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|ak 687 | Deutschland

Wer ist hier kriminell?

Empörung sollte der Untätigkeit der Bundesregierung gelten – nicht der Letzten Generation

Von Guido Speckmann

Einige Aktivist*innen der Letzten Generationen blockieren die Puschkin-Allee in Berlin. Vor ihnen ein weißer LKW
Machen sich gerade so richtig unbeliebt: Aktivist*innen der Letzten Generation. Hier bei einer Blockade der Berliner Puschkinallee im November. Foto: Letzte Generation

Kartoffelbrei auf einem Monet-Gemälde und »Klebe-Terror« auf dem deutschen Heiligtum Autobahn: Der Klimagruppe Letzte Generation schlägt derzeit schierer Hass entgegen. Von »Kriminellen«, »Extremisten«, gar der »Entstehung einer Klima-RAF« ist die Rede. Anlass: Der schwere Unfall einer Radfahrerin mit einem Betonmischer in Berlin Ende Oktober wurde mit einer Straßenblockade der Klimagruppe in Verbindung gebracht. Der entstandene Stau soll die Durchfahrt eines Bergungsfahrzeugs behindert haben.

Obwohl der Sachverhalt noch nicht klar war, stürzten sich Spitzenpolitiker*innen auf den Fall. Bundeskanzler Olaf Scholz distanzierte sich ebenso wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Innenministerin Nancy Faeser setzte noch eins drauf: »Wer Rettungswege versperrt, setzt Menschenleben aufs Spiel. … Die Polizei hat meine vollste Unterstützung für ein hartes Durchgreifen.« Die Gewerkschaft der Polizei forderte die Prüfung eines Verbots der Letzten Generation.

Dabei hätte das im Stau steckende Fahrzeug die Frau, die vier Tage später ihren Verletzungen erlag, nicht retten können. »Der Klimaprotest hatte keinen Einfluss auf Versorgung des Unfallopfers«, titelte die Süddeutsche Zeitung (SZ), die einen internen Vermerk der Berliner Feuerwehr eingesehen hatte. Demnach habe die Notärztin das Anheben des Betonmischers mit dem Spezialfahrzeug kurz erwogen. Da dies aber auch ohne Stau gedauert und die medizinische Situation verschlechtert hätte, habe sie sich stattdessen entschieden, den Betonmischer mit eigener Motorkraft zu bewegen – und die Frau danach zu bergen.

Der laut Bildzeitung »härteste Innenminister Deutschlands« droht gar mit einer Ausweitung der Präventivhaft.

Erkenntnisse, die Unions-Politiker*innen im Verbund mit der Bildzeitung aber nicht davon abhielten, Mindestfreiheitsstrafen für radikale Klimaaktivist*innen zu fordern und einen entsprechenden Antrag im Bundestag vorzubereiten. Bayern fackelte nicht lange und nahm zwölf »Klima-Kleber« in »Präventivhaft«. Der laut Bildzeitung »härteste Innenminister Deutschlands«, Joachim Herrmann (CSU), droht gar mit einer Ausweitung dieses Vorgehens.

Möglich ist dies dank den 2018 und 2021 erfolgten Novellierungen des Polizeiaufgabengesetzes. Es sieht vor, Menschen bis zu zwei Monate in Gewahrsam zu nehmen, wenn sie eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen könnten. »Von einer Schande für einen Rechtsstaat« sprach SZ-Kolumnist Heribert Prantl schon 2017 – und da wurde die Vorbeugehaft noch mit islamistischem Terrorismus in Verbindung gebracht.

Nun kann man die strategische und taktische Orientierung der Letzten Generation durchaus diskutieren. Fest steht aber: Ihre Motive sind richtig und gut. Die Bundesregierung muss endlich eine Klimapolitik machen, die diesen Namen verdient. Dass sie ihre selbst gesteckten Klimaziele verfehlt, hat ihr zwei Tage vor dem Beginn der Weltklimakonferenz in Scharm El-Scheich und während der Debatte um den Berliner Unfalltod ihr eigener Expert*innenrat vor den Latz geknallt.

Zentrales Ergebnis: Die bisherigen Emissions-Reduktionsraten reichen bei Weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen, wie sie das novellierte Klimaschutzgesetz von Juni letzten Jahres festgelegt hatte. Die jährlichen CO2-Minderungsraten müssten sich mehr als verdoppeln.

Novelliertes Klimaschutzgesetz? Da war doch was. Die Regierung reagierte damit auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Ende April letzten Jahres, wonach das Klimaschutzgesetz von 2019 in Teilen verfassungswidrig ist. (ak 671) Die Begründung des Gerichts lautete: Das ursprüngliche Klimaschutzgesetz von 2019 schränke über Gebühr die Freiheit zukünftiger Generationen ein. Dass diese verfassungsrechtlich garantierten Schutz vor den Folgen des Klimawandels genießen – so hatte noch nie ein Gericht in Deutschland geurteilt.

Das sollten sich jene einmal vor Augen halten, die mit ihrem Gerede von einer »Klima-RAF« in Stammheim noch Plätze frei wähnen – und mit ihrer Politik die Freiheit künftiger Generationen hierzulande einschränken und das Leben von Menschen im Globalen Süden schon jetzt. Leider kann das Verfassungsgericht Scholz, Wissing und Co. nicht in Gewahrsam nehmen.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.

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