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|ak 695 | Geschichte

Die Gastarbeiter *innen unter Kontrolle kriegen

Nach dem Fordstreik setzte der deutsche Staat in den 1970 Jahren auf Repression   

Von Çağan Varol und Berena Yogarajah

Auf einem farblich verfremdeten Foto ist zu sehen, wie migrantische Arbeiter an den Werktoren von Ford 1973 protestieren. Sie halten ein Schild mit der Aufschrift "1 DM mehr für alle" in die Höhe
Dass migrantischen Arbeiter*innen faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen fordern würden, war im Anwerbeabkommen der Bundesregierung mit der Türkei von 1961 nicht vorgesehen. Grafik: ak

Sechs Tage dauerte der wilde Streik beim Autohersteller Ford in Köln vor fünfzig Jahren. Im August 1973 waren es überwiegend türkeistämmige Kollegen, die die Bänder zum Stillstand brachten – kein Zufall, denn das Jahr 1973 markierte auch einen Knotenpunkt der Kämpfe um Teilhabe und gegen Rassismus in Westdeutschland und Europa. Und den Beginn neuer raumpolitischer Strategien und Praxen gegen die Einwanderung, die bis heute fortwirken. 

Zum Fordstreik kursieren verschiedene Mythen: Sowohl die Vorstellung, es sei ein spontaner Streik von Migrant*innen gewesen, als auch die These, linke Spontis hätten die Arbeiter*innen radikalisiert, sind weit verbreitet. Dabei gab es in der Belegschaft monatelange Vorbereitungen auf einen Streik – nach Feierabend und auf Betriebsversammlungen, wo die Forderung nach »60 Pfennig mehr« Stundenlohn formuliert und in den Betriebszeitungen abgedruckt wurde. Zum Streik kam es, als 300 türkeistämmigen Arbeitern nach dem Betriebsurlaub gekündigt wurde, da sie ihren Dienst zu spät antraten. Unter der vornehmlich türkeistämmigen Belegschaft der Endmontage, Y-Halle, entstand am Freitag den 24. August, zunächst ein spontaner Protest gegen die Entlassungen und die Mehrarbeit, die nun die Kollegen leisten sollten. Die Arbeiter demonstrierten durch die Halle, alle Bänder standen still. Wenig später beteiligten sich große Teile der Belegschaften anderer Hallen, insgesamt stellten etwa 10.000 Kolleg*innen die Arbeit ein.

Streikwellen am Ende des Wirtschaftswunders

Bald wurden nicht mehr 60 Pfennig, sondern eine D-Mark mehr Lohn sowie die Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit und die Wiedereinstellung der entlassenen – je nach Quelle – 300 oder 500 Kollegen gefordert. Die Betriebsräte und die lokale IG Metall-Führung unterstützten nur widerwillig den spontanen Protestzug von nunmehr mehreren tausend Arbeiter*innenn, die sich vor dem Sitz der Geschäftsführung einfanden. Sie versuchten die Kolleg*innen wieder zum Arbeiten zu bewegen. Drei Tage später, am Montag, besetzten die migrantischen Streikenden die Y-Halle und stellten weitere Forderungen auf, wie sechs Wochen Urlaub statt vier. Laut dem damaligen Ford-Arbeiter Reiner Schmidt reiht sich der wilde Streik auch in jene Streikwelle ein, die seit den 1960ern über Deutschland hinwegfegte: Streiks migrantischer Arbeiter*innen im Kohlebergbau 1962, der Streik italienischer Arbeiter*innen bei Volkswagen im selben Jahr, Sabotageaktionen bei der »Bremer Hütte« im September 1969, der migrantische Arbeiter*innenstreik in Neuss bei der Firma Pierburg, sowie Werksbesetzungen beim Fordstreik und bei Hella Lippstadt im Sommer 1973 – Proteste, bei denen Migrant*innen als treibende Kraft hervortraten. Sie arbeiteten vor allem in den schlecht entlohnten und gefährlichsten Bereichen der Produktion, im Bergbau und in der Automobilindustrie, wie bei Ford in der Montage, wo etwa 90 Prozent Migrant*innen beschäftigt waren.

In den 1970ern lag das fordistische Regime im Sterben, und in der Übergangsphase vom Keynesianismus zum postfordistischen Neoliberalismus waren große Teile der Arbeiter*innenschaft von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen, die migrantischen Arbeiter*innen als Folge davon auch von Rückführung in die Heimatländer. Die Wirtschaftswunderjahre waren vorbei. Man brauchte die Gastarbeiter*innen nicht mehr.

