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»Du musst nichts gemacht haben, um als Gefahr zu gelten«

Im Fall des in Dortmund durch Polizeischüsse getöteten Mouhamed Dramé hat nun der Prozess gegen die Polizeibeamt*innen begonnen

Von Çağan Varol

Ein Mural erinnert an Mouhamed Dramé, der am 8. August von der Polizei ermordet wurde. Foto: Mean Streets Antifa Dortmund

Mouhamed Lamine Dramé kam als Geflüchteter aus dem senegalesischen Kaolack nach Dortmund. Fluchterfahrungen können vor allem auf junge Menschen stark traumatisierende Wirkungen haben, und offensichtlich befand sich der 16-jährige Jugendliche in einem psychischen Ausnahmezustand, als er am 8. August 2022 in einer Jugendhilfeeinrichtung ein Messer auf sich selbst richtete. Da offenbar die Gefahr bestand, dass Mouhamed sich selbst verletzen könnte, riefen die Sozialarbeiter die Polizei. Insgesamt zwölf Polizist*innen, darunter mehrere in Zivil, kamen schwer bewaffnet zur Einrichtung. Das Zusammentreffen endete für Mouhamed tödlich. Am 19. Dezember 2023 begann nun der Prozess gegen fünf beteiligte Polizist*innen. Dem Hauptangeklagten Fabian S. wird Totschlag vorgeworfen, die Anklage gegen drei weitere Polizist*innen lautet auf gefährliche Körperverletzung im Amt. Dem Einsatzleiter wird die Anstiftung dazu vorgeworfen. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed stellte im Vorfeld der Verhandlung die Hauptfrage: »Warum geht die Polizei mit solcher Härte vor und setzt ohne Warnung einen Taser ein und feuert nur 0,7 Sekunden später mit der Maschinenpistole auf den Jungen?«

Bei der Anklageverlesung stellte der Staatsanwalt Carsten Dombert fest, dass Mouhamed Lamine Dramé bei Eintreffen der Polizei auf dem Boden saß und das Messer neben ihm auf dem Boden lag. Rod William Dountio vom Solikreis Justice4Mouhamed erklärte gegenüber ak, dass bis zum Eintreffen der Beamt*innen niemand bedroht wurde oder in Gefahr war, außer Mouhamed Dramé selbst, der erst aufstand, als er attackiert wurde. Laut Staatsanwaltschaft wurde das spätere Opfer zunächst von zwei Zivilpolizist*innen angesprochen, die sich nicht als solche zu erkennen gaben. Auf welche Weise diese Ansprache erfolgte und ob die Beamt*innen überhaupt davon ausgehen konnten, dass Mouhamed diese verstand oder die Situation einschätzen konnte, wird vermutlich Gegenstand des Prozesses werden.

Statt eines Versuchs der Deeskalation oder gar einer Vorwarnung erfolgte das genaue Gegenteil: Nach Informationen des Solikreises soll der verantwortliche Einsatzleiter »Einpfeffern, das volle Programm!« befohlen haben. Einem WDR-Bericht zufolge wurde sechzehn Sekunden nach dem Pfeffersprayeinsatz auf Mouhamed geschossen. Taser und Maschinengewehrschüsse erfolgten beinahe zeitgleich. Der Kriminologe Thomas Feltes stellt fest, dass 80 Prozent der von der Polizei getöteten Menschen unter psychischen Schwierigkeiten leiden und/oder Drogen- bzw. Alkoholabhängigkeiten aufweisen. Jedes Anzeichen von Gefahr, vom Stock bis zur Küchengabel oder zum Messer, legitimiert eskalative Mittel der Polizei, so Dountio.

