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Ein sich selbst schützendes System

Was der Tod von Lorenz A. über die politische Struktur von Polizeigewalt, Medien und die rassismuskritische Öffentlichkeit erzählt

Von Friedrich Kraft

Zu sehen sind viele junge Menschen, die Schilder tragen und ein Transparent, auf dem steht No justice, no peace - disarm the Police, dazu ein Bild des getöteten Lorenz A.
»Lorenz starb nicht einfach tragisch – er wurde von staatlichen Akteuren getötet«, so formulieren es Vertreter*innen der Initiative Gerechtigkeit für Lorenz. Foto: Friedrich Kraft

Am 20. April erschießt ein Oldenburger Polizist den 21-jährigen Lorenz A. – einen Schwarzen Deutschen, bekannt in der ganzen Stadt, beliebt an seiner alten Schule. Die Polizei spricht von einem »bedrohlichen Einsatz« , später von »Hochstress«. Doch was bleibt, ist ein weiterer lebloser Körper, Polizeikugeln von hinten, Bodycams, die nicht liefen – und ein Diskurs, der nicht neu ist, sich derzeit aber vom Tatort mitten in der belebten Fußgängerzone Oldenburgs aus neu entzündet.

In den ersten Stunden des Ostersonntags will Lorenz A. in eine diskoähnliche Bar. Ihm wird der Einlass verweigert, angeblich wegen seiner Jogginghose. Freunde von Lorenz berichten ak in den Tagen nach seinem Tod, wie oft Lorenz ähnliche Erfahrungen machen musste, weil er Schwarz war. In dieser Nacht soll er – nach bisheriger Darstellung von Polizei und Staatsanwaltschaft – die Türsteher attackiert haben. Andere in Oldenburg sprechen davon, dass nicht nur diese, sondern weitere Menschen aus der Bar heraus zur Verfolgung Lorenz’ ansetzten. Vieles erscheint derzeit noch unklar. Was klar ist: Wenig später trifft Lorenz A. auf Polizist*innen. Von zwei Seiten kommen diese in die Achternstraße, ihm dicht auf den Fersen. Kurz darauf ist er tot. Fünf Schüsse sind abgefeuert worden, vier treffen den jungen Oldenburger von hinten, in Rücken, Hüfte und Kopf.

Mediale Schnellschüsse

Der erste mediale Schnellschuss folgt, während Lorenz’ Blut noch auf dem Straßenpflaster der Fußgängerzone klebt. Bild berichtet – wie sich später zeigt: faktenfrei – von einem Messerangriff auf Polizist*innen. Die Schüsse werden als Reaktion auf einen Angriff dargestellt. Diese Meldungen stehen bereits online, als in Oldenburg noch keine*r genau weiß, wer gestorben ist. Doch es spricht sich schnell herum: Es ist Lorenz. Während sich in den Nachrichten verbreitet, er habe »Beamte mit einem Messer angegriffen«, schrubben Freund*innen von Lorenz dessen Blut vom Boden. Nicht die Stadt kümmert sich, nicht ein Tatortreiniger, nicht die Polizei, sondern die Freund*innen. Einer von ihnen ruft bei der Stadt an und fragt, ob jemand kommen könne – niemand erscheint. »Wir wollten einfach nicht, dass sein Blut da weiterliegt«, erzählt er Tage später. Am nächsten Tag berichtet dann auch der NDR vom vermeintlichen Messerangriff.

Kurze Zeit später korrigiert sich dann der NDR: Lorenz habe kein Messer bei sich getragen. Auch das ist falsch. Es folgt eine zweite, präzisierende Pressemitteilung. Telefoniert man in diesen ersten Tagen des nun entstehenden »Falles Lorenz A.« mit der Staatsanwaltschaft, lässt sich heraushören, wie angefressen man dort ist über die Messer-Verwirrungen. Offizieller Sachstandsbericht in nun: Ein Messer wurde gefunden. In der Hosentasche von Lorenz A., später im Krankenhaus. Da ist er bereits tot.

