»Krieg ist die größte ökologische Zerstörung«
Nordkurdistan ist energie- und geopolitisch von strategischem Interesse für die Türkei – was bedeutet das angesichts erneuter Friedensverhandlungen?
Von Felicitas Fischer und Sophie Hartmann

Die beiden Autos der 14-köpfigen Gruppe schlängeln sich seit einer Stunde an den kargen Felswänden vor Şirnex (tr. Şırnak) entlang, 40 Kilometer Luftlinie entfernt von der syrischen Grenze. Zwei Straßenkontrollen des türkischen Militärs konnten bereits ungehindert passiert werden. Militärposten zieren hier wie Playmobilburgen jeden zweiten Hügel. Wir halten auf einem Kehrplatz mit gutem Ausblick auf die gegenüberliegende Talseite, wo sich das Cudî-Gebirge auftürmt. Im Talkessel wird die Hügellandschaft von dunkeln, gleichmäßigen Furchen in der Topografie gestört. Ahmed Başak schaut durch ein Fernglas und zeigt darauf: »Diese Mine ist gerade in Betrieb.« Es handelt sich um eine der unzähligen Steinkohleminen rund um die kleine Bergstadt Şirnex. Der pensionierte Postbote und Gewerkschafter fügt hinzu: »Der Cudî-Berg ist bereits durchlöchert, aber noch immer graben sie weiter. Im Gabar-Gebirge werden mittlerweile pro Tag bis zu 82.000 Barrel Erdöl gefördert.« Er zeigt auf eine Rauchschwade hinter der Mine. »Und dort wird Wald gerodet.«
Es ist Mitte März, Başak begleitet uns einen Tag lang durch die Bergregion von Şirnex, auf einer Reise im Rahmen einer Ökologiedelegation aus der Schweiz nach Bakur, also in den nördlichen Teil Kurdistans. Wir wollen uns ein Bild darüber machen, was Umweltaktivist*innen, Politiker*innen und Anwaltsverbände hier ökologische Kriegsführung nennen. Und wir wollen von den Menschen vor Ort erfahren, wie sie sich dagegen in hoffnungsvollen Zeiten neuer Friedensverhandlungen organisieren.
Soweit das Auge reicht
Bakur liegt im wasser- und rohstoffreichen Südosten der Türkei, angrenzend an Syrien und Irak. Die Region ist gezeichnet von mächtigen schneebedeckten Gebirgsketten und weiten Ebenen, durch die sich Euphrat und Tigris träge schlängeln. Sie ist aber auch zunehmend mit Energiegewinnungsinfrastruktur bebaut. Riesige Stauwehre, kilometerlange Stauseen, dutzende Sand- und Kieswerke, Ölraffinerien und Minen – soweit das Auge reicht. Steinkohle und Erdöl werden hier abgebaut, aber auch Kupfer, Chrom und Gold.
Ahmed Başak legt den Feldstecher beiseite. Er trägt die traditionell olivgrüne şal û şapik, um den Hals die kurdische Keffiyeh. So sei er sogar schon im Parlament in Ankara gewesen, erzählt Başak. Sein Sohn lebt seit zehn Jahren in Schweden im Exil, einer seiner Brüder sei noch bei der Guerilla in den Bergen, der andere im Zapgebirge gefallen. Der Abbau von Kohle begann in Şirnex bereits in den 1990er Jahren in Form von Kleinstbetrieben der lokalen Bevölkerung. Viele der Minen sind seither zu Spottpreisen an staatstreue Privatunternehmen oder Großkonzerne verkauft worden. So gehöre die Mine auf der gegenüberliegenden Talseite dem ehemaligen AKP-Politiker Süleyman Bölmez, sagt Başak. Neben der Luft- und Wasserverschmutzung durch den Kohleabbau seien die exzessiven Waldrodungen ein riesiges Problem, besonders angesichts der bereits von immer längeren Trockenperioden vorangetriebenen Bodenerosion. Bergbau braucht Straßen, neue Minen werden frei gesprengt. »Dafür wird Wald gerodet«, erzählt er. Und unter dem Vorwand, die Sicherheit der Minen und Staudämme in der Region zu garantieren, würden immer mehr Militärposten gebaut.
