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Die Menschen­produktion muss und wird frei sein

Was das Urteil des US Supreme Court bedeutet, und warum der Kampf für Abtreibungen ein Klassenkampf gegen Zwangsarbeit ist

Von Sophie Lewis

Ei große wild wuchernde Kaktuspflanze im Gegenlicht
Im Kampf für das Recht auf Abtreibung muss die feministische Bewegung ihre Argumentation überdenken, sagt Sophie Lewis – und ihre Klassenmacht im Produktionsprozess des Lebens erkennen. Foto: ak

Anthrogenese, die, Substantiv: die Produktion von Menschen

Am 1. Mai versammelten sich wie jedes Jahr Werktätige auf der ganzen Erde und feierten uns als Menschenmacher*innen: als Schöpfer*innen der Welt und unserer selbst. Wir versammelten uns als Warnung an die herrschenden Klassen, dass wir unser Ziel der Selbstabschaffung – als Klasse – nicht vergessen haben; noch haben wir vergessen, dass sie die Feinde allen lebenswerten Lebens sind, während wir seine Schöpfer*innen sind. Am nächsten Tag erfuhren wir dann, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Hälfte der Vereinigten Staaten innerhalb weniger Wochen illegal werden soll.

Die Demokratische Partei hat das Recht auf Zugang zum Schwangerschaftsabbruch nicht kodifiziert, obwohl sie seit 1973 mehrfach absolute Mehrheiten hatte. In der New York Times heißt es, dass die Demokraten im Kongress unter der Führung von Chuck Schumer versuchen, das Recht auf Abtreibung zu schützen. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn sie es nicht versuchen würden. Zwei Tage nach der Bekanntgabe des Supreme Court flog die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, nach Texas, um Henry Cuellar zu unterstützen, einen der letzten Abtreibungsgegner der blauen Fraktion im Kongress, der gegen die von Bernie unterstützte Kandidatin Jessica Cisneros antritt.

In seinem Entwurf eines Gutachtens zur Aufhebung von Roe (1) kritisiert Richter Alito ein ganzes Netz miteinander verbundener Grundsatzurteile. So stellt er die Legitimität von Lawrence in Frage, dem Urteil, mit dem die homofeindlichen Unzuchtgesetze für ungültig erklärt wurden, ebenso von Obergefell, jenem Urteil, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Niemand sollte sich darüber Illusionen machen: Die Christofaschisten von heute wünschen sich ein Ende aller Formen nicht-produktiver und nicht-reproduktiver körperlicher Autonomie, einschließlich des Ausstiegs aus der Schwangerschaft, aber auch ein Ende der Verhütung, queerer Sexualität und der Freiheit, die Pubertät hinauszuzögern, sein Geschlecht zu gestalten und öffentliche Toiletten zu benutzen, wenn man trans ist. Um es mit den Worten von Natasha Lennard zu sagen, zielen sie auf die »Wiedergeburt einer Nation, in der die einzigen Rechte, die Bestand haben dürfen, jene Rechte sind, die Eigentum, Patriarchat und Weißsein schützen«. Sie sind schon seit einiger Zeit auf dem Vormarsch, während sie der ganzen Welt unumwunden mitteilen, was sie vorhaben.

Große Teile des US-Südens leben schon längst in einer Post-Roe-Realität. Menschen, die eine Fehlgeburt erleiden, sind im besten Fall mit inquisitorischen Befragungen in der Notaufnahme konfrontiert, manchmal mit Inhaftierung oder Schlimmerem.

Große Teile des Südens leben schon seit Jahren in einer Post-Roe-Realität. Menschen, die schwanger werden und dann eine Fehlgeburt erleiden, sehen sich im besten Fall mit inquisitorischen Befragungen in der Notaufnahme konfrontiert (die illegale Maßnahmen gegen die Blastozyste aufdecken sollen), manchmal auch mit Inhaftierung oder Schlimmerem. Im Bereich der Anthrogenese leben wir, wie Lennard und andere Reporter*innen regelmäßig berichten, in einer Ära der Überkriminalisierung. Die Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden nehmen dramatisch zu. Die Zahl der inhaftierten Frauen hat sich seit 1980 versiebenfacht und wächst nun doppelt so schnell wie die der inhaftierten Männer.