Nach einer kurzen Runde des Mitgefühls für die Rebellion der Streikenden schwenkten die Medien um.

Die Bedeutung des Fordstreiks lässt sich gesellschaftlich nicht auf einen Arbeitskampf verkürzen. Nach einer kurzen Runde des Mitgefühls für die Rebellion der Streikenden schwenkten die Medien um, ihr Protest wurde kriminalisiert und die Protestierenden entmenschlicht. Die mediale Reaktion beschreibt der Fordarbeiter und Aktivist Peter Bach gegenüber ak wie folgt: »Zu unserer Überraschung kamen am Montag, das war der 27. August 1973, so Artikel wie ›Unsere armen Gastarbeiter! Sie bauen so schöne Autos und müssen dabei so hart arbeiten und bekommen dafür so wenig Geld‹, und so weiter. Als aber am Dienstag die Forderung ‚ ›260 DM für alle‹ abgelehnt worden war und das Werk besetzt war, da hieß es ›Türkenterror‹, ›Türken verprügeln deutsche Arbeiter‹.«

Rassistische Stimmung

Die rassistische Stimmung spielte auch beim Streik selbst eine Rolle: Der solidarisch mit den Migrant*innen streikende Fritz Funk wurde festgenommen und ins Personalbüro gebracht, während sich draußen deutsche Arbeiter versammelten und Slogans wie »Schlagt sie tot« skandierten. Der Betriebsratsvorsitzende Wilfried Kuckelkorn (SPD) soll zu Funk gesagt haben, er würde diesen gerne der Menge überlassen, aber man lebe ja in einem Rechtsstaat. Am folgenden Donnerstag griffen Polizist*innen (in Zivil und Uniform), Werksschutz sowie rechte Pöbler*innen aus dem Werk die Streikenden an. Aufgrund der anhalten Repression verließen viele Streikende das Werk und kehrten Ford den Rücken.

Schon in den Jahren zuvor muss in den Staatsapparaten allmählich klar geworden sein, dass Migrant*innen sich nicht so einfach regieren oder wieder abschieben lassen. Der von der Bundesregierung am 23. November 1973 bei einem Stand von circa vier Millionen Migrant*innen verhängte Anwerbestopp für Gastarbeiter*innen kam nicht überraschend. Der Bundesarbeitsminister wies auf die Ölpreiskrise hin, um den Stopp als ökonomische Präventivmaßnahme zu legitimieren. Da dieser im Nachgang zu den wilden Streiks des Jahres 1973 verhängt wurde, kursierte auch die Erzählung, dass die migrantischen Kämpfe damit zu tun haben könnten.

Die migrantischen Arbeitskämpfe wie auch die Ölkrise waren aber nur Vorwände. Das Ende der Anwerbevereinbarungen und die Rückführung der »Gastarbeiter*innen« wurden schon länger und europaweit diskutiert. Historiker*innen weisen darauf hin, dass der legitimatorische Bezug auf die Ölkrise für den Anwerbestopp nur der »Schlusspunkt einer jahrelangen Kosten-Nutzen-Diskussion« war, an der die Gewerkschaften und Arbeitgeber*innenverbände intensiv mitwirkten. Schon seit Beginn der 1970er Jahre wurde in vielen Ländern Europas die Anwerbung von Gastarbeiter*innen gestoppt: Im Jahre 1971 untersagte Großbritannien den Zuzug von Commonwealth-Bürger*innen, deren Eltern oder Großeltern nicht in Großbritannien geboren waren. 1972 folgten Schweden und Dänemark, die nur noch Skandinavier*innen für eine Einwanderung zuließen, ein Jahr später Deutschland, Frankreich im Jahr 1974. Das kurzfristige Aufeinanderfolgen der Anwerbestoppmaßnahmen zeigt: Es handelte sich um eine gesamteuropäische Antimigrationsstrategie.

