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Lieferketten im Krieg

Die Kämpfe in der Ukraine schlagen sich auch in den internationalen Ausbeutungsbeziehungen nieder

Von Jan Ole Arps und Paul Dziedzic

Inflation und Lieferengpässe, verschärfte Armut, sogar Angst vor Hungerkatastrophen: Schon in der Pandemie zeigte sich, wie störungsanfällig die global verzahnte kapitalistische Wirtschaft ist. Derzeit richten sich die Blicke vor allem auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine und seine drohende Eskalation zu einem internationalen Großkonflikt. Doch bereits jetzt hat der Krieg auch drastische Auswirkungen auf die weltweiten Wirtschafts- und Ausbeutungsbeziehungen. Leidtragende sind vor allem die Menschen, die am unteren Ende der globalen Arbeitsteilung ihr Überleben organisieren müssen. Einige Schlaglichter auf die Nahrungsmittelproduktion, die länderübergreifenden Reproduktionsbeziehungen und die Internationalisierung des Schlachtfeldes:

Aktuell gefährdet der Krieg die Lebensmittelversorgung in vielen Ländern. Russland und die Ukraine produzieren zusammen bis zu einem Viertel des weltweit gehandelten Weizens. In der Ukraine ist die Versorgung unterbrochen. Auf den Feldern des Landes könnten dieses Jahr vor allem die Spuren von Panzern zurückbleiben, und selbst wenn die Ernte möglich ist, bis dahin die Hafenstädte unerreichbar sein.

Russland kündigte an, Exporte in einige Länder einzuschränken, um die eigene Versorgung zu sichern. Ägypten, Sudan, Nigeria, Tansania, Algerien, Kenia oder Südafrika, sie alle importieren Weizen aus beiden Ländern. Einige warnen schon vor einem neuen 2011. Auch damals war den Unruhen in vielen Ländern ein starker Anstieg der Lebensmittelpreise vorausgegangen.

Auch, wenn in Deutschland mit steigenden Preisen für Weizenprodukten zu rechnen ist – die Lebensmittelversorgung wohlhabender Länder ist nicht bedroht; ihre Agrarmärkte sind gut geschützt. Anderswo haben europäische Produkte ganze Sektoren hinweggespült und die Lebensmittelsouveränität vieler Länder unterminiert.

Ein bitterer Kontrast

20.000 Freiwillige aus dem Ausland sollen sich zum Kampf gegen die russischen Truppen bereits gemeldet haben, erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Anfang März gegenüber CNN. Viele von ihnen sind Menschen aus anderen europäischen Ländern mit familiären Bezügen in die Ukraine. Aber nicht nur. Auch in mehreren afrikanischen Ländern riefen die ukrainischen Botschaften Menschen dazu auf, sich dem Kampf anzuschließen. Es hagelte Kritik unter anderem aus Senegal, Nigeria oder Algerien. Die Ukraine verteidigte sich damit, dass das Land Freiwillige rekrutiere, nicht Söldner*innen. Deshalb verlangt die Botschaft, zumindest in Nigeria, einen Nachweis über Kampferfahrung, 1.000 US-Dollar und die Übernahme der Flugkosten in ein benachbartes Land. Doch viele vermuten, dass die Freiwilligen finanziell kompensiert werden. Verlässliche Zahlen dazu, wie viele die Einladung der Ukraine angenommen haben, gibt es derzeit nicht. Laut dem News-Aggregator All Africa haben sich allein in Nigeria 200 Leute gemeldet. Wie das International Center for Investigative Reporting berichtet, ging es den meisten Freiwilligen aus Nigeria, die vor der ukrainischen Botschaft warteten, ums Geld.

Das steht im bitteren Kontrast dazu, wie ukrainische Behörden mit afrikanischen Arbeiter*innen und Student*innen umgingen, die versuchten, das Land zu verlassen. Ihnen wurde teils der Zugang zu Transportmitteln verweigert, sie wurden in bitterer Kälte an Warteschlangen weggeschickt, nicht selten bedroht. Aber um als Söldner*innen auf einem europäischen Schlachtfeld zu sterben, sind sie gut genug. Auch Russland rekrutiert im Ausland. Die russische Armee soll Angehörige der syrischen Streitkräfte angeworben haben und sucht nach bis zu 16.000 Söldnern, um die russischen Truppen in der Ukraine zu verstärken.

Vor dem Krieg, der fast ein Jahrzehnt in Syrien wütete und erst durch Russlands Eingreifen zugunsten des Assad-Regimes entschieden wurde, sind Millionen Menschen geflohen. Auch in die Ukraine. Nun müssen diese mindestens 600 Menschen aus Syrien, die sich ein Leben in der Ukraine aufgebaut haben, ein zweites mal fliehen, mitunter erneut vor russischen Bomben. Ebenso erging es hunderten Menschen aus dem Jemen und Afghanistan.

Vom Kommen und Gehen

Zu denen, die das Land nicht verlassen können, gehören mehrere Tausend ukrainische Frauen, die als Leihmütter arbeiten – für Paare aus dem Ausland, oft aus Europa. Die Ukraine gehört zu den wenigen Ländern der Welt, in denen Leihmutterschaft legal ist. Bei Agenturen mit Namen wie Delivering Dreams oder BioTexCom können sich Paare für eine Summe ab 40.000 Euro ihren Kinderwunsch erfüllen lassen. (Siehe auch Seite 27) Die Frauen, die die Kinder austragen, erhalten einen Teil des Betrags. 19.000 Euro sollen es bei der Agentur Delivery Dreams sein, wie deren Gründerin Susan Kersch-Kibler sagt. Einen Teil des Geldes erhalten die Frauen während der Schwangerschaft, den größten Teil aber nach der Geburt.

Nun erhält diese Ausbeutung eine zusätzliche Dimension. Denn da Leihmutterschaft in den meisten anderen Ländern nicht erlaubt ist, sollen die Leihmütter in der Ukraine bleiben – bei einer Geburt außerhalb der Ukraine würden sie sonst die rechtlichen Mütter der Kinder, die sie für ihre Auftraggeber*innen gebären. Viele Agenturen haben die Leihmütter nun in den Westen des Landes gebracht und hoffen, das Geschäft dort zu Ende bringen zu können. Die künftigen Eltern aus dem Westen planten nun, nach Polen zu fahren und dort zu warten bis kurz vor der Geburt, dann wollen sie die Grenze überqueren, berichtet Kersch-Kibler. »Die meisten Eltern wollen dabei sein, wenn das Kind geboren wird.«

In Deutschland steht die Spargelsaison vor der Tür und die Landwirte werden langsam nervös. Auch eine österreichische Zeitung titelte: »Oberösterreich bangt um 1.950 Erntehelfer«. Doch nach Betrachtung der Unterzeile wird klar, dass Oberösterreich vor allem um die Ernte bangt, die diese Menschen einbringen sollen. Mehrere hunderttausend Arbeiter*innen aus Osteuropa, ein vergleichsweise kleiner Teil von ihnen aus der Ukraine, erledigen jedes Jahr auf deutschen und österreichischen Höfen die harte Erntearbeit. Einige dieser Arbeiter*innen könnten nun als Folge des Krieges wegbleiben.

»Never waste a good crisis«

Die Bauernverbände scheinen dieses Problem als Chance nutzen zu wollen. Auch für Saisonarbeiter*innen gilt in Deutschland der Mindestlohn (derzeit 9,82 Euro, ab Juli 10,45 Euro, im Oktober sollen es dann 12 Euro werden), doch gibt es bei kurzfristiger Beschäftigung Ausnahmen von der Sozialversicherungspflicht. Diese gilt erst ab einer Beschäftigungsdauer von mindestens 70 Tagen – in den letzten beiden Jahren war die Kurzfristigkeitsspanne mit der Universalbegründung »Corona« auf 115 Tage ausgedehnt worden. Bereits im Februar forderten Bauernverbände nun die Verschiebung der Mindestlohnerhöhung und eine abermalige Verlängerung des Zeitraums, ab dem die Sozialversicherungspflicht gilt. Bislang ohne Erfolg. In den letzten Jahren waren die ausbeuterischen Verhältnisse in der Landwirtschaft – auch durch Kämpfe von Erntearbeiter*innen – stärker in den Blick gerückt. Ein Ergebnis ist, dass nun immerhin die Lücken beim Krankenversicherungsschutz geschlossen werden sollen. Die hatten teilweise dazu geführt, dass Erntehelfer*innen bei einer Corona-Erkrankung die Behandlungskosten selber tragen mussten.

Aus der Politik heißt es derzeit einhellig, Deutschland sei bereit, Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. Die Ankommenden sollten »schnell in den Arbeitsmarkt integriert« werden. Das droht zum Einfallstor für eine Absenkung der Löhne und den Angriff auf die Arbeitsrechte dieser Menschen zu werden – von der Erntearbeit bis zur Pflege. »Never waste a good crisis« dürfte das Motto für die nächste Etappe nach dem ersten, warmen Empfang der Geflüchteten werden.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.