenwärtig. Häufig ereignet sich diese in Form von Lynchmorden, Anlässe sind etwa das Essen von Rindfleisch oder interreligiöse Hochzeiten. Zudem mehren sich Boykottkampagnen: Hindunationalistische Gruppen patroullieren auf Märkten und üben Druck auf Geschäfte aus, keine Muslime zu beschäftigen.

Hindunationalismus

Seit 2014 wird Indien von der Partei BJP unter Premierminister Narendra Modi regiert. Die BJP ist der parteipolitische Arm der hindunationalistischen Bewegung, die ihre Wurzeln bereits in den 1920ern hat. Das Ziel der Bewegung ist die Errichtung eines »Hindu Rasthra«, eines von Hindus dominierten Indiens, im Gegensatz zum pluralistischen, multi-ethnischen und multireligiösen Ideals von Mohandas Karamchand Gandhi und Jawaharlal Nehru, das bisher die Grundlage der gesellschaftlichen Identität Indiens bildete. Zum hindunationalistischen Programm gehört nicht nur die ethnische Säuberung und gewaltsame Unterwerfung von Muslimen, sondern auch eine Revision der Geschichte, die alle Spuren muslimischer Herrschaft unter den Mughals auslöschen soll. Die Bewegung ist in Tausenden Institutionen organisiert, die zusammen die »Sangh Parivar«, die hindunationale Familie bilden. Angeführt wird die Sangh durch die RSS, die »Nationale Freiwilligenorganisation«, die 1925 nach dem Vorbild der deutschen SA gegründet wurde und heute etwa sechs Millionen Mitglieder hat. Die RSS hat einen internationalen Arm, die HSS, der zunehmend auch in Deutschland aktiv ist.

Im indischen Internet ist Hate Speech weit verbreitet, Hindunationalist*innen schmücken sich offen mit Symbolen wie »2002«, was auf die Pogrome im Bundesstaat Gujarat verweist. Damals wurden als Reaktion auf den Anschlag auf einen Zug mit hinduistischen Pilger*innen hunderte Muslime ermordet. Human Rights Watch veröffentlichte einen ausführlichen Bericht, der darlegte, dass sowohl der Auslöser, als auch die Pogrome von staatlichen Institutionen gesteuert worden waren. Der damalige Minister des Bundesstaates: Narendra Modi.

Neue Stufe der Gewalt

Zwischen dem 17. und 19 Dezember 2021 wurde diese Gewalt auf eine neue Stufe gehoben. In der Pilgerstadt Haridwar, an den Ufern des Ganges, versammelten sich hinduistische Führer*innen und religiöse Schlüsselfiguren – viele mit engen Verbindungen zur Regierungspartei – zum Dharma Sansad, dem religiösen Parlament. Das Thema: »Die Zukunft des Hinduismus im islamistischen Indien«. Von der Versammlung kursieren unzählige Videoaufnahmen in den sozialen Medien, in denen Aufrufe zum Genozid und zum Sturz der Demokratie zu sehen sind. Der Politiker und religiöse Führer Annapurna Maa ist zu hören: »Wenn ihr sie (die Muslime; A.E.) erledigen wollt, tötet sie. Wir brauchen hundert Soldaten, die 20.000 von ihnen töten können, um zu gewinnen.« Mehrere Sprecher*innen riefen die Anwesenden auf, sich zu bewaffnen, und lobten das Vorgehen der Myanmar gegen die muslimischen Rohingya. Ein Sprecher erntete großen Beifall mit der Androhung einer Rebellion, falls die Regierung nicht bald das wahre Hindu Rashtra (siehe Kasten) errichten sollte.

Trotz der offenen Aufrufe zum Genozid und zum gewaltsamen Aufstand gegen den Staat blieb die Versammlung von staatlicher Seite unkommentiert, keiner der Anwesenden wurde verhaftet. Das lässt Schlimmes befürchten. In einem offenen Brief, der anlässlich der Geschehnisse von einer Reihe ehemaliger Generäle unterzeichnet wurde, steht: »Die Parallelelen zu Nazi-Deutschland sind beängstigend. Still zu bleiben im Angesicht solch verabscheuungswürdiger Reden, heißt, Mitschuld zu tragen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«

Aurel Eschmann

forscht zu Neoliberalismus und Autoritarismus in Indien und China. Er ist Mitherausgeber des 2022 erscheinenden »Global Visual Handbook of Anti-Authoritarian Counterstrategies«.