Der Hauptangeklagte Polizist Fabian S., der sich hinter einer Mauer mit Gitterstäben befand, als er sechsmal auf Mouhamed schoss, ließ seinen Anwalt am ersten Verhandlungstag am Landgericht Dortmund eine Erklärung verlesen, in der es hieß, die »Hautfarbe« von Mouhamed Dramé habe nichts mit dessen Tod zu tun gehabt.  Der Prozess belaste ihn und seine Familie sehr. Der Tod eines Schwarzen Jugendlichen wird so zur Folge eines tragischen Polizeieinsatzes, dessen Zustandekommen angeblich nichts mit Rassismus zu tun hatte und das Leben eines Polizisten aus den Fugen geraten ließ. Folgt man dieser Deutung über die Tat und dem Abstreiten des Rassismus, sind die Opfer immer auch selbst schuld. Es ist zu erwarten, dass die angeklagten Beamt*innen und ihre Anwält*innen im Verlauf des Prozesses versuchen werden, die Deutungshoheit zu erlangen, und das Vorhandensein eines Messers als Angriff auf die Polizist*innen umzudeuten, damit eine Notwehrsituation begründet werden kann. Die Täter-Opfer-Umkehr (»Blaming the Victim«) erweist sich als Hauptbestandteil eines rassifizierten Kontinuums, das Staatsbedienstete von jeglicher Schuld entlastet.

Dass es überhaupt zu einer Verhandlung gegen die Polizist*innen kommt, ist aber in Deutschland eine Besonderheit. Bei etwa 98 Prozent aller Anzeigen gegen die Polizei werden die Ermittlungen eingestellt. Im Fall der Tötung von Dramé wurden die Ermittlungen von der Polizei Recklinghausen geführt, an deren Neutralität aber berechtigte Zweifel bestehen, da sie die Kolleg*innen der Wache Nordstadt als Zeug*innen vernommen haben und nicht als Beschuldigte. Am ersten Verhandlungstag erläuterte der Richter hierzu, dass dieser Fehler ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen könne. Am zweiten Prozesstag verweigerten drei der Angeklagten ihre Aussage. Es muss hinzugefügt werden, dass von den zwei Prozent der Fälle, bei denen es zu einer Anklage gegen Polizist*innen kommt, der überwältigende Anteil straffrei bleibt. Eine Verurteilung im Prozess ist daher kein Selbstläufer.

Der Vorsitzende Richter Kelm soll laut Dountio am ersten Prozesstag lapidar festgestellt haben, dass die Nebenkläger*innen, also die Familie Dramé, nicht anwesend seien. »So als ob sie im Stau stecken würden«, wie Dountio kommentierte. Der Grund war jedoch ein völlig anderer: Mouhamed Lamine Dramés Familie konnte nicht am Prozess teilnehmen, weil ihr kein Visum ausgestellt wurde, obwohl bekannt war, dass sie am Prozess teilnehmen wollte. Unterdessen verdichten sich die Hinweise, dass zwei seiner Brüder nun doch ein Visum erhalten sollen, um an zukünftigen Prozesstagen teilnehmen zu können. Die Familie meldete sich bereits vor Prozessbeginn zu Wort und verlangte Aufklärung und Gerechtigkeit: Im Senegal würde Mouhameds Tod in Deutschland ohne Frage als Folge von Rassismus interpretiert, sagte der Bruder Sidy Dramé gegenüber dem WDR. Die Familie wartet bis heute auf eine Entschuldigung und Mitgefühl für den Tod ihres Verwandten. Die Erfahrungen aus vergangenen Fällen lässt jede Hoffnung auf eine solche Sühne schwinden. Politiker*innen stellten sich auch in anderen Ermittlungen hinter die Polizeikräfte. So wie der NRW-Innenminister und Hardliner Herbert Reul sich hinter die Dortmunder Polizist*innen stellte.

Staatsfeinde und Brennpunkte

Die Behandlung von Mouhamed Lamine Dramé ist kein Ausnahmefall, sondern das Ergebnis einer rassifizierten Raumordnung, die die Anwesenheit von Menschen mit Einwanderungsgeschichte und Fluchterfahrungen, wie auch von Armut betroffenen, mit repressiven Politiken und Strategien verknüpft.