Die Türkei schreibt der Region sowohl energiepolitisch als auch geopolitisch eine strategisch wichtige Rolle zu. Im Vakuum des Machtwechsels und der Neugestaltung Syriens ist Ankara umso mehr erpicht darauf, den Einfluss in der Region auszubauen. »Etwa zwei Drittel der Wasserkraft der Türkei wird in Bakur erzeugt«, bestätigt im Gespräch Ercan Ayboğa die Zusammenhänge von Militarisierung und Energiepolitik. Er ist Umweltingenieur, stellvertretender Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und baut seit 2012 die Ökologiebewegung Mesopotamiens mit auf, eine überregionale Dachorganisation kurdischer Umweltvereine und Aktivist*innen. Waldrodungen seien seit Ende der 2010er Jahren gerade in der Provinz Şirnex sehr verbreitet. Bis 2020 legte das Militär immer wieder Brände. Heute erteile der Staat am Rande der Legalität Lizenzen zur Rodung.
Seit der Jahrtausendwende wird die Region regelrecht zugestaut.
Der Bergbausektor hingegen sei in der gesamten Türkei seit der neoliberalen Wende von 2003 auf dem Vormarsch, wobei er in Bakur noch einen Tick intensiver stattfinde. Das, so Ayboğa, liege daran, dass Bakur eine Kolonie ist und es politischen Widerstand gibt. Gerade in Şirnex übten der Staat sowie Großkonzerne seit zehn Jahren vehement Druck auf lokale Kleinstunternehmen im Bergbausektor aus, ihre Betriebe zu geringen Preisen zu verkaufen. Bei Minen in privatem oder staatsnahem Besitz würden Kontrollmechanismen bezüglich Umweltverträglichkeit einfacher umgangen und lokale Investoren würden sich oftmals zu AKP-Propaganda verpflichten müssen.
Geopolitik mit Wasser
In der Region sind seit einigen Jahren kaum noch Guerillaaktivitäten dokumentiert. Trotzdem scheint in Nordkurdistan noch immer das Militär das Sagen zu haben. Dass in Bakur Militarisierung und Energiepolitik schon länger Hand in Hand gehen, schildert uns auch der Rechtsanwalt Özgür Ulaş Kaplan in einem Teehaus in der alevitisch geprägten Stadt Dêrsim (tr. Tunceli) im Nordwesten Bakurs. Kaplan ist Umweltaktivist und ehemaliger Präsident der regionalen Anwaltskammer. Er hat sich auf Menschenrechte und Umweltfragen spezialisiert. Vor ihm auf dem Tisch liegen farbig markierte Karten der Region. »Seit der Jahrtausendwende wird die Region regelrecht zugestaut«, sagt Kaplan. Er hat ein Verfahren am Hals, weil er sich als Anwalt im Fernsehen zu einem Fall illegaler Brandrodung geäußert hat. In den 1990er Jahren sei die Energiepolitik auch als Vorwand für Sicherheitspolitik benutzt und Talsperren an für die Guerilla strategisch wichtigen Orten geplant worden, erklärt er. Oft konnten die Projekte aber auf Grund der Guerillaaktivitäten nicht umgesetzt werden. Das habe sich in den 2000er Jahren geändert, als die militärischen Auseinandersetzungen erstmals zurückgingen. Damit hat ein regelrechter Bauboom im Energiesektor eingesetzt. So sind heute einem Bericht der türkischen NGO TEMA zufolge in Dêrsim bereits 60 Prozent der Naturschutzgebiete für Minen-Konzessionen freigegeben.
Ähnlich wie bei den Minen wurden damals schon rund um die Stauwehre Militärbasen gebaut. Dies ging wiederum mit der Abholzung von Wald einher. Der eigentliche Grund war aber die sogenannte Terrorbekämpfung, erklärt Kaplan – der Wald diente der Guerilla auch als Versteck. Wie viele Umweltorganisationen und Politiker*innen zählt Kaplan den Bau von Staudämmen, das Fluten ganzer Täler und die Enteignung von Ländereien zur gezielten Zerstörung kurdischen Lebensraums und kurdischer Kultur.
Euphrat und Tigris entspringen in den Bergen Nordkurdistans und tragen auch massgeblich zur Wasserversorgung von Syrien und Irak bei. Mit inzwischen über 100 Staudämmen und Wasserkraftwerken kontrolliert die türkische Wasserbehörde DSI (Devlet Su İşleri) die Wassermengen der Region. Dadurch wird einerseits die nationale Stromversorgung gespeist und andererseits die Wasserzufuhr an die Nachbarstaaten kontrolliert. Ein Drittel der Projekte sind Teil des südostanatolischen gigantischen Infrastrukturprojekts GAP (Güneydoqu Anadolu Projesi). »Das GAP basiert auf kolonialen Staatsfantasien der 1960er Jahre«, erklärt der Anthropologe Mustafa Akçınar aus Dêrsim von der Universität Zürich auf Anfrage, der zu Wasserpolitik in Südostanatolien forscht.