Gruppen wie If/When/How: Lawyering for Reproductive Justice haben bereits Fälle von Cyber-Doxing, Spitzel-Hotlines, Verhaftungen und Mordanklagen dokumentiert. Es herrscht Klassenkampf. Reproductive-Justice-Organizer*innen haben nicht darauf gewartet, dass Planned Parenthood (2) auf Verhaftungen wie die von Lizelle Herrera (wegen »Ermordung« des Fötus in ihrem Körper) im April 2022 reagiert: Herrera wurde freigelassen, bevor Planned Parenthood überhaupt mobilisierte. Von Sexarbeiter*innen geführte Gruppen wie der Frontera Fund und If/When/How sind kampferprobte Ausnahmeerscheinungen in der Pro-Choice-Bewegung, in der meist ein gewisses Unbehagen und Unerfahrenheit in Bezug auf das alltägliche Chaos aus Drogenkonsum, Schwarzmärkten und rechtlichen Grauzonen herrscht. Es geht um Leben und Tod, und wir brauchen Hunderte weiterer Gruppen, die in der Lage sind, proletarische Schwangere zu verteidigen, und zwar jetzt. Es ist unklar, woher sie kommen sollen.

Die Grenzen des Pro-Choice-Diskurses

Wie ist es so weit gekommen? Jahrzehntelang haben die Demokraten in einer Art blindem Vertrauen auf das Überleben von Roe gewettet – und zwar eines ausgehöhlten Roe, eines Roe, das ständig bedroht ist und sich perfekt zum Sammeln von Spenden eignet – als Taktik zur Stabilisierung der Wählerstimmen im Rahmen des ewigen vornehmen Tanzes zweier Parteien, die die Macht untereinander aufteilen. Die Republikaner kamen jedoch nicht, wie die Demokraten gehofft hatten, zur Vernunft, sondern gaben sich, weil es keine Konsequenzen hatte, wieder und wieder Gender-Faschismus, Demokratiefeindlichkeit und explizitem Blutrausch hin. Trotzdem tanzte das blaue Team weiter, verließ sich darauf, dass die immer schrilleren Drohungen der Republikaner ihre Wähler*innen bei der Stange halten würde.

Natürlich waren sie gelegentlich – wie beim Putsch vom 6. Januar – geschockt, geschockt darüber, was aus den Republikanern geworden war. Dennoch riefen sie weiter »spenden« und »wählen«, während die Institutionen in Schutt und Asche gelegt wurden. Es wurde eine Theater entschlossenen »Widerstands« aufgeführt, verbunden mit einem beruhigenden Augenzwinkern an die Kollegen auf der anderen Seite des Ganges. Sie vertrauten dem Prozess, und jetzt gibt es praktisch nichts mehr, was sie tun können, um den Angriff auf die sexuelle Freiheit und die Integrität der reproduktiven Arbeit in diesem Land aufzuhalten. Es ist komplett ihre Schuld.

Es gibt keine Arbeitsrechte im Bereich der Menschenproduktion.

Aber stellen wir uns einen Moment vor, die Progressiven, die nominell am Steuer dieses Land sitzen, hätten sich nicht selbst außer Gefecht gesetzt. Stellen wir uns vor, sie wären in der Lage, das Wort »Abtreibung« auszusprechen. Lassen Sie uns kurz überlegen: Was ist eigentlich das Beste, was das blaue Team (die Demokraten) schwangeren Menschen in diesem Land anzubieten hat? Kurz gesagt, Privatsphäre und Entscheidungsfreiheit: Das sind die begrifflichen und diskursiven Grenzen für die Schwangerschaftspolitik dieser Nation. Amerikaner*innen tragen auf eigene Rechnung aus und treiben auf eigene Rechnung ab. Im besten Fall tun sie das auch im privaten Umfeld ihres eigenen souveränen Körpers.

Das war’s. Es gibt diskursiv keine Freiheit, sich der Herstellung eines Fötus zu entziehen. Es gibt keinen wirkliches Anspruch auf die Entscheidung, kein neues menschliches Leben zu erzeugen. Es gibt keine Arbeitsrechte im Bereich der Menschenproduktion. Man könnte erwarten, dass in den Geschichtsbüchern von einem erbitterten Kampf der Vertreter*innen der mit Gebärmutter ausgestatteten amerikanischen Armen zu lesen wäre, um auf solche Freiheiten, Ansprüche und Rechte zu bestehen, aber man wird enttäuscht werden.