Im Laufe der 1990er-Jahre kam es in Deutschland zum Import von urbanen Sicherheitsstrategien aus den USA, die im Zuge des Redens von Ghettos, Brennpunkten und Parallelgesellschaften diskursiv Einzug gehalten und sich im Zero-Tolerance-Konzept durchgesetzt haben. Moralisierende Brandmarkungen rationalisieren dabei Ungerechtigkeiten im Alltagsverstand, aber auch brutale Polizeieinsätze mit Todesfolge als kausale Folgen von individuellen Problematiken. Die Rede von »alimentierten Messermännern«, »aggressiven Geflüchteten«, »kriminellen Ausländern« etc. ist Teil eines diskursiven Kampffeldes, das physische wie auch symbolische Gewalt legitimiert, insbesondere wenn die Opfer nur über geringe Beschwerdemacht verfügen.

Über die mediale Skandalisierung von Kleinkriminalität und Ordnungswidrigkeiten wird anhand der migrantischen Viertel dramaturgisch und polarisierend ein Verstärkerkreislauf in Gang gesetzt, der permanenten politischen Aktionismus einfordert. Beispiele sind die vielen neuen Polizeigesetze in den Bundesländern, die die Militarisierung der Polizei ausdrücken. Der Solikreis Justice4Mouhamed verweist in diesem Zusammenhang auf die Folge solcher Politiken für Bewohner*innen von Vierteln wie der Dortmunder Nordstadt: »Diese Aufrüstung der Ordnungsbehörden führt zu geringeren Hemmschwellen bei Gewaltanwendung, die nicht selten problematisch sind. Polizeifahrzeuge sind häufig mit Maschinenpistolen ausgestattet.«

Überdies wurden die seit Jahresbeginn 2022 in fünf Großstädten in NRW eingeführten Taser zuvor in der Wache Dortmund-Nordstadt ein Jahr lang getestet. Die Einordnung der Nordstadt als Tasertestgebiet geschah nach polizeilichen Angaben daher, weil es dort »besonders häufig zu Widerstand gegen die Staatsgewalt« komme. Dies sei aber vielmehr ein Anzeichen dafür, wie der Staat auf migrantische Viertel blickt und Orte dehumanisiert werden, so Dountio vom Solikreis.

Rassismus über seinen Exzess analysieren

Die Todesfälle von Migrant*innen, Asylsuchenden und von Armut betroffenen Menschen bei Polizeieinsätzen, wie im »benachteiligten Viertel« Essen-Altendorf, wo Adel B. 2019 starb, oder in Altenessen 2017, wo Mikail Haile getötet wurde, sind weder Zu- noch Einzelfälle. Im selben Monat, in dem Mouhamed starb, wurden vier weitere Menschen von der Polizei getötet. Der arbeitslose, russisch-jüdische Musiker, Jozef Berditchevski, wurde im »benachteiligten Viertel« Köln-Ostheim, während der Zwangsräumung aus seiner Wohnung erschossen. Einen zentralen Stellenwert bei der Kriminalisierung hat die Definitionsmacht oder das Ermessen der Polizei.

Diese rechtfertigt sich in vielen Fällen damit, dass die angeblichen Täter*innen »polizeibekannt« seien, aggressiv gewesen wären oder ein Messer besessen hätten. In Wahrheit gehen die Sicherheitskräfte in den Vierteln der Armen und Minderheiten, in Zeiten der Krise, mit Mitteln vor, die in den Räumen der oberen Klassen nicht denkbar wären. Am 23. Dezember 2023 wurde der unter psychischen Problemen leidende 49-jährige Ertekin Ö. vor den Augen der Bewohner*innen und der Handykameras in Mannheim-Schönau von der Polizei erschossen.

