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|ak 696 | Diskussion

Die Linke im Krieg mit sich selbst

Ein Zwischenruf in die bisherige Debatte über die russische Invasion in der Ukraine

Von Simon Konstantinow und Anna Ortakova

Eine vergilbte Schwarzweißpostkarte, auf der mehrere Fotos eines älteren Hauses und eine Alpenlandschaft zu sehen sind, außerdem eine gestempelte Schweizer Briefmarke und die Aufschrift "Gruß aus Zimmerwald"
Last Exit Zimmerwald? Postkarte des Hotels Beau Séjour in ebenjenem Schweizer Örtchen, wo 1915 die Zimmerwalder Konferenz der in Opposition zum Krieg stehenden Sozialist*innen Europas stattfand. Foto: gemeinfrei

Die Debatte über den Ukraine-Konflikt wird in ak schon länger geführt. Nachdem die Befürworter*innen der militärischen Unterstützung der Ukraine und die für eine neue Friedensbewegung plädierenden Kritiker*innen Argumente ausgetauscht haben, wollen wir auf Defizite der Positionen hinweisen.

In ak 694 antwortete Christoph Kleine auf einen zwei Ausgaben zuvor erschienen Artikel »Der Krieg, die Linke und wir« und erklärt den Sieg der Ukraine zu einem linken Anliegen. (1) Obwohl er Menschen vor Ort explizit »nicht homogenisieren« möchte, macht er im Text genau das, indem er die Forderung nach militärischer Unterstützung des ukrainischen Staates als von »den Betroffenen« aufgestellt und damit unhinterfragbar darstellt.

Das Argument »so wollen es aber die Linken dort« ist weder ein guter Ersatz für die materialistische Analyse der Kriegsziele noch faktisch aufrechtzuerhalten. Aktivist*innen der Arbeiterfront der Ukraine (RFU), der Charkower Assambleja, sowie russische Kriegsgegner*innen, vertreten durch Organisationen wie die Union der Marxisten (Telegram: t.me/s/marx_union), die Organisation der Kommunisten-Internationalisten oder die Konföderation der revolutionären Anarchosyndikalisten, sind nur einige Beispiele für radikale Linke in den Krieg führenden Ländern, die sich deutlich gegen beide Seite positionieren. Sie tun dies nicht auf einer pazifistischen Grundlage, sondern ausgehend von ihrer Kritik des bürgerlichen Staates. (2) Wäre es nicht nötig, zumindest auf diese Argumente einzugehen, anstatt Kriegsgegnerschaft als unzeitgemäßen Spleen der deutschen »Sofa-Linken« abzutun? Fordern zum Beispiel die russischen Kriegsgegner*innen etwa nicht die Entmachtung Putins bei gleichzeitiger Ablehnung der Pläne des Westens bezüglich der Ukraine? Gibt es in der Ukraine wirklich nur »Vaterlandsverteidiger«-Linke?

Linke Denkfehler

Eine informierte Position zum Krieg kann nicht unabhängig von der Analyse der Ziele der Kriegsparteien zustande kommen. Die Grausamkeit der russischen Truppen im Umgang mit der Zivilbevölkerung entsetzt uns alle. Es ist jedoch kein Selbstzweck der russischen Invasion, Zivilist*innen zu töten oder deren Haushaltsgeräte zu plündern. Noch sind die Kriegsgründe in Putins individualpsychologischer Verfassung zu suchen. Christoph Kleine hat aber schon die »Scholz’sche Zeitenwende« vollzogen und möchte nicht nur das hohe Gut der staatlichen Souveränität der Ukraine verteidigen, sondern ist auch sauer auf diejenigen, die an einem »Sieg« der Ukraine zweifeln.

Die Ziele des ukrainischen Staates, sein Gewaltmonopol wiederherzustellen und sich für den Weltmarkt zu reformieren, sollen Linke nun also in ihr Programm übernehmen. Dabei wird das »eigene« Staatenbündnis – Nato, EU und »westliche Demokratie« – standardmäßig als das geringere Übel angenommen, worin wir einen fatalen Denkfehler sehen. Es könnte auffallen, dass die vom Westen diktierten Maßnahmen eher selten die Staaten der Peripherie auf das Lebensniveau z.B. der Bundesrepublik heben.

Die Idee der Selbstbestimmung des Individuums und das Ideal nationaler Selbstbestimmung in einem Atemzug zu nennen, ist ein Widerspruch. Kein Staat macht die Durchsetzung seiner Souveränität zum Gegenstand demokratischer Abstimmungen.

Wir halten nichts von Argumenten wie »Russland wurde provoziert und konnte nicht anders«. Ebenso halten wir aber nichts von der These, niemand hätte Russland etwas Böses gewollt, weil die westlichen Staaten dort Rohstoffe eingekauft und Fertigwaren verkauft haben. Kapitalistischer Handel ist kein Gegensatz zu wirtschaftlicher Konkurrenz und daraus resultierender politischer Feindschaft. Im Gegenteil: Handel ist integraler Bestandteil wirtschaftlicher Konkurrenz und Krieg nur die Fortsetzung kapitalistischer Konkurrenz mit anderen Mitteln. Auch wenn einzelne Akteure (wie Deutschland) kurzfristig durch den Wegfall günstiger Energie aus Russland Nachteile haben, profitiert das westliche Staatenbündnis (USA und Europa) insgesamt von einer Eindämmung des russischen Einflusses. Die russische Staatsführung hingegen ist gründlich unzufrieden mit dem Status Russlands als Tankstelle der westlichen Industrie und befürchtet den weiteren Abstieg in der globalen Rangordnung.

Einen weiteren fatalen Denkfehler sehen wir darin, nicht zwischen der ukrainische Bevölkerung und dem Staat zu unterscheiden und stattdessen die Nation insgesamt als Opfer des Krieges zu sehen. Ohne zu begreifen, dass der ukrainische Staat die Bevölkerung nur dadurch »schützt«, dass er sie, von allen Interessenunterschieden abstrahierend, in den Kampf schickt – damit eben die Bevölkerung den Staat mit ihrem Leben schützt. Wenn der ukrainische Staat die Unterschiede zwischen den Klassen in der Stunde der nationalen Not für irrelevant erklärt, so sollten Linke sich dem nicht anschließen. Auch das Leiden der Zivilist*innen für den Kampf für staatliche Souveränität zu instrumentalisieren, würden wir gerne den Kriegspropagandist*innen der bürgerlichen Medien überlassen.

Da hilft auch nicht das Übersetzen dieser Gedanken in linken Jargon. Nein, in einem Staat, der alle seine männlichen Bürger für den Krieg mobilisiert, entscheiden nicht »die Kämpfenden« über die Dauer und Bedingungen »ihres« Kampfes! Es steht unter mindestens mehrjähriger Haftstrafe, nicht mitmachen zu wollen oder andere davon zu überzeugen. (3)

Für Selbstbestimmung und Selbstverteidigung?

Nachdem Versuche materialistischer Analysen im Namen der Betroffenheit verworfen wurden, bleibt noch die Idee der Selbstbestimmung des Individuums – und daneben das Ideal nationaler Selbstbestimmung. Dass das ein Widerspruch ist, scheint nicht aufzufallen. So wird etwa gleichzeitig die Solidarität mit Deserteuren gefordert, wobei doch eben jenem Staat, der sie zum Töten und Sterben zwingt, mehr Kriegsgerät geliefert werden soll. Es ist nicht nur weltfremd, sondern auch zynisch, den Sieg der Ukraine und gleichzeitig Hilfe für Deserteure zu fordern. Kein Staat macht die Durchsetzung seiner Souveränität zum Gegenstand demokratischer Abstimmungen, und schon gar nicht bedarf es der Zustimmung von jedem Soldaten an der Front und von jeder Person, deren Wohnort zufällig zum Kriegsgebiet wird. Die Bilder von Ausreiseverweigerungen an der ukrainischen Grenze zeugen davon, dass keineswegs alle freiwillig an der Front sind. Die 650.000 ukrainischen Männer im wehrfähigen Alter, die in der EU (sowie Norwegen, der Schweiz und Liechtenstein) Schutz gesucht haben, sprechen ebenfalls für sich. Nach innen wahrt die EU ein menschliches Antlitz, während sie nach außen die Kriegsindustrie befeuert.

Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass die nationale Mobilisierung in der Ukraine Früchte trägt. Für Linke sollte das kein Grund zum Feiern sein. Dass die Ablehnung von Putin zur Parteinahme für diesen ukrainischen Staat wird, ist kein Automatismus, sondern eine politische Entscheidung. Wie alle politischen Entscheidungen kann sie auch kritisiert werden.

Für die linke Debatte über den Krieg in der Ukraine wäre eine Analyse hilfreich, welche ideologischen Implikationen in den jeweiligen linken Positionen aufscheinen. Was trägt es zum Beispiel zu Ingar Soltys Analyse, wie er sie etwa im Streitgespräch mit Jan Ole Arps in ak 695 vertritt, bei, festzustellen, der russische Angriff sei »völkerrechtswidrig«? Sollte es uns wirklich interessieren, ob die Scheußlichkeiten, die jetzt passieren, mit den Regeln, die imperialistische Staaten sich und dem Rest der Welt verordnet haben, konform gehen? Wäre jemand für die Invasion, wenn sie nicht völkerrechtswidrig wäre? Ist für Linke wirklich entscheidend, welches von den Staatenbündnissen, die einander permanent im Sinne kapitalistischer Konkurrenz auf verschiedene Weise schädigen, »angefangen« hat? Ist der Kampf zwischen der Ukraine und Russland ein Kampf zwischen einem demokratischen und einem diktatorischen Herrschaftsmodell? Folgt daraus Parteinahme für die Ukraine? Und wäre das dann eine Faustregel auch für andere Konflikte? Hätte man 1914 das demokratische Belgien als Opfer der Aggression des deutschen Kaisers verteidigen müssen? Oder die Errungenschaften der deutschen Sozialdemokratie gegen die zaristische Tyrannei?

Weder Christoph Kleine, noch der in milderer Form ähnlich argumentierende Jan Ole Arps (ebenfalls ak 695) können schlüssig erklären, was an den Zielen des ukrainischen Staates unterstützenswert sei. Die Apologie der Ukraine aus der Bösartigkeit Putins heraus, der laut Kleine kein zuverlässiger Vertragspartner sei, ist eine abenteuerliche Angelegenheit. Wir kennen diese Art von Argumentation bereits von den »linken« Kriegsbefürworter*innen der russischen Seite: Der Nato kann man nicht trauen, die wird uns eh angreifen, also muss der Krieg gewonnen werden, koste es was es wolle, erzählt etwa die Spitze der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) immer wieder.

Eine neue Zimmerwalder Linke

Ingar Solty wendet sich gegen Waffenlieferungen und setzt dabei perspektivisch darauf, dass die Linke Druck auf ihre jeweiligen Staaten ausübt, Friedensvorschläge aus China oder Brasilien anzunehmen. (ak 695) Dagegen möchte Arps eine starke internationale Bewegung entfachen, ohne auf Waffenlieferungen an die Ukraine zu verzichten. Wir müssen feststellen, dass in beiden Varianten der bürgerliche Staat für die (Teil-)Umsetzung der linken Ziele zuständig erklärt wird.

Friedensvorschläge aus »Brasilien, Afrika oder China« anzunehmen, wie es Solty fordert, würde zwar akut den Kriegsherd löschen, aber sicherlich nicht »dauerhaft eine neue Blockkonfrontation« verhindern. Weder führt Putin diesen Krieg aus Größenwahn, noch sind jene Staatsoberhäupter, die derzeit einen Waffenstillstand fordern, Friedensbringer. Es handelt sich um mehr oder weniger einflussreiche kapitalistische Nationen, die eigene Interessen vertreten und, wie im Fall Chinas, nur dank eigener Aufrüstung als »Friedensmacht« auftreten können. Wir müssen uns daher im Klaren sein, dass ein solcher Frieden nicht dauerhaft sein wird, sondern lediglich ein kurzer Aufschub bis zu den nächsten Kriegen.

Was kann dann eine reale und sinnvolle Perspektive für linke Kräfte in Bezug auf diesen Krieg sein? Diese Frage ist schwierig zu beantworten, zumal die Linke in Europa derzeit zusätzlich zu ihrer ideologischen Verwirrung äußert fragmentiert und schwach ist. Auf jeden Fall ist Arps dahingehend zuzustimmen, dass es eine unabhängige Antikriegsbewegung bzw. Revolution bräuchte, um nicht nur diesen Krieg zu überwinden, sondern durch eine Systemänderung auch weitere zu verhindern. Eine solche Antikriegsbewegung sollte nicht auf bestehende Illusionen in »China als Friedensbringer« oder ein »Deutschland, das eigentlich nur friedlich mit Russland Handel treiben wollte«, hereinfallen.

Angesichts dessen, dass wir selbst von Ansätzen einer solchen Antikriegsbewegung in Europa weit entfernt sind, wäre auch ein Erzwingen der Annahme chinesischer (oder türkischer, brasilianischer etc.) Verhandlungsangebote durch die Antikriegsbewegung bereits ein zu begrüßender Schritt. In Anbetracht dessen, dass Bestrebungen in diese Richtung gegen Null tendieren, scheint uns die Perspektive einer Neusortierung und Umorientierung der internationalen Linken wahrscheinlicher als das von Solty heraufbeschworene Setzen auf den Friedenswillen Chinas. Aus diesem Grund ist es an der Zeit für eine neue »Zimmerwalder Linke« (4), die sowohl in diesem Krieg als auch in den kommenden Kriegen konsequent auf der Seite des Proletariats aller Länder steht und sich nicht für bürgerliche Ideen verblenden und für nationalistische Zwecke vereinnahmen lässt.

Simon Konstantinow

schreibt über die Lebenden und die Toten in Ost und West.

Anmerkungen:

1) Die Argumentation deckt sich weitgehend mit der im bereits ein Jahr zuvor erschienenen »Für einen solidarischen Antiimperialismus« (ak 684).

2) Nachzulesen sind zentrale Beiträge der russischen Gruppen etwa in: Ewgeniy Kasakow: Spezialoperation und Frieden? Die russische Linke gegen den Krieg, Unrast Verlag 2023. Die Position antimilitaristischer Linker aus der Ukraine ist beispielhaft im Interview »How do communists in Russia and Ukraine fight against imperialism and war?«, unter anderem mit der Revolutionären Front der Ukraine, nachzuhören. Auf Youtube unter www.youtube.com/watch?v=B0gUIwWAno4.

3) Gemäß STGB der Ukraine § 408 folgen auf Desertion bzw. eigenmächtige Entfernung vom Schlachtfeld fünf bis zwölf Jahre Haft, auf Wehrdienstverweigerung gemäß § 355 drei bis fünf Jahre Haft.

4) Die »Zimmerwalder Konferenz« fand im September 1915 im Schweizer Ort Zimmerwald statt. Hier trafen sich klandestin 37 oppositionelle Mitglieder verschiedener sozialistischer Parteien Europas, um sich auf Basis ihrer Kriegsgegnerschaft international neu zu formieren, sie verabschiedeten das »Zimmerwalder Manifest«. Die Zimmerwalder Linke war die Minderheitenfraktion um Lenin, der den Weltkrieg in einen revolutionären Weltbürgerkrieg verwandeln wollte.

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