O du ausbeuterische
Ob Amazon, DHL oder Lieferando: Die Feiertage der einen sind der extreme Stress der anderen
Von Johannes Tesfai
Süßer die Glocken nie klingen« ist ein bekanntes Weihnachtslied. Dieser Tage klingeln vor allem die Türglocken an den Wohnungstüren. Meist sind es Paketbot*innen von Amazon, DHL und Co. Sie bringen die großen und kleinen Geschenke, die dann einige Tage später unter dem Weihnachtsbaum liegen. Aber auch, wer sich den blinkenden Lichtern der Feiertagsdekoration und den mehr oder minder toxischen Familienanlässen zu Weihnachten entzieht, nutzt gern die arbeitsfreien Tage, um die Jalousien herunterzulassen und die Füße hochzulegen. Wenn während der Feiertage dann auch noch die Restaurants ihre Öffnungszeiten anpassen, bestellen sich viele auch mal Essen, um nicht noch den Kochlöffel schwingen zu müssen. Die warme Mahlzeit bringt dann oft genug ein Lieferdienst wie Lieferando oder Wolt.
Was die Waren- und Essenslieferdienste eint, sind vor allem die unglaublich miesen Arbeitsbedingungen: sehr lange Schichten und niedrige Gehälter, die nicht selten den Mindestlohn unterlaufen. Um Black Friday oder Weihnachten herum können Beschäftigte in Amazon-Lagern nahezu keinen Urlaub nehmen, der Druck, nicht krank zu werden, ist hoch, viele sind durch ihren Aufenthaltsstatus erpressbar.
Die schlechten Arbeitsbedingungen haben System.
Die Paket- und Essenslieferungen wiederum werden in der Regel von Subunternehmen durchgeführt, das produziert ein Wirrwarr an rechtlichen Zuständigkeiten, vor allem was den Arbeitsschutz für die Bot*innen betrifft. Das ist gewollt – große Player entziehen sich so der Verantwortung, allen voran Amazon, aber nicht nur. Jüngst hat das Arbeitsgericht Berlin gegen eine Kurierfahrerin entschieden, die den Lieferdienst Wolt auf nicht ausbezahlte Löhne verklagt hatte. Das Gericht war überzeugt, dass der Subunternehmer zuständig sei. Der war aber nicht auffindbar.
Die schlechten Arbeitsbedingungen haben System. Recherchen der Journalistin Nina Scholz in der taz haben gezeigt, dass in Berlin mittlerweile vor allem indische Studierende Essen ausliefern. Angelockt durch Studienplätze an fragwürdigen Hochschulen zahlen sie horrende Mieten für schlechte Wohnungen. Zudem verlangen die Subunternehmer der Lieferdienste von ihnen Vermittlungsgebühren, damit sie überhaupt arbeiten dürfen. Weil die Visa der Studierenden von einem regelmäßigen Einkommen und einer Meldeadresse abhängen, haben die Chefs der Lieferdienste große Macht über sie. Trotzdem leisten die Arbeiter*innen Widerstand. Im Januar dieses Jahres streikten mehr als 700 Fahrer*innen von Wolt in Berlin. Einer der Subunternehmer schickte ihnen einen Schlägertrupp auf den Hals.
Amazon, Lieferando und Co. galten lange als innovativ, ihr Geschäft ist aber die Überausbeutung migrantischer Arbeiter*innen. Dass das Ausliefern eben keine Orchideentätigkeit ist, deren Abläufe sich dem modernen Arbeitsrecht entziehen, wie der einsame Schäfer mit seinem Hütehund auf den Wiesen der Rhön, darüber täuschen eine schicke App und das verworrene Subunternehmertum kaum noch hinweg.
Das Problem ist indes viel älter: Migrantische Arbeit, vor allem in Wachstumsbranchen, war und ist einer aggressiven Ausbeutung ausgesetzt. Das zeigt nicht zuletzt die Geschichte der sogenannten Gastarbeit in der deutschen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die türkeistämmigen Kolleg*innen oft genug die gefährlichen und schlecht bezahlten Jobs machen mussten, aber auch die periodisch auftretenden Booms in der deutschen Baubranche. Manche der migrantischen Arbeiter*innen bezahl(t)en die Arbeitsbedingungen dort mit ihrem Leben.
Weihnachten ist bekanntlich die Zeit des Gebens, in Pantoffeln an der heimischen Wohnungstür aber wohl auch des Nehmens. Dennoch wäre es falsch, dem Bestellen von Essen und zweitklassigen Geschenken abzuschwören, um einem festlichen Harmoniebedürfnis zu folgen und das linke Gewissen zu beruhigen. Individueller Verzicht hilft nur gegen das eigene Schuldgefühl in der warmen Bude. Besser ist es, bei der nächsten Streikaktion oder Kundgebung der Logistikzentrums- oder Lieferarbeiter*innen mit auf die Straße zu gehen – und so die Solidarität zum Klingen zu bringen.