Auch rechte Vigilant*innen nutzen die rechtspopulistische Hegemonie für Gewalttaten. Es ist kein Zufall, dass Mehmet Kubaşık ebenfalls in der Dortmunder Nordstadt vom NSU getötet wurde, wie auch die Menschen der Keupstraße in Köln einen Nagelbombenanschlag erleben mussten. Die Attacken und Morde in München 2016, Halle und Hanau sind dazu zu zählen. Der französische Philosoph Étienne Balibar hatte statt einer rein funktionalistischen Analyse des Rassismus, als Mittel zum Herrschaftserhalt, dafür plädiert, den Rassismus vor allem aus ihren dysfunktionalen Erscheinungen heraus als einen Exzess des Nationalismus in Zeiten der Krise zu analysieren. Immer wieder verdrängte Symptome, wie Gewalt vom Staat oder von gewöhnlichen Bürger*innen an Minderheiten, verweisen daher nicht auf Ausnahmeerscheinungen des Rassismus, sondern auf ihren Normalfall. Auch koloniale Zusammenhänge und Geschichten müssen in den Blick genommen werden, wie Dountio hinzufügt. In der Gesellschaft wird ständig ausgeblendet, dass »vor noch nicht einmal hundert Jahren schwarze Menschen in Deutschland und Europa in Käfigen ausgestellt wurden«. Biologistische und kulturelle Rassismen waren und sind tief in philosophische Denksysteme und in die Wissenschaften Europas verwoben. Der Ruf vieler Nationalist*innen und Rechtspopulist*innen nach einem starken Staat und einer wehrhaften Polizei findet ihren Widerhall in den migrantischen Vierteln, mit all ihren eliminatorischen Konsequenzen.

Nach George Floyd

Es ist nicht lange her, dass in Deutschland massenhaft Menschen auf Demonstrationen und Kundgebungen gegen rassistische Polizeigewalt gingen. Im Jahr 2020 wurde in den USA George Floyd vor laufenden Kameras durch die Polizei ermordet. Hinzu kam die neofaschistische Trump-Administration, wie auch die Corona-Pandemie, die die Notlage der unteren Klassen verschärfte. Es ist aber erstaunlich, dass die hiesige Dominanzgesellschaft Rassismus und Polizeigewalt in den USA mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, aber für genauso brutale und rechtswidrige Vorgehensweisen in Deutschland nur wenig Interesse zeigt. Mouhamed Dramé, Amed Ahmad, Adel B., Bilel G., Josef B., Georgios Zantiotis, Achidi John, Yaya Jabbi, Ertekin Ö. und Oury Jalloh sind nur einige der Namen. William Dountio vom Solikreis merkte im Gespräch an, dass er nach den Demos und Kundgebungen für Mouhamed auch an diese Tage gedacht habe. »Ich stellte mir dieselbe Frage, weil ich mehr Teilnehmer*innen erwartet hatte. Kann es sein, dass Amed, Mouhamed oder Oury schon so dehumanisiert waren, dass sich keiner in der Mehrheitsgesellschaft für sie interessierte?« Und er fügt hinzu: »Jeder Mensch mit Migrationsgeschichte ist suspekt in diesem Land. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, du musst nicht etwas gemacht haben, um als Gefahr zu gelten. Wir müssen einfach versuchen, mehr Menschen für dieses Thema zu interessieren und vor allem mit Kindern und Jugendlichen reden.«

Rod William Dountio

ist Mitgründer des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed gegen Polizeigewalt und alle Diskriminierungsformen, Menschenrechtsaktivist und Bildungsreferent für Antirassismus und Kolonialismus. Ihr könnt die Initiative Solidaritätskreis Justice4Mouhamed mit Spenden unterstützen. Infos findet ihr auf der Webseite: justice4mouhamed.org 

Çağan Varol

promoviert im Bereich Stadtpolitik und -soziologie und beschäftigt sich dabei mit der Problematisierung von Migration am Beispiel der Kölner Keupstraße. Er versteht sich als kritischer Rassismusforscher.