Abtreibung – eine Klassenfrage

Während Frauenrechtler*innen vor 50 Jahren für die Abschaffung aller Abtreibungsgesetze kämpften, ist das Beste, womit Planned Parenthood heute aufwarten kann, die Vision einer regulierten Legalisierung. Während das Komitee »Wages for Housework« (Lohn für Hausarbeit) in den 1970er Jahren darauf bestand, dass »jede Fehlgeburt ein Arbeitsunfall ist«, da jeder Ort im Kapitalismus ein entfremdeter Schwangerschaftsarbeitsplatz ist, gibt es keine Garantie dafür, dass man auf einem Frauenmarsch im 21. Jahrhundert ein einziges Plakat für »Medicare for All« (Krankenversicherung für alle), kostenlose universelle Kinderbetreuung rund um die Uhr oder bezahlten Elternurlaub sehen wird. Und noch vor zwei Jahrzehnten war das Beste, wovon amerikanische Politiker*innen mit Blick auf die Herstellung von Föten träumen konnten, dass – um Bill Clinton und Hillary zu zitieren – Abbrüche, wenn es sie schon gibt, »sicher, legal und selten« sein sollten.

Durch eine Kampagne linker Feministinnen gelang es, »sicher, legal und selten« zugunsten von »sicher und legal« (oder manchmal auch »sicher, legal und zugänglich«) aus dem progressiven Wortschatz zu streichen. Wie die jüngsten Äußerungen von Tulsi Gabbard zeigen, halten einzelne demokratische Kongressabgeordnete nach wie vor an dem ursprünglichen Grundsatz »selten« fest.

Was kam nach »sicher, legal und selten«? Das Healthcare Framing natürlich. (3) Heute fällt es schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der es noch nicht allgegenwärtig war. Aber es war den hartnäckigen Bemühungen der Basisbewegungen zu verdanken – insbesondere den Netzwerken von Reproductive-Justice-Organizer*innen, die aus Städten kommen, in denen viele einkommensschwache, illegalisierte, rassifizierte, manchmal nicht einvernehmlich sterilisierte Amerikaner*innen leben –, dass es zu dieser rhetorischen Verschiebung kam.

Unser Kampf für reproduktive Freiheit muss deutlich machen, dass unsere Freiheit der Feind der doppelten Freiheit des Kapitalismus ist, laut der Prinzessinnen und Arme gleichermaßen reproduktionsmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen können.

Im besten Fall begründet das Mainstream-Pro-Choice-Milieu Abtreibungen nun mit Rückgriff auf die Menschenrechte, damit, dass es sich um eine medizinische Leistung handle. Das ist großartig, erstens, weil wir an dem »sicheren« Aspekt festgehalten haben: In der Medizin geht es schließlich darum, unser Fleisch so sicher wie möglich zu machen. Zweitens wird der Gedanke, dass Abtreibung »legalisiert« werden müsste, durch dieses Framing auf subtile Weise unterlaufen. Schließlich muss Gesundheitsfürsorge normalerweise nicht legalisiert werden. Der gesunde Menschenverstand tendiert daher intuitiv zu »Deregulierung« oder »Entkriminalisierung«.

Es spielt jedoch, wie Aktivist*innen für reproduktive Gerechtigkeit immer wieder betonen, keine Rolle, dass etwas als medizinische Leistung gilt, wenn man sich Gesundheitsfürsorge nicht leisten kann. Man kann sich nicht für etwas entscheiden, das man nicht kriegen kann. Lassen Sie uns also über »frei« sprechen. Unser Kampf für reproduktive Freiheit muss deutlich machen, dass unsere Freiheit der Feind – und nicht eine Version – der doppelten Freiheit des Kapitalismus ist, unter deren Ägide Prinzessinnen und Arme gleichermaßen reproduktionsmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen können.

