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Klimaklatsche

Karlsruhe bringt die Politik auf Trab – aber wird das etwas ändern?

Von Guido Speckmann

Ende April bestätigte sich eine Redewendung, die über das deutsche Bundesverfassungsgericht kursiert: In Deutschland glauben nicht alle an Gott, aber alle an Karlsruhe. Die Richter*innen in den roten Roben hatten geurteilt: Das 2019 von der Bundesregierung erlassene Klimaschutzgesetz ist in Teilen verfassungswidrig, weil es über Gebühr die Freiheit zukünftiger Generationen einschränkt. Der Gesetzgeber ist zur Nachbesserung verpflichtet, konkret zur Bestimmung von Emissionsreduktionszielen über das Jahr 2030 hinaus. Die Minister*innen und die Kanzlerin in Berlin, die das grundgesetzwidrige Gesetz zu verantworten hatten, lobten gottergeben Besserung. Ein wundersames Schauspiel.

Aber die Karlsruher Richter*innen sind auch nur Beamte und Teil der realen Welt. Und daher wäre ihr Urteil ohne die neuen klimapolitischen Bewegungen wie Fridays for Future in dieser Weise sicher nicht denkbar gewesen. Und Ähnliches gilt bereits für die Verabschiedung des nun beanstandeten Klimaschutzgesetzes durch das »Klimakabinett« am 20. September 2019. Mit Klimademonstrationen – an jenem Tag waren allein in Deutschland rund 1,4 Millionen Menschen auf den Straßen – wurde Druck auf die Regierung ausgeübt.

Der Karlsruher Richterbeschluss ist als »unerwartet«, »historisch«, »sensationell« und als klimapolitischer Kipppunkt bezeichnet worden. Durchaus zu Recht. Nie zuvor hat in Deutschland ein Gericht argumentiert, dass zukünftige Generationen verfassungsrechtlich garantierten Schutz vor den Folgen des Klimawandels genießen. Vier Wochen vorher war noch eine Klage von zehn Familien für strengere EU-Klimaziele vor dem Europäischen Gerichtshof abgeschmettert worden. Bis dato hatte nur das höchste Gericht in den Niederlanden ihre Regierung Ende 2019 zu strengeren Klimaschutzmaßnehmen aufgefordert.

Ist aber der Karlsruher Beschluss ein Game-Changer, der den Weg für eine Klimaschutzpolitik bereitet, die diesen Namen verdient? Auf den ersten Blick scheint es so. Von der Veröffentlichung des Beschlusses bis zur Kabinettsvorlage des verschärften Klimaschutzgesetzes dauerte es nicht einmal zwei Wochen. Plötzlich überboten sich mit Ausnahme der AfD alle Parteien mit klimapolitischen Ankündigungen. Die Bundestagswahl könnte zu einer Klimawahl werden – auch weil sich außerparlamentarisch eine Allianz aus Fridays for Future, dem Bündnis Unteilbar und der Gewerkschaft ver.di gebilet hat, die gemeinsame Aktionen plant.

Welches Restbudget?

Bemerkenswert an der Karlsruher Urteilsbegründung – 110 Seiten! – ist vor allem: Sie bezieht sich auf den sogenannten Ansatz des CO2-Restbudgets, wie er vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), einem Beratungsgremium der Bundesregierung, in Anlehnung an den Weltklimarat (IPCC) ausgearbeitet wurde. Demnach gebe es für Deutschland ein Restbudget von 6,7 Gigatonnen CO2, um den Temperaturanstieg auf 1,75 Grad zu beschränken. Das ist zwar im rechtlichen Rahmen des Paris-Abkommens, aber deutlich von der 1,5-Grad-Marke entfernt, die es diesem zufolge möglichst zu erreichen gilt. Auch für dieses Ziel nennt der SRU ein Restbudget: 4,2 Gigatonnen. Bei einem Weiter-So wäre das deutsche Restbudget bereits deutlich vor Ende des Jahrzehnts aufgebraucht.

Klimaneutralität dient nicht dazu, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sondern das business as usual zu schützen.

Die Schätzungen des Weltklimarats und des Sachverständigenrats stehen aber in der Kritik, ein zu optimistisches Bild zu zeichnen. So drohen bereits bei einer Erwärmung zwischen 1 und 1,5 Grad bedenkliche Extremwetterlagen, argumentiert zum Beispiel der Plurale Ökonom Helge Peukert, der soeben mit seinem neuen Buch einen Kontrapunkt gegen das zunehmende Trommelfeuer grüner Rhetorik und Absichtserklärungen vorgelegt hat. Das weltweite Restbudget für die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad sei schon heute aufgebraucht.

Überdies lässt das SRU-Restbudget die Frage der Klimaschulden der reichen Staaten außen vor. Darf Deutschland, das bereits seit der Industrialisierung massenweise Kohlendioxid emittiert, vom Restbudget überhaupt noch Gebrauch machen? Dieses ermittelt sich ja schlicht aus dem globalen Restbudget geteilt durch die in Deutschland lebenden Menschen. Es berücksichtigt nicht, dass die Industriestaaten bereits seit Jahrhunderten Treibhausgase in die Luft pusten, die Staaten des Globalen Südens hingegen erst seit Kurzem. Gesteht der Globale Norden dem Globalen Süden eine weitere Industrialisierung zu, ist sein Budget bereits aufgebraucht.

Und noch ein dritter Aspekt ist bei der Berechnung des SRU problematisch: die mangelnde Berücksichtigung von anderen Treibhausgasen wie Methan oder Lachgas. Werden diese miteinbezogen, sinke folglich das Restbudget.

Ungenügende Änderungen

Laut novelliertem Klimaschutzgesetz soll die CO2-Reduktion nund 65 anstatt 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 betragen und 88 Prozent bis 2040. Doch Berechnungen von Greenpeace zufolge wäre die Restmenge an CO2-Emissionen, die in Deutschland noch in die Luft gepustet werden dürfen, um das Zwei-Grad-Ziel einzuhalten, bereits 2030 zu 91 Prozent aufgebraucht. Bis 2045, dem Jahr, in dem die Klimaneutralität nunmehr fünf Jahre früher erreicht werden soll, wären sie gar um 32 Prozent überzogen. Vorausgesetzt, der Absichtserklärung im Gesetz folgt auch eine tatsächliche Umsetzung. Und daran würde es nicht zum ersten Mal hapern.

Das Urteil von Greenpeace: »Die Regierungskoalition drückt sich um ein konkretes CO₂-Budget und eine faire Verteilung der Reduktionslasten zwischen den Generationen. Sie ignoriert die Kernaussagen des Urteils vom Verfassungsgericht.« Offenbar beruhen die verschärften Klimaziele auch auf Trickserei. Die hochgeschraubten Emissionseinsparziele sollen nicht ausschließlich durch eine Reduktion, sondern durch eine großzügige Anrechnung von natürlichen Senken wie Wälder oder Moore erzielt werden.

Und mit der Trickserei ist man beim Thema Klimaneutralität, auf das sich auch der Karlsruher Beschluss positiv bezieht: »Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität«, heißt es dort. Auch damit zeigt sich das Gericht als von dieser Welt. Denn das Ziel Klimaneutralität (engl. net zero, Netto-Null) ist der neue Konsens der globalen Klimapolitik. Fast alle – Weltklimarat, Bundesregierung, Großkonzerne, ja selbst Fridays for Future und Extinction Rebellion – beziehen sich positiv auf die Netto-Null, wollen sie nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht sehen.

Die Falle Klimaneutralität

So viel Einigkeit stimmt skeptisch, aber langsam regt sich Kritik an dem Ziel Klimaneutralität. (Siehe ak 666) So wird der Artikel »Concept of net zero is a dangerous trap« von drei Klimawissenschaftlern rege diskutiert. Laut Wolfgang Knorr, einem der Autoren, sei die Netto-Null in ihrer mathematischen Einfachheit irreführend«. Denn eins minus eins sei Null, aber auch eine Million minus eine Million. Es müsse nur das gleiche, was an CO2 abgegeben werde, wieder aufgenommen und gespeichert werden. Knorr wörtlich: »In der Realität bedeutet eine Million minus eine Million die Lizenz, mit kleinen Einschränkungen weiter CO2 zu erzeugen und eine gigantische Senke mit noch nicht existierenden Technologien auf dem Papier zu erschaffen«. Somit dient die derzeitige Klimaneutralitäts-Politik nicht dazu, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sondern das business as usual zu schützen.

Rückblick: Auf dem G7-Gipfel auf Schloss Elmau 2015 war vom vollständigen Verzicht fossiler Energieträger, von der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2100 die Rede. Geschenkt, viel zu spät. Aber der Begriff Dekarbonisierung lässt keine Schlupflöcher – so wie es jener der Klimaneutralität tut. Dieser ist die rhetorische Verpackung eines angeblich grünen Kapitalismus, der doch am Weiter-So festhält: am Fortschrittsmärchen vom Wasserstoff als neues Öl des 21. Jahrhunderts, an CO2-Speicherung im großen Stil, an Gas als Übergangstechnologie, an marktkonformen Klimaschutz – und vor allem an der Illusion, dass in einer begrenzten Welt unbegrenztes Wirtschaftswachstum und damit Rohstoffverbrauch und Emissionen möglich seien. So als ob aus dem immateriellen Nichts Wohlstand zu erschaffen wäre. Runter gebrochen auf die deutsche Klimapolitik: Die Energiewende wird ausgebremst, fossile Energieträger werden weiter subventioniert, der Kohleausstieg nicht vorgezogen und Verbrenner auf den Straßen gelassen.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.