Die Zahl der Migrant*innen nahm durch die Familienzusammenführungen im Laufe der 1970er Jahre dennoch weiter zu. Die soziale Ungleichheit produzierte sich auch darüber, dass die Gastarbeiter*innen meist in unsanierten, dem Abriss überlassenen Wohngebieten leben mussten, in die die Eigentümer*innen nicht mehr investierten, was den gesellschaftlichen Wert der Gastarbeiter*innen für die europäischen Regierungen zum Ausdruck brachte. Viele Wohnungsfirmen führten Migrant*innenquoten ein. Die Ansprüche änderten sich mit den Familienzusammenführungen, da die Gastarbeiter*innen weniger mobil wurden, bessere Wohnungen verlangten und Schulen für ihre Kinder beanspruchten. Deutsche Arbeiter*innenfamilien zogen in bessere Viertel, wenn sie konnten, migrantische Familien blieben, weil sie mussten. In offiziellen Papieren der Regierung war bald von »Ghettos« die Rede.

Das Fehlen von gutem und bezahlbarem Wohnraum war ein europaweites Problem, das insbesondere an Gastarbeiter*innen weitergereicht wurde. In Frankreich errichteten Migrant*innen aus der Not heraus eigene Viertel aus Blech und Holz an den Rändern der Städte (bidonvilles), von denen es 1970 allein im Großraum Paris etwa 113 gab, in denen insgesamt 46.000 Menschen hausten. In Birmingham galten auf kommunaler Ebene ab 1969 Zuzugssperren, in denen sich die ablehnende Haltung von weißen Mietparteien gegenüber Schwarzen Menschen widerspiegelte und mittels derer die Minderheitenanteile reduziert werden sollten. Auch in Rotterdam wurden solche Sperren eingesetzt. Nach 1975 kam die Zuzugssperre in Deutschland zur Anwendung. Da die »Türken-Sperre«, wie sie in der Presse genannt wurde, jedoch fast überall wirkungslos blieb, wurde sie vielerorts wieder abgeschafft. Die einzige Ausnahme bildete Berlin, dort bliebt die Zuzugssperre bis zur Wende 1989/90 erhalten.

50 Jahre Widerstand

Wenngleich die rechtliche Regelung kippte, verbreiteten sich rassistische Strategien und Narrative, wie die Rede von einer »kulturellen Abschottung« unter Migrant*innen und biologistische Drohszenarien wie die angebliche »Überfremdung«, die ein baldiges Aussterben der Deutschen an die Wand malten: Um die These des Bevölkerungsaustauschs zu untermauern, wurden die Geburtenzahlen bei Gastarbeiter*innen mit denen der Deutschen verglichen. In einem Kölner Zeitungsartikel von 1976 wurde das Bundesarbeitsministerium damit zitiert, dass 45 Prozent der verheirateten Gastarbeiter*innen ihre Familien in den Herkunftsländern zurückgelassen hätten, so dass 1,4 Millionen zu den bisherigen vier Millionen hinzuzurechnen seien, die ungehindert einreisen dürften. Die Presse goss weiter Öl ins Feuer. Mitgerechnet werden müssten noch die ausländischen Jugendlichen im heiratsfähigen Alter, durch die in den nächsten zehn Jahren eine Million »Ausländer« per Geburt hinzukommen würden. Es würde eine »Zeitbombe« in den Ballungsgebieten ticken. Ein demographisches Dispositiv wurde installiert und mit völkisch-rassistischen Fruchtbarkeitsmythen untermauert, das bis heute fortwirkt.

Ohne die migrantischen Kämpfe und Widerstände, deren Symbol der Fordstreik in Köln war, sind das aktuelle Narrativ der Migration als unberechenbare, nicht-regierbare Kraft und die misstrauische Beobachtung migrantischer Räume nicht zu verstehen. 50 Jahre Fordstreik sind auch 50 Jahre migrantische Widerstände. 50 Jahre nach dem Anwerbestopp steht für die Dominanzgesellschaft immer noch die Frage nach der Regierbarkeit der Migration im Raum.

Die Bedeutung des Fordstreiks wird vor diesem Hintergrund in der linken Debatte immer noch unterschätzt, denn er war das Abbild einer hegemonialen Krise im Staat und der Anwerbestopp von 1973 Ausdruck der autoritären Bearbeitung dieser Krise, deren migrationspolitische Folgen für die nachfolgenden Generationen bis heute spürbar sind.

Çağan Varol

promoviert im Bereich Stadtpolitik und -soziologie und beschäftigt sich dabei mit der Problematisierung von Migration am Beispiel der Kölner Keupstraße. Er versteht sich als kritischer Rassismusforscher.

Berena Yogarajah

ist aktiv in antirassistischen Kämpfen. Derzeit arbeitet sie zum Begriff der »Sicherheit« als Instrument zur Durchsetzung der herrschenden Ordnung und Ungleichheitsproduzent.

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