In der respektablen feministischen Welt der Mittelschicht ist es nach wie vor Banane vorzuschlagen, dass Abtreibungen nichts kosten sollten (obwohl Teenager mit reichen Eltern ständig bei Abtreibungsfonds Hotlines anrufen). Ebenso ist es trotz der Fortschritte der Kampagne »Shout Your Abortion« immer noch unüblich, darauf zu bestehen, dass Abtreibungen völlig »stigmafrei«, entmedikalisiert oder »nach Bedarf und ohne Nachfrage« durchgeführt werden sollten. Die Pussy-Hat-Platoons haben sich von der Clinton-Strategie, das Stigma, das der Sache anhaftet, für die man sich angeblich einsetzt, explizit zu verstärken, verabschiedet. Doch der Ton des Flehens, der Entschuldigung bleibt bestehen: »Wir sind uns doch alle einig, dass Abtreibungen nicht als Verhütungsmittel eingesetzt werden sollten, meine Damen, bleiben wir vernünftig, okay? Auch wenn eine Abtreibung keine Tötung ist. Was sie nicht ist!!! Aber sie ist immer traurig, schwierig und traumatisch. Die meisten Leute, die abtreiben, sind bereits Mütter. Hören Sie, es geht hier nicht um Politik.«

Ehrlich gesagt, gibt es nichts Politischeres. Wie Laura Briggs 2018 erklärte, ist in den USA jede Politik Reproduktionspolitik geworden. Je mehr die politische Sphäre die Reproduzent*innen ausgrenzt wird, desto mehr wabert und wuchert das Reproduktionspolitische. In den US-Südstaaten und anderen repromedizinischen Wüsten überall auf der Welt werden ein Großteil des konkreten Zugangs zur Mifepriston und Misoprostol Pillenkombi, ein Großteil der Bereitstellung von Dilatation und Kürettage (Gebärmutterausschabung; ak) und sogar Spätabtreibungen weit außerhalb des wahlpolitischen Geschehens organisiert. In Europa und Südamerika setzen Aktionsgruppen Drohnen und schwimmende Kliniken auf See ein, um Abtreibungen zu den Leute zu bringen.

In den USA gibt es mehrere Tausend lokale Abtreibungsfonds, Gruppen zu Klinikbegleitung, Rechtshilfefonds und Community-Initiativen, die Leuten beibringen, wie man selbst eine Abtreibung vornimmt. Menschen, die eine chirurgische Abtreibung benötigen, reisen ständig zu ihren geheimen Terminen, mit Hilfe zwischenstaatlicher Schmuggelnetze, die von einigen (und von anderen nicht) als Underground Railroads (4) bezeichnet werden.

Gebärzwang und erzwungene Sorgearbeit

»Wenn Abtreibung ein Recht ist«, schrieb Erin Maglaque kürzlich in der London Review of Books, »dann ist es ein fadenscheiniges Recht, das auf den Launen von Richtern und einer Eigentumsbeziehung zum Körper beruht, die alles verdeckt, was an Schwangerschaft real und radikal ist.« Im Rückblick auf die Regelungen im frühneuzeitlichen Italien und auf ihre eigenen Erfahrungen mit Schwangerschaft und Abtreibung zeigt Maglaque die engen Grenzen von »Privatsphäre« und »Eigentum« als begriffliche Instrumente zum Verständnis der Anthrogenese auf. »Vielleicht können wir etwas aus einer Zeit lernen, in der Schwangerschaft Besitz (5) war«, schließt sie, »nicht Besitz eines anderen, sondern Besessenheit durch einen anderen; als ein ungewollter Fötus so wertvoll war wie eine Scheibe Schinken und eine Abtreibung so reinigend wie ein Exorzismus.«

Schwangere erleben die Inbesitznahme durch einen anderen. Die Schwangeren sind von einem fremden Objekt besessen. Genau deshalb gibt es die Plazenta: um den Fötus vor den spontanen Versuchen des erwachsenen Körpers zu schützen ihn abzutreiben, und gleichzeitig den erwachsenen Körper vor den Versuchen der fötalen Zellen zu schützen, ihm alle Nährstoffe auszusaugen. Das Leben ist nicht der »Standard«, um eine Formulierung von Timothy Morton aufzugreifen. Vielmehr ist »das Leben als solches eine Form der Abtreibung«. Was Morton damit meint, ist, dass der »Erfolg« eines menschlichen Austragungsprozesses so sehr dem zuwiderläuft, was Teile unserer »Natur« beabsichtigen, dass er gewissermaßen das Scheitern eines Scheiterns, einen Abbruch eines Abbruchs darstellt. Geburten sind, kurz gesagt, immer anomal, immer ein Wunder.

Das erzwungene Gebären lässt sich am besten als die physiologisch invasivste Form des Zwangs zur Care-Arbeit verstehen.