Vor der Fahrt in die Bergregion zu Ahmed Başak, hatte die Delegation in Cizîr (tr. Cizre) im Flachland an der Grenze zu Syrien Halt gemacht und sich mit der regionalen Anwaltskammer Barosu-Şirnex getroffen. Barosu (Türkiye Barolar Birliği) ist der nationale Dachverband regionaler Anwält*innen. Auch der geplante Cizîr-Staudamm wird als Teil des GAP geplant. Noch hätten die Bauarbeiten nicht begonnen, aber der Bau sei bewilligt und erste Grundstücke bereits enteignet, erzählt uns Abdullah Fındık, Präsident von Barosu-Şirnex. Aufgrund der möglichen Auswirkungen auf beiden Seiten der Grenze hat Barosu-Şirnex eine Klage gegen das Staudammprojekt eingereicht. Die Wasserstandregulierung würde die fruchtbaren Uferbereiche zerstören, ganze Dörfer, archäologische Stätten und landwirtschaftliche Flächen würden unter Wasser gesetzt, was die Lebensgrundlage tausender Menschen zerstöre. Vor Gericht wurde die Einsprache abgeschmettert. »Die nächsten großen Kriege hier werden sich um die Kontrolle von Wasser drehen«, sagt Fındık.

Kolonialjustiz
Krieg kennt Bakur seit Jahrzehnten. Die Repression der kurdischen Minderheit geht zwar bis auf die Staatsgründung 1923 zurück, die offenen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der türkischen Armee begannen jedoch erst nach dem Militärputsch 1980, so der Anthropologe Mustafa Akçınar. »Aufgrund des Bürgerkrieges konnten damals viele der geplanten Talsperren am Tigris nicht umgesetzt werden. Deshalb gab es nach der Jahrtausendwende und einer ersten Abflachung des Konfliktes einen Wasserkraft-Bauboom.« Der Krieg durchlief viele Etappen des militärischen und diplomatischen Kräftemessens und war geprägt von Verhaftungswellen, der Zerstörung ganzer Stadtteile und großen Fluchtbewegungen der kurdischen Bevölkerung nach Europa und in die umliegenden Länder. Kaum eine Person, die wir unterwegs treffen, hat nicht Verwandte in Europa und/oder im Gefängnis und einen Şehîd (Märtyrer) in den Bergen. In Dêrsim etwa hat sich die Bevölkerungszahl seit den 1990er Jahren fast halbiert.
Jegliche Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der PKK verliefen bisher im Sand. Jene von 2013 endeten 2015 in brachialen Luft- und Bodenangriffen auf kurdisch geprägte Städte. Heute stehen viele der Gemeinden, die wir besuchen, unter Zwangsverwaltung der Zentralregierung in Ankara. Mit der Auflösung der PKK im Frühling dieses Jahres und deren Waffenniederlegung steht nun eine neue Phase der Friedensverhandlungen an.
Der jahrzehntelange Konflikt wurde dabei nie nur militärisch ausgetragen, sondern auch auf gesellschaftlicher und juristischer Ebene, wie uns der Anwalt Abdulkadir Güleç berichtet, den wir in der Kanzlei von Barosu-Amed (tr. Diyarbakır) in der Hauptstadt Bakurs treffen. Ihre Arbeit bestehe nicht darin, Fälle zu gewinnen, sondern aufzuzeigen, dass das türkische Justizsystem nicht funktioniere, erklärt er. Dafür würden Fälle von Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen gesammelt, um damit an höhere gerichtliche Instanzen zu gehen. Zwar gibt es Gesetze, die den Schutz von Wäldern und Flüssen regeln. Aber diese würden eben nicht eingehalten, so Güleç. Gewinne man ausnahmsweise mal einen Fall, würden Wochen später die Umweltverbrechen einfach weiter begangen. Außerdem könnten sie aufgrund ständiger Repressionsandrohung nur schwer arbeiten. Rojhat Dilsiz, der ehemalige Präsident von Barosu-Şirnex sagt dazu: »Wir leben nicht in einer Demokratie. Wir werden bedroht, weil wir uns für Menschenrechte und Natur einsetzen.«
Ahmed Başak aus Şirnex bezeichnet die juristische Ausgangslage schlicht als Kolonialjustiz. Bei Protesten gegen Waldbrände würden immer wieder Menschen inhaftiert, die versuchten, Brände in Militärsperrgebieten zu löschen. Auch Abdullah Fındık von Barosu-Şirnex erzählt, wie internationale Organisationen, bei denen sie jeweils Berichte zu Umweltvergehen einreichen, um den Fall auf internationale Ebene zu heben, oftmals nichts unternehmen würden, weil sich die betroffenen Gebiete in Militärzonen befinden. Es sei gerade deshalb wichtig, dass »Ökozide«, also die massive Zerstörung von Ökosystemen, auf internationaler Ebene als Straftatbestand anerkannt würden. »Ja, die Umstände machen es uns nicht leicht. Trotzdem denken wir nicht daran, aufzugeben«, sagt Fındık.
Organisierung trotz Repression
Proteste gegen Staudämme oder der Versuch, gemeinsam Waldbrände zu löschen, sind Teil einer Ökologiebewegung, für die es ein gewisses Maß an Organisierung bedarf. Gerade dies aber ist eine große Herausforderung. Davon berichten uns Dilek und Erdoğan, Ko-Vorsitzende des Ökologievereins in Wan (Van Ekoloji Derneği), einer Millionenstadt und das letzte Ziel der Reiseroute. An der Wand des verrauchten Vereinslokals hängt ein Transparent mit dem Slogan: »Krieg ist die größte ökologische Zerstörung.« Viele der 2009 aufgebauten Rätestrukturen seien durch die Repressionswelle nach 2015 zerschlagen worden. Trotzdem sei Wan momentan in der Region der sicherste Ort, um aktiv Widerstand zu leisten, sagt Erdoğan. Der Verein, der sich vor einem halben Jahr neu gegründet hat, zählt heute um die 40 Mitglieder.
Das Ziel sei momentan, wieder eine funktionierende Rätestruktur in der Region aufzubauen, die sich für ökologische Anliegen einsetzt. Sie seien in der Bevölkerung gut verankert. Wird beispielsweise ein neues Staudammprojekt geplant, schreibt die Wasser- und Energiekommission des Vereins einen Bericht. Den tragen sie dann in die Bevölkerung, und organisieren gemeinsam mit den betroffenen Gemeinden oder Bezirken Protestaktionen. Dafür arbeiten sie mit lokalen NGOs zusammen und sind in Bündnissen wie der Ökologiebewegung Mesopotamiens vertreten.
Trotz Zwangsverwaltung, Faschismus und Krieg hätten sie sich neu organisiert, sagt Erdoğan stolz. Und Dilek fügt lächelnd hinzu: »Der Vorteil einer in der Bevölkerung verankerten Bewegung liegt eben darin, dass sie an keine Führung gebunden ist. Dadurch können sie uns nicht vernichten.«
Bedrückender sieht es in der kleinen Bergstadt Colemêrg (tr. Hakkari), ganz im Osten von Bakur aus, wo uns Xaled, Metin und Rifat – drei Gründungsmitglieder des 2011 gegründeten Cilo-Naturverein – empfangen. »In der Region Hakkari gibt es mehr Militärposten als Schulen und Spitäler zusammen. Wir sind kolonisiert und unser Gebiet ist besetzt«, sagt Metin. Und Xaled erzählt uns mit gesenkter Stimme, wie sie in jahrelanger Basisarbeit Ökologie-Rätestrukturen in bis zu 30 Gemeinden in den umliegenden Bergdörfern aufgebaut hätten. Heute existierten diese kaum mehr, auch hier sei alles 2015 auf Grund der Repression auseinandergebrochen. Viele Menschen wurden inhaftiert oder sind geflohen. »2014 zählte der Cilo-Naturverein noch 300 Mitglieder, heute verfügen wir nicht mal mehr über ein Vereinslokal«, sagt Xaled.
Nach der offiziellen Auflösung der PKK Mitte Mai sind die Friedensverhandlungen weiter im Gange. In Nordkurdistan aber bleibt Frieden vorerst ein Fremdwort. Und der Bergbau scheint gerade erst richtig Fahrt aufzunehmen, wie es beispielsweise der Start von Explorationsarbeiten im Landkreis Ovacık und im Munzurtal in Dêrsim nahelegen. Dort werden weitere Chrom-, Kupfer- und Goldvorkommen vermutet. »Die definitive Befriedung der Gebiete könnte den Bergbauboom sogar noch weiter vorantreiben«, meint Anwalt Kaplan aus Dêrsim.
Auch wenn das eine Kehrseite der Friedensverhandlungen darstellt und sich Menschen immer wieder von Neuem gegen Umweltverbrechen und Willkür zu organisieren versuchen: Viele unserer Gesprächspartner*innen sind der jahrzehntelangen Kriegssituation müde. So auch Xaled: »Basisarbeit ist das zentrale Element unserer Politik. Die Rätestrukturen wären schnell wieder aufgebaut. Aber dafür brauchen wir den Friedensprozess – wir brauchen eine Verschnaufpause.«