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Im Schatten der Passivität

Das Ende von Roe in den USA markiert auch das Versagen eines liberalen Mainstream-Feminismus – was bedeutet das für die Bewegung?

Von Lukas Hermsmeier

Collage von Protestbildern aus den USA für das recht auf Abtreibungen. es sind Schilder zu sehen mit Aufschriften wie "Abortion Saves Lives", Abortions are Healthcare" und "When will we have the same rights as guns".
»Abtreibung rettet Leben.« Die Aufhebung des Urteils »Roe v. Wade«, in dem das Recht auf Abtreibung verankert war, ist der bedeutendste Triumph der US-Rechten im 21. Jahrhundert. Collage: KD

Als der US-amerikanische Supreme Court Ende Juni das Abtreibungsrecht kippte, war die Tragweite dieser Entscheidung sofort offensichtlich. In zahlreichen Bundesstaaten wurden die wenigen verbliebenen Kliniken geschlossen, zig Millionen Menschen haben nun keinen legalen Zugang mehr zu Schwangerschaftsabbrüchen, feministischen Aktivist*innen droht die strafrechtliche Verfolgung. Die Aufhebung des 1973 gefällten Urteils »Roe v. Wade« kann man als den bedeutendsten Triumph der US-Rechten im 21. Jahrhundert einordnen. Sie ist ist eine Machtdemonstration insbesondere der christlichen Rechten, der es immer effektiver gelingt, der Gesellschaft ihre Normen aufzuzwingen.

Das Ende von Roe markiert nicht nur die (vorläufige) Kulmination eines autoritären Kampfes, sondern unterstreicht auch das strukturelle Versagen eines liberalen Mainstream-Feminismus, der seit langer Zeit vorherrschend ist. Über Jahrzehnte hinweg haben die Demokratische Partei und andere Institutionen der Mitte nahezu tatenlos zugesehen, wie Grundrechte abgebaut wurden; statt sich dieser Verschiebung entschlossen entgegenzustellen und Bewegungsarbeit zu leisten, wurde eine Taktik der Konfrontationsvermeidung verfolgt. Präsident Joe Biden hat das Wort Abtreibung bis vor kurzem nicht mal in den Mund genommen, so groß war die Angst, konservative Wähler*innen zu verlieren. Folgt man Umfragen, wird jedoch klar: Dem Großteil der Wähler*innen ist körperliche Autonomie wichtiger als die Bewahrung der moderaten Gesichtslosigkeit.

Abortion funds und der diskursive Raum

Welche politischen Konsequenzen wird der Beschluss des Supreme Courts haben? Geht es am Ende einfach weiter, nur eben schlechter? Oder könnte aus der Gemengelage tatsächlich so etwas wie ein neuer Widerstand wachsen, der der voranschreitenden Faschisierung in den USA beikommt?

Die vergangenen Wochen geben Anlass für zarten Optimismus. Spricht man mit Aktivist*innen vor Ort und folgt den öffentlichen Debatten, deutet sich eine Radikalisierung der feministischen Bewegung an, praktisch wie theoretisch. Einerseits wächst das gesellschaftliche Bewusstsein dafür, dass es vor allem linke Gruppen sind, die dafür sorgen, dass Schwangere in von Republikanern geführten Bundesstaaten trotz der Restriktionen zu Abtreibungen kommen. Die Stärkung, Weiterentwicklung und Vernetzung solcher in die Illegalität gezwungener abortion funds hat Priorität. Andererseits scheint sich derzeit auch ein neuer diskursiver Raum zu öffnen. Neben zivilem Ungehorsam und Basis-Organisierung, so die lauter werdende Forderung, brauche es eine offensivere Sprache rund um das Thema sowie ehrlichere Geschichten, die nicht nur die dringende Notwendigkeit von sicheren Abtreibungsmöglichkeiten betonen, sondern auch die Normalität von Abbrüchen. Zusammengefasst: Wurde der Kampf um reproductive rights ein halbes Jahrhundert lang von vielen Liberalen und auch Linken nahezu ignoriert, könnte er nun eine entscheidende Rolle für die progressive Mobilisierung spielen.

Wer sich für die Demokratie einsetzt, sollte die politischen Gegner*innen begreifen. Welche Ideologien stehen also hinter dem Abtreibungsverbot? Wenn christliche Rechte ihre Haltung begründen, hört man immer wieder die gleichen Tropen. Es gehe um den »Schutz des Kindes«, den »Erhalt der Familie«, die »Zukunft der Nation« – allesamt Formulierungen, die bejahend und positiv klingen sollen; »pro life« heißt deshalb auch ihr zentraler Slogan.

Die feministische Theoretikerin Sophie Lewis schrieb kürzlich in der britischen Literaturzeitschrift London Review of Books, dass es um eine »Kriminalisierung des Lebens-im-Besonderen im Namen des ›Lebens-an-sich‹ geht«. Gemeint ist damit, dass christliche Rechte zwar ein abstraktes »pro Life« postulieren, diese Formel sich aber auflöst, sobald das Leben konkret wird. Für alle ungewollt Schwangeren und insbesondere arme Menschen, die nun für eine Abtreibung Hunderte Kilometer weit fahren und Tausende Dollar ausgeben müssen, aber ganz grundsätzlich auch für nicht-weiße, behinderte, inhaftierte, queere und trans Menschen, die sowieso schon erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, gilt »pro Life« natürlich nicht. Was bleibt, ist der Schutz einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe (weiß und christlich) unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen (patriarchal und kapitalistisch).

Es deutet sich eine Radikalisierung der feministischen Bewegung an, praktisch wie theoretisch.

Die Treiber der Abtreibungsverbote, allen voran die Republikanische Partei, rechte Kirchen und Organisationen wie die Federalist Society, verfolgen ein Projekt, das sich sowohl bio- als auch nekropolitisch betrachten lässt. Bedeutet: Sie kontrollieren das Leben und Sterben der Bürger*innen. Frauen, die sich gegen die Zwangsrolle als Gebärmaschine wehren, droht nicht nur das Gefängnis, sondern im Extremfall auch der Tod. Wo Schwangerschaftsabbrüche eingeschränkt oder verboten sind, steigt laut Studien die Müttersterblichkeit. Zugleich warnt die christliche Rechte immer wieder vor sinkenden (gemeint sind weiße) Geburtenzahlen und schürt die Angst vor einem »Großen Austausch«, wie sich die rassistische und nationalistische Verschwörungsideologie nennt, wonach die weiße Bevölkerung »ersetzt« werde. Anti-Abtreibungspolitik und Anti-Immigrationspolitik sind deshalb schon lange eng miteinander verwoben. In Kombination mit einer Anti-Sozialpolitik, die die Verantwortung für Erziehung und Pflege den Privathaushalten zuschiebt, landet man bei einem alten Wertekorsett: Kinder, Küche, Kirche.

Jahrzehntelange Vorarbeit von rechts

Dass der Supreme Court – von den sechs Richter*innen, die gegen das Abtreibungsrecht stimmten, sind fünf männlich, fünf katholisch und zwei wegen sexueller Übergriffe beschuldigt – zuletzt auch das Waffenrecht stärkte, klingt in gewisser Weise wie ein Widerspruch, schließlich werden Tausende Familien jedes Jahr durch Waffengewalt auseinandergerissen, und die Rettung der Familie sollte doch eigentlich Priorität haben. Doch erstens sterben Schwarze Amerikaner*innen überproportional häufig durch Waffengewalt, Ausdruck ökonomischer Ungleichheiten, die das Establishment nicht sonderlich zu stören scheinen. Und zweitens waren Widersprüche der politischen Rechten schon immer egal. Eine linke Aktivistin aus Texas sagte mir neulich, dass sie regelmäßig Abtreibungsgegnerinnen zu Abtreibungen begleite. Ausnahmen, so die Haltung, gelten immer nur für einen selbst. Oder anders formuliert: Wer sich eine Abtreibung leisten kann, stört sich weniger an einem Verbot.

Die christliche Rechte hat über Jahrzehnte hinweg das Feld vorbereitet, Spielregeln dabei en passant verändert. Wichtige Justizposten wurden mit ultra-konservativen Richter*innen besetzt, passende Kandidat*innen der Republikaner mit Geld zugeschüttet, repressive Gesetze geschrieben. Begleitet wurde dieser Machtaufbau von rechtsextremer Gewalt. Immer wieder kommt es zu Brandanschlägen gegen Abtreibungskliniken, Drohungen gegen Anbieter*innen sind Alltag.

Und die demokratische Seite? Der ist es auf fatale Weise misslungen, all diese Entwicklungen im Zusammenhang zu erkennen und robuste Alternativen zu gestalten.

Wie die Autorin Jenny Brown in ihrem Buch »Without Apology« ausführlich erklärt, war schon die Entscheidung des Supreme Courts 1973 schwach begründet. Statt ein umfassendes Recht auf Abtreibungen zu etablieren, das die Bedürfnisse Schwangerer grundsätzlich in den Vordergrund stellt und Emanzipation kollektiv versteht, wurde sich in dem Urteil auf individuelle Wahlmöglichkeiten und den Anspruch auf Privatsphäre bezogen. Auch in der Folgezeit sei laut Brown verpasst worden, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche auszubauen und mit universellen Forderungen nach einer staatlichen Krankenkasse und freier Kinderbetreuung zu verbinden. Im Gegenteil gingen viele führende Köpfe der Demokraten in die Defensive. Abtreibungen seien okay, aber nur solange sie »sicher, legal und selten« sind, wiederholten sowohl Bill als auch Hillary Clinton. Ein Mantra, genauso mutlos wie realitätsfern. Selten waren Abtreibungen nämlich noch nie. Wer es wagte, von den Demokraten mehr Entschlossenheit zu fordern, wurde schließlich mit einem »Vote!« abgefertigt.

Brown schreibt, dass das gesamte Gebiet der reproductive rights immer weiter entpolitisiert worden sei und dadurch an Priorität verloren habe. Den US-Institutionen wurde vertraut, den Pro-Choice-Fortschritt schon irgendwie zu sichern. Im Schatten genau dieser Passivität konnten sich die Abtreibungsgegner*innen erfolgreich organisieren. Wie in vielen anderen Bereichen auch drückt sich die Stärke der Rechten also nicht zuletzt in der Einhegung der politischen Gegner*innen aus. Brown fordert deshalb, den radikal-feministischen Kampf, der Roe überhaupt erst ermöglichte, wieder aufzunehmen.

Keine Entschuldigungen mehr

Folgt man linken Aktivist*innen, gibt es nur einen Weg aus der jetzigen Situation: mit eigener Vision nach vorne. »Wir als Linke sollten unsere Forderungen ausbauen, ohne uns dafür zu entschuldigen: Wir wollen, dass alle Menschen, und nicht nur die reichen, einen freien und direkten Zugang zu Abtreibungen haben«, sagt die im texanischen Austin wohnende Sozialistin Kim Varela-Broxson, die Mitglied der Organisation Bridge Collective ist. Trotz der Repressionen werden viele abortion-fundworkers weiter aktiv sein, glaubt Varela-Broxson. Makayla Montoya-Frazier, Aktivistin aus San Antonio, bestätigt diese Einschätzung. Alleine in den ersten drei Tagen nach dem Urteil hätten sich rund 300 neue Freiwillige bei ihrer Organisation, dem Buckle Bunnies Fund, gemeldet. Auch Rockie Gonzalez, Gründerin des Frontera Funds, betont, dass die Netzwerke weiter wirken werden, wenn auch mit anderen Mitteln und weniger öffentlich. »Es gibt viele Leute«, so Gonzalez, »die bereit sind, illegale Dinge zu tun«. Wie das konkret aussieht, werde sich in den kommenden Monaten zeigen. Grundsätzlich geht es darum, über Selbstabtreibungen aufzuklären und entsprechende Pillen zu verteilen, Schwangeren den Transport zu Kliniken in anderen Bundesstaaten zu ermöglichen und all diejenigen finanziell zu unterstützen, die sich für Abtreibungsrechte einsetzen.

Bereits abzusehen ist, dass das Thema auch wahlpolitisch eine zunehmend große Rolle spielen wird. Direkt nach der Entscheidung des Supreme Courts stieg an vielen Orten die Zahl der Wahlregistrierungen für die wichtigen Midterms im November. Anfang August stimmten bei einem Referendum in Kansas die Mehrheit für den Erhalt von Abtreibungsrechten. Weitere Volksabstimmungen in anderen Bundesstaaten werden folgen. In einigen Städten im Süden, in denen Demokraten regieren, werden außerdem neue Gesetze vorbereitet, die Abtreibende vor der Polizei schützen sollen.

Vielleicht ermöglicht das Ende von Roe auch einen gedanklichen und sprachlichen Neuanfang. Dafür plädiert unter anderem die schon zitierte Autorin Sophie Lewis, die kürzlich in zwei Texten ausführte, warum die feministische Bewegung mit einem radikalen und wortwörtlichen Selbst-Bewusstsein vortragen müsse, inwiefern Abtreibungen Gerechtigkeit bedeuten – und vor allem, was Abtreibungen sind. (Die Übersetzung eines der beiden Artikel von Sophie Lewis findet sich ebenfalls in ak 684.) Auf den Vorwurf, dass es es sich dabei um Tötungen handele, sollte man nicht mit kategorischer Verneinung reagieren, so Lewis, sondern vielmehr ein ethisches Konzept entwickeln, das eine bestimmte Form des Tötens einschließt und berechtigt. »Wenn man anerkennt, dass eine Schwangerschaft eine Proto-Person hervorbringt, muss man meiner Meinung nach auch anerkennen, dass eine Abtreibung eine Proto-Person tötet.« Wer strikte Grenzen ziehen wolle, in welcher Woche genau »ungeborenes Leben« beginnt, um davon abgeleitet dann Gesetze zu formen, befände sich dagegen schon im strategischen Rückzug.

Lewis’ Vorstoß ist herausfordernd, womöglich auch überfordernd, angesichts der düsteren Lage und des ermächtigten Gegners. Andererseits sind das ja oft die Situationen, aus denen revolutionäre Ideen wachsen. Wie viele andere Feminist*innen auch, will Lewis Abtreibungen als öffentliches Gut verstanden wissen, für das es keine Rechtfertigung braucht.

Lukas Hermsmeier

arbeitet als freier Journalist in New York.

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