Ein weiteres Wunder: Dank Jahrtausende langer Wissensweitergabe und Kräuterkunde kann ein ungewollter Fötus bei entsprechender Sorgfalt sicher aus dem menschlichen Körper herausgelöst werden. Aufgrund der Beschaffenheit der menschlichen Plazenta ist dies sehr gefährlich, aber Hebammen, Hexen und Heiler*innen haben seit jeher die sichersten Methoden weitergegeben. Noch heute betrachten Abtreibungs-Doulas (6) ihre Arbeit oft als eine heilige Berufung. Dass das Leben nicht der »Standard« ist, ist ein guter Grund, nicht nur die Triumphe des Leben-Machens zu feiern, sondern auch die Verweigerung des Leben-Machens, die diese Triumphe erst ermöglicht.

Die Logik der zutiefst naturalisierten reproduktiven Gesellschaftsordnung des Kapitalismus ist die eines lebensfeindlichen Natalismus (7). Ihre Methode bringt Evi Nakano Glenn prägnant auf den Punkt: erzwungene Care-Arbeit. Das erzwungene Gebären lässt sich meiner Meinung nach am besten als die physiologisch invasivste Form des Zwangs zur Care-Arbeit verstehen. Mit anderen Worten: Die so genannten »Lebensschützer« trommeln (natürlich) nicht nur für die erzwungene Betreuung des Fötus durch die Erzeugerin, sondern für lebenslangen, privatisierten Zwang zur Sorgearbeit. Für mich als Parawissenschaftlerin ist es frustrierend, dass der Zwangscharakter der Sorgearbeit im Kapitalismus trotz des »Care Turns« in der Wissenschaft immer noch so wenig betont wird. Selbst in diesem erklärtermaßen kritischen Forschungsbereich wird manchmal darauf bestanden, dass das, was die Welt braucht, einfach Care, Care, Care sei. Je mehr Care-Arbeit romantisiert, verflacht und von Kapitalismus, Patriarchat und Staat abstrahiert wird, desto weniger kann es befreiende Politik um sie herum geben.

Welches Leben produzieren, welches töten wir?

Jene, die an der Front der erzwungenen Sorgearbeit stehen, wären sicher überrascht zu hören, dass Pflege und Fürsorge unbeschränkt verfügbare Güter seien, die wir einfach besser finanzieren müssen. Abolitionist*innen werden meiner Meinung nach nicht weit kommen, wenn sie auf diese Weise über Care nachdenken. Nein, zur eigentlichen Substanz der Politik rund um Sorgearbeit kommen wir durch Fragen wie: Fürsorge wie, Fürsorge warum, Fürsorge wo? Dies sind nekropolitische, nicht nur biopolitische Fragen. Sie durchzudenken bedeutet unweigerlich zu fragen: Wem und was sollen wir die Fürsorge entziehen? Ich schlage keine voluntaristischen Maßnahmen gegen sagen wir Milliardäre, fragile Weiße und despotisches fötales Gewebe vor. Mich interessiert, was wir für unsere notwendig selektive Vision davon, was wir reproduktiv hervorbringen wollen, unterbinden müssen. Welche Leben, Haushalte, sozialen Beziehungen, Welten müssen wir nicht produzieren oder vereiteln, um die zu produzieren, die wir wünschen? Das Leben ist untrennbar mit seinem Gegenteil verbunden – es ist nur möglich, weil es den Tod gibt. Das gute Leben, sofern es überhaupt zustande kommt, ist ein Produkt unzähliger Entscheidungen, bestimmten anderen Lebensformen keinen Atem einzuhauchen.

Gegenwärtig wird uns unsere Sorgearbeit entrissen. Sie wird uns abgekauft, und wir verkaufen sie, vor allem, weil wir essen müssen. Aber die Ströme der Märkte verzerren auch unsere Sinne: Wie Kalindi Vora in »Life Support: Biocapital and the New History of Outsourced Labor« beschreibt, nehmen Menschen auf der ganzen Welt weiße (amerikanische) Mittelklassehaushalte als sorgebedürftiger wahr als nicht-weiße Haushalte der Arbeiter*innenklasse anderswo. Währenddessen wird die Fötusproduktion in dieser unserer weißen rassistischen Siedlerkolonie mit einer absolut irren Sentimentalität gefeiert, obwohl sie – abgesehen von ein paar sogenannten familienfreundlichen Steuererleichterungen und Kinderkrediten – fast komplett unfinanziert ist.

Die proletarische Reproduktion in Amerika wird nicht nur nicht unterstützt, sie wird materiell bestraft. Die Kosten für Verhütungsmittel werden nicht vom Staat übernommen. Kinderbetreuung, Kindererziehung, Gesundheitsfürsorge, Wohnraum werden nicht öffentlich finanziert (außer in den lächerlichsten und erniedrigendsten Formen). Trotzdem ist der menschliche Embryo ein öffentliches Gut. Auch wenn seine künftige Betreuung im Kernhaushalt vollständig privatisiert ist, wird die Existenz eines Fötus im Körper einer Schwangeren radikal öffentlich gemacht. Am absurdesten ist, dass dieser Zustand den meisten von uns völlig natürlich vorkommt.

Ich versuche, die Linke für die buchstäbliche Herstellung von Menschen – das heißt, für die Anthrogenese – als eine unterbelichtete Form der Arbeit zu interessieren, die unsere Bereitschaft auf die Probe stellt, Arbeit und Solidarität als etwas zu denken, das vielleicht immer schon im Blut und in den Eingeweiden der anderen schwimmt und sie zerreißt. Ich möchte die Linke dazu verleiten, über das politische Feld der Schwangerschaft nachzudenken, um unseren Wunsch nach und unsere Vorstellungskraft hinsichtlich der Selbstabschaffung der Arbeiter*innenklasse zu schulen. Wie funktioniert Anti-Arbeit im Kontext von Care-Arbeit?

Das Individuum, das Forderungen wie »my body, my choice« aufstellen kann, ist per definitionem keine schwangere Person. Eine schwangere Person ist per definitionem kein Individuum.

Ich weiß, dass das nicht sein kann, aber manchmal fühlt es sich so an, als ob ich mit diesen Grübeleien allein bin. In den letzten fünf Jahren habe ich versucht, ein Loblied auf den erhabenen, perversen Extremsport des Gebärens auf Seite eins eines care-kommunistischen Manifests zu schreiben. Ich bin Forscher*innen des ektogenetischen Labors um die Ecke in Philadelphia, wo ich jetzt wohne, auf die Nerven gegangen; die Forscher*innen dort sind damit beschäftigt, fötale Schafe und menschliche Frühgeburten in »Biobags« »auszubrüten«, wenn auch aus vom Feind finanzierten absolut feindlichen Motiven. Es kann nicht sein, dass ich die Einzige bin, die über Anti-Arbeit-Anthrogenese nachdenkt. Wenn du da draußen bist, Genoss*in, lass uns bitte zusammenarbeiten. Ich komme nicht weiter, ich denke und kämpfe allein.

Beginnen wir mit dem Grundlegenden. Woher kommen die Menschen? Es scheint mir notwendig klarzustellen, dass sich Menschen bis heute (wo Ektogenese noch kein Ding ist) aus winzigen Körpern entwickeln, die aus den Körpern anderer Menschen entstehen. Die DNA dieser anderen Menschen unterscheidet sich vollständig von der des winzigen Körpers, obwohl es sich bei den Molekülen, die an dem xenohospitablen Wettstreit beteiligt sind, um dieselben Moleküle handelt. Im Laufe dieser Auseinandersetzung arbeitet das Fleisch metabolisch, um mehr menschliches Fleisch herzustellen, indem es fötale Augäpfel, fötales Knochengewebe usw. bildet. Die Körper sind nicht eins, und ganz sicher sind sie nicht zwei.

Individuum und Mutterfötus

Erinnern wir uns an das alte feministische Argument über die Etymologie des Wortes »Individuum«: Es schließe die Frau (definiert durch ihre Fortpflanzungsfähigkeit) schon durch seine Definition aus. Die souveräne Unteilbarkeit des westlichen Menschen basiere, so heißt es, auf dem Othering (dem als andersartig Defnieren) derjenigen, die eine Gebärmutter haben, das heißt der potenziell multiplen und damit teilbaren Anatomie. Mit anderen Worten: Das Individuum, das Forderungen wie »mein Körper, meine Entscheidung« aufstellen kann, ist per definitionem keine schwangere Person. Eine schwangere Person ist per definitionem kein Individuum.

Chikako Takeshita hat einen Begriff für diese Situation geprägt: der Mutterfötus. Damit bietