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|ak 694 | Diskussion

Das schwarze Loch der Solidarität

Die Internationalismus AG der Interventionistischen Linken hat in ak Thesen für eine linke Antikriegspraxis formuliert – an ihrer Argumentation ist fast alles falsch. Ein Widerspruch aus der IL

Von Christoph Kleine

Iin den Mond im Nachthimmel ist verpielt eine Faust reinillustriert
Hat der Krieg in der Ukraine die linke Empathie mit den Angegriffenen und die internationale Solidarität verschluckt? Foto: Adaption eines Bildes von Humbe / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Das »schwarze Loch« der Logik des Krieges, das am Anfang des Artikels »Der Krieg, die Linke und wir« (ak 692) als Bild bemüht wird, scheint bei den Verfasser*innen nicht nur die analytische Klarheit, sondern vor allem die Empathie mit den Angegriffenen der russischen Aggression und jegliche internationale Solidarität verschluckt zu haben. Das Problem dabei ist nicht, eine linke Position zu suchen, die sich »dem Lagerdenken widersetzt«, die »Ursachen des Konflikts« verstehen oder eine neue »Antikriegspraxis« entwickeln zu wollen, sondern wie wenig dieser Anspruch eingelöst wird.

Das Ärgerlichste kommt gleich am Anfang. Anstatt die furchtbare Lage und das politische Dilemma für alle emanzipatorischen Linken in der Ukraine anzuerkennen, dass angesichts der Invasion, der Massaker und der Brutalität des russischen Besatzungsregimes der Kampf gegen den Nationalismus und den Neoliberalismus nicht mit gleicher Kraft weitergeführt werden kann, weil die gemeinsame Verteidigung der Ukraine Priorität haben muss, wird den Genoss*innen vom deutschen Sofa aus erklärt, sie würden »den Klassenkampf in Form der Nation aufheben«, und als Gipfel der Anmaßung dann noch, sie würden damit »andere Kämpfe um Befreiung (verunmöglichen)«. Zwar haben die Genoss*innen in der Ukraine trotz der schwierigen Situation den innenpolitischen Kampf gar nicht aufgegeben, aber hier geht es auch nur um eine rhetorische Figur, um sich mit der ukrainischen Linken nicht weiter auseinandersetzen zu müssen.

Auch die deutliche Positionierung russischer Kriegsgegner*innen, die den vollständigen Rückzug der russischen Invasionstruppen aus der Ukraine fordern und einem großen Teil der Linken im Westen vorwerfen, »das Wesen dieses Krieges« und die inneren Motive des russischen Imperialismus nicht zu verstehen, wird lapidar vom Tisch gewischt: Das sei zwar nachvollziehbar, aber »unser Einsatz hier in Deutschland muss ein anderer sein.« Im nachfolgenden Satz wird die ganze Fragwürdigkeit der Argumentation deutlich, wenn es heißt »Wir müssen uns die Frage stellen, was eine Alternative zu einem langandauernden Abnutzungs- und Stellungskrieg ist.« Semantisch kann sich dieses »wir« nur auf die deutsche Linke beziehen.

Aber warum sind »wir« stärker zur Suche nach Alternativen aufgerufen als die Hauptbetroffenen, die entweder, wie die ukrainischen Genoss*innen, in dem überfallenen Land leben oder aus ihm fliehen mussten oder, wie die russischen Genoss*innen, in akuter Gefahr stehen, als Kanonenfutter für einen ungerechten Krieg an die Front geschickt zu werden? Ganz nebenbei wird mit dem Begriff des »langandauernden Abnutzungs- und Stellungskriegs« noch die Kreml-Erzählung eingewoben, dass der Widerstand der Ukraine ohnehin aussichtslos sei. Dabei ist auch der Vorschlag von (inhaltlich unbestimmten) Verhandlungen nur deshalb möglich, weil es durch den militärischen Widerstand überhaupt noch eine souveräne Ukraine gibt.

Linkes Okay für Besatzung?

Die politische Perspektive für die Ukraine lautet für diese Form des »Antimilitarismus«: sofortiger Waffenstillstand und »Einfrieren«, was angesichts des Verzichts auf die Forderung nach dem Rückzug der russischen Armee nichts anderes heißt als: Hinnahme der russischen Besatzung von etwa 20 Prozent der Ukraine, inklusive der Unterdrückung und der Massaker, die in den besetzten und annektierten Gebieten geschehen. Erreicht werden soll dies – nachdem den ukrainischen Genoss*innen im gleichen Text »hilflose Bitten« an ihre Regierung vorgeworfen wurden – ausgerechnet durch die Forderung an die Bundesregierung, sich für einen Waffenstillstand einzusetzen und die »Friedensinitiativen« aus Brasilien und der Volksrepublik China zu unterstützen.

Dieser moralische Pazifismus unter der Parole »Hauptsache das Sterben hört auf« ist, gerade aus dem Munde radikaler Linker, unglaubwürdig.

Dieser moralische Pazifismus unter der Parole »Hauptsache das Sterben hört auf« ist – gerade aus dem Munde radikaler Linker – ebenso überraschend wie unglaubwürdig. Die Geschichte der Linken ist voll von aussichtslosen Kämpfen, deren Andenken wir dennoch hochhalten. Vom antiken Spartakus über die Bauernkriege, die Pariser Kommune bis zum Spanischen Bürgerkrieg, um nur einige Beispiele zu nennen. Der linksradikale Einsatz lautete stets: »Rebellion und Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind gerechtfertigt.« Natürlich kann es den Punkt geben, an dem weitere Opfer sinnlos sind, an denen Kompromiss oder Rückzug die bessere Option ist. Darüber haben aber in linker Perspektive die Kämpfenden selbst zu entscheiden.

Nun ist der Einwand berechtigt, dass es sich bei der Selbstbehauptung der Ukrainer*innen gegen die russische Invasion nicht um ein linkes oder fortschrittliches Projekt handelt, sondern »nur« um die Verteidigung einer unvollständigen, korrupten bürgerlichen Demokratie gegen die Herrschaftsansprüche des mächtigen Nachbarn. Die Ukraine organisiert ihre Verteidigung so, wie (nicht nur) bürgerliche Staaten es tun: mit Wehrpflicht, Zwang und militärischer Hierarchie. Das können radikale Linke nicht gut finden, weshalb unsere Solidarität den kämpfenden Genoss*innen und den Kriegsdienstverweigerern gleichermaßen gehören muss. Hieraus kann aber nicht folgen, dass die fundamentalen Unterschiede zwischen Aggression und Verteidigung oder zwischen unvollständiger Demokratie und autoritärer Diktatur durch das Gerede von den »beiden Seiten« verwischt werden.

Wer über Verhandlungen entscheidet (und wer nicht)

Aber wenn uns die ukrainischen Genoss*innen bitten, wenigstens keine Kampagnen dagegen zu starten, dass die für die Verteidigung der Ukraine und die Rückeroberung der okkupierten Gebiete notwendigen Waffen geliefert werden, dann braucht es schon mehr als verallgemeinernde Sätze über Nationalismus und Krieg, um diese Bitte in den Wind zu schlagen. Dass diese Waffenlieferungen den Krieg verlängern, mag sein oder mag nicht sein. Sicher ist aber, soweit sollten wir uns bei allem Antimilitarismus ehrlich machen, dass ohne die westlichen Waffenlieferungen der Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach bereits beendet und in Kyiv ein Marionettenregime von Putins Gnaden installiert wäre.

Ob eine solche Kapitulation der Fortsetzung des Krieges vorzuziehen wäre, hat nicht die westliche Linke zu entscheiden, sondern die Menschen vor Ort. Das Gleiche gilt für alle denkbaren Kompromisse und Verhandlungslösungen, auch wenn für diese auf der Seite des Aggressors gegenwärtig keine Bereitschaft zu erkennen und angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre auch keine Vertragstreue zu erwarten ist.

Natürlich ist die Bevölkerung in der Ukraine – trotz des durch den Überfall weiter angeheizten Nationalismus – keine homogene Einheit. Gerade Linke sollten sich hüten, die Politik und die Verlautbarungen einer Regierung mit der mehrheitlichen Position der Bevölkerung zu verwechseln. Genau deswegen ist es so wichtig, dass wir mit der Vielfalt unserer Genoss*innen, den Sozialist*innen, Anarchist*innen, Feminist*innen in der Ukraine wie auch in Russland ins Gespräch kommen, dass wir ihren Einschätzungen und Forderungen zuhören, dass wir sie fragen, welche Unterstützung sie benötigen. Dann verpassen wir auch den Zeitpunkt nicht, an dem der Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung möglicherweise in die Haltung Frieden um fast jeden Preis umschlägt, auch wenn das gegenwärtig nicht der Fall zu sein scheint.

In linken Debatten wird die Forderung zuzuhören gern polemisch verdreht, als ginge es nicht um einen solidarischen Dialog auf Augenhöhe, sondern darum, sich die eigene Haltung von außen vorschreiben zu lassen. Heute geht es zunächst darum, die Sprachlosigkeit zwischen der westlichen Linken und der Linken im postsowjetischen Raum zu überwinden, was im Jahr 34 nach 1989 immer noch eine riesige Baustelle ist, auf der kaum gearbeitet wird.

Antimilitarismus und deutsche Zeitenwende

Aber reden wir über Deutschland, die Interessen des deutschen Kapitals und über die »Zeitenwende«. Die Strategie eigentlich aller Bundesregierungen nach 1989 war nicht auf »Einkreisung« oder Zurückdrängung gerichtet, sondern sah in Russland einen verlässlichen Lieferanten günstiger fossiler Energieträger und einen lukrativen Absatzmarkt für deutsche Industrieprodukte. Dieser Partnerschaft taten die blutigen Kriege und Invasionen Russlands in Tschetschenien und Georgien, die Annexion der Krim 2014 und die Etablierung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk keinen Abbruch. Auch die Bombardierung der Zivilbevölkerung im syrischen Bürgerkrieg, in dem die russische Armee bis heute den Diktator Assad unterstützt, störten die guten Geschäfte nicht.

Nun nutzt Deutschland den russischen Angriffskrieg für ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Das 100-Milliarden-Sondervermögen und die massive Erhöhung der Militärausgaben haben mit der Verteidigung der Ukraine kaum etwas zu tun. Diese Aufrüstung sorgt einerseits für riesige Extraprofite der Rüstungskonzerne und erhöht gleichzeitig die Möglichkeiten der BRD für eine eigenständige militärische Interessenverfolgung. Gleichzeitig fehlen diese Ressourcen beim Klimaschutz oder bei der Bildung. Für die Finanzierung werden letztlich nicht die Reichen, sondern die werktätige Bevölkerung herangezogen, während die Rüstung gleichzeitig eine perfekte Ausrede für die Beschränkung von Sozialleistungen liefert. Die immer wieder aufflammende Diskussion um eine »allgemeine Dienstpflicht«, also einen Wehrdienst für die einen und verpflichtende unterbezahlte Arbeit für die anderen, markiert einen weiteren drohenden Schritt in der Militarisierung des deutschen Staats und der deutschen Gesellschaft.

Gegen diese Aufrüstung, gegen die Militarisierung und gegen die fortwährende Kumpanei mit allerlei Diktatoren und Autokraten (die nun nicht mehr Putin, aber z.B. immer noch Erdoğan heißen) ist linker Protest und Widerstand dringend vonnöten. Dieser Widerstand kann und muss entwickelt werden ohne Entsolidarisierung mit den Menschen in der Ukraine und ohne die nationalpazifistische und russlandnostalgische Strömung, wie sie sowohl von Wagenknecht/Schwarzer als auch von der AfD repräsentiert wird.

Das politische Spektrum sortiert sich neu

Denn auch in den praktischen Vorschlägen liegen die Verfasser*innen von »Der Krieg, die Linke und wir« falsch. Bei den realexistierenden Überresten der Friedensbewegung hat die Linke nichts mehr zu gewinnen. Diese ist ganz überwiegend Teil der umfassenden Neusortierung der politischen Spektren, die mit dem Begriff »Querfront« nur unzureichend beschrieben wird.

Die radikale Linke muss den Bruch mit dem autoritären Kommunismus des 20. Jahrhunderts endlich vollenden.

An mehreren Fronten kämpfen gegenwärtig die 1980er Jahre gegen die Zukunft. Das betrifft die Frage der Migration und der Forderungen nach offenen Grenzen ebenso wie den Kulturkampf gegen das Gendern, die Ablehnung eines radikal-effektiven Klimaschutzes genauso wie Propaganda gegen Infektionsschutzmaßnahmen und Impfungen. Und eben die fehlende Distanz zu dem Imperialismus, der von Russland ausgeht. Stets geht es um den idealisierten Rückbezug auf die Nachkriegs-BRD, bei manchen auch auf die DDR, in der die gesellschaftlichen Rollen klarer, die Strukturen übersichtlicher und die Lebensentwürfe sicherer zu sein schienen, auch wenn dies nur innerhalb der engen Grenzen des Nationalstaats stattfand, der das Elend der Welt so gut wie möglich draußen hält. Diese Welt gibt es aber nicht mehr, und es wird sie nie wieder geben.

Diese Spaltungslinien treiben die Linkspartei auseinander, und leider haben sie auch ihre Widerspiegelungen in der radikalen Linken. Die neuen Koalitionen, die sich so zwischen Kräften, die sich für links halten, einigen Konservativen, dem Spektrum der Corona-Leugner*innen und offenen Rechten bilden, sind weit mehr als nur ein zynisches strategisches Kalkül: Sie sind Ausdruck von politischen und kulturellen Gemeinsamkeiten.

Die radikale Linke aber muss den 1989 begonnenen Bruch mit dem autoritären Kommunismus des 20. Jahrhunderts endlich vollenden. Sie muss sich verabschieden von der unseligen linken Geopolitik und vom Denken in Blöcken und Einflusssphären. Sie muss aufhören, reaktionäre Diktaturen als »antiimperialistisch« schönzureden, wenn sie nur in Gegnerschaft zu den USA stehen. Der Kommunismus des 21. Jahrhunderts braucht stattdessen einen neuen Internationalismus von unten, die Solidarität mit allen Bewegungen und Menschen, die nach Gleichheit, Selbstbestimmung und Befreiung streben. Dieser Kommunismus des 21. Jahrhunderts wird dezentral, demokratisch, feministisch und radikal ökologisch sein – oder er wird nicht sein. Die Gespenster der 1980er Jahre müssen dafür endlich verjagt werden.

Christoph Kleine

ist aktiv in der Hamburger Ortsgruppe der Interventionistischen Linken.

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