Noch während Angehörige versuchen zu verstehen, was geschehen ist, knallt der nächste mediale Schuss durchs Internet. Nun wird auf seine Person abgezielt. »Du wolltest berühmt werden, aber doch nicht so«, steht irgendwann in roter Schrift neben den Tatort gemalt. Bereits am Tag nach seinem Tod berichtet der Spiegel, Lorenz A. sei »polizeibekannt« gewesen. Eine Information, die mutmaßlich direkt aus Behördenkreisen kommt – und für die bisher kein Kontext, kein Verfahren, keine Relevanz dargelegt wurde. Der Effekt: Der Getötete wird kriminalisiert, noch bevor die Aufklärung beginnt. Die Debatte wird verschoben – weg von der Tat und hin zur Biografie des Opfers. Die Presse schreibt dabei, was man ihr gibt – und was man ihr zuerst gibt, prägt anschließend den Diskurs.

Polizei ermittelt gegen Polizei

Doch wer ermittelt nun, hoffentlich unvoreingenommener als manch Medienschaffender? Unbeeinflussbar, weil hier schließlich ein Staatsbeamter zum mutmaßlichen Täter wurde. Eine unabhängige Ermittlungsinstanz? Gibt es nicht – weder bundesweit, noch in Niedersachsen. Seit Jahren wird darüber diskutiert, die Zivilgesellschaft fordert sie immer wieder vehement. In Berlin und Rheinland-Pfalz werden derzeit immerhin Modellprojekte ausgerollt. Aus Mangel aus Alternativen ermittelt im Fall Lorenz A. jedoch aus »Neutralitätsgründen« mal wieder eine Nachbarbehörde: die Polizei Delmenhorst. Eine Polizeidienststelle also, die verwaltungs- und polizeirechtlich derselben Direktion wie der Todesschütze untersteht – der Polizeidirekten Oldenburg. Das sei »völlig normal« und »unproblematisch«, heißt es vom Niedersächsischen Polizeipräsidenten Axel Brockmann. Und genau in dieser unhinterfragten Normalität liegt ein großer Teil des Problems

Wer vier Schüsse von hinten abgibt, will nicht stoppen – sondern töten.

Mit Veröffentlichung des Obduktionsberichts wächst der Druck, denn nun wird klar, dass Lorenz A. von hinten erschossen wurde, eventuell auf der Flucht. »Wer vier Schüsse von hinten abgibt, will nicht stoppen – sondern töten«, wird nicht nur Motto der sich schnell in Oldenburg gründenden Initiative Gerechtigkeit für Lorenz, sondern wird nun auch deutschlandweit in Städten auf Wände und für Demonstrationen auf Schilder gemalt.

Die Speerspitze der deutschen Polizeiwissenschaft – allesamt männlich – meldet sich zu Wort. Ihre Nummer wird von Medienschaffenden gewählt für erste kritische Einordnungen. Wenn ein Mensch bei Polizeieinsätzen stirbt (und der Fall auch medial Interesse hervorruft, was längst nicht immer der Fall ist) – kann auf ihre Zitate gesetzt werden. Hier wird nun rasch  das Fehlen von Bodycam-Aufnahmen einer der zentralen Kritikpunkte. Für Rafael Behr, viel zitierter Hamburger Polizeiwissenschaftler, ein Skandal: »Gerade in solchen Situationen braucht es Objektivität – und keine Funkprotokolle im Nachhinein«, äußert er in der FAZ. Auch für Thomas Feltes, von Lorenz’ Mutter mandatiert, ist in verschiedenen Interviews klar: »Die Kamera hätte eingeschaltet sein müssen.« Der Kriminologe Tobias Singelnstein verweist zudem auf den strukturellen Kontext solcher Taten – und auf das Fehlen einer Debatte über Racial Profiling und Deeskalation.

Alles nur »tragisch«?

Lorenz wurde 21 Jahre alt. Keine Woche nach seinem Tod demonstrieren in Oldenburg 10.000 Menschen für ihn und den Wunsch seiner Familie und Freund*innen nach Aufklärung und Gerechtigkeit. Sein 22. Geburtstag fällt auf den 10. Mai – Muttertag. Aus dem Tag wird eine Gedenkveranstaltung, erneut versammelt sich in Oldenburg eine vierstellige Anzahl solidarischer und weiterhin geschockter Menschen. Zwei Tage zuvor, am 8. Mai, ist Lorenz beerdigt worden. Während Bild-Fotoreporter den Friedhof belagern, findet in Hannover eine Innenausschusssitzung im Landtag statt. Trauerfeier hier, politische Kommunikation dort.

Der Innenausschuss bildet nun den Ort, an dem der Diskurs staatlich eingefangen wird. Die Tonlage: technisch, beschwichtigend, kontrolliert. Hier wird gemahnt, auf den Rechtsstaat zu vertrauen, sich nicht anstecken zu lassen von politischen Zuspitzungen. Gleichzeitig nutzen Polizeigewerkschaften den Fall bereits, um Taser zu fordern, die CDU signalisiert Zustimmung. Die Logik: Nicht das Verhalten, sondern die Ausrüstung der Polizei sei das Problem. Im Ausschuss stellt einzig die Grünen-Abgeordnete Djenabou Diallo-Hartmann die Frage, wie viele PoC in Niedersachsen in den letzten Jahren von Polizeigewalt betroffen waren. Antwort: Diese Daten existieren nicht, auch rückwirkend lasse sich nichts ermitteln. Eine strukturelle Leerstelle mit Ansage, ein Verdrängungsmechanismus mit System.

Hier im großen Forum des niedersächsischen Landtags wird die politische Verschiebung des Falles sichtbar. Statt Verantwortung, oder der tatsächlichen tieferen Suche danach – beherrscht ein Wort hier beinahe jeden Beitrag: »tragisch«. Tragisch sei es, was da in der Osternacht passiert ist. Tragisch, nicht nur für den getöteten Lorenz, sondern auch für den tötenden Polizisten. Über ihn und sein jetziges Befinden wird im Ausschuss viel gesprochen. Der Begriff der »Tragödie« entzieht dem Geschehen – hier vor Ort im niedersächsischen Landtag – die Verantwortlichkeit. Wer »tragisch« sagt, muss keine Fehler benennen.

Kein Bruch, sondern Wiederholung

»Lorenz starb nicht einfach tragisch – er wurde von staatlichen Akteuren getötet«, so formulieren es dagegen Vertreter*innen die Initiative Gerechtigkeit für Lorenz in einer Rede am trauernden Geburtstags-Muttertag. Der Fall Lorenz ist kein Ausreißer. Er ist nur einer, der viele wieder einmal wachrüttelt – Aktivist*innen, kritische Polizeiwissenschaftler –, der aber auch einen gut geölten Motor politischer Kommunikation und Beschwichtigung anschmeißt. 

In Dortmund wurde Mouhamed Dramé 2022 mit einer Maschinenpistole erschossen – sechs Schüsse. Mehrere Bodycams waren vor Ort, keine lief. Fünf Freisprüche vor Gericht, bis heute keine verbindlichen Regelungen bezüglich der Bodycam-Nutzung in NRW. Von einer unabhängigen Ermittlungsstelle ganz zu schweigen. In Delmenhorst starb 2021 Qosay K. in Gewahrsam. Auch sein Tod bleibt ohne Konsequenzen – trotz Zweifel an offiziellen Ermittlungsergebnissen. Die Ermittler*innen im tödlichen Fall der Polizeidirektion Delmenhorst kamen: aus Oldenburg.

Der Fall Lorenz A. steht exemplarisch für ein System, das sich selbst schützt – durch Strukturen, Sprache, Verfahren. Er zeigt, wie wenig institutionalisierte Kontrolle über das Gewaltmonopol besteht. Der Fall Lorenz A. ist kein Bruch, sondern eine Wiederholung. Und wohl öffentlich so schnell und breit bekannt, weil der Aufschrei aus Oldenburg selbst nicht zu überhören war. Weil am Tatort in der Oldenburger Innenstadt Menschen Wache halten – bis heute. 

Friedrich Kraft

ist Journalist und Videograf aus Dortmund. Seit Jahren recherchiert er zu Fällen (tödlicher) Polizeigewalt, begleitet die Familie Dramé und weitere Hinterbliebene dabei empathisch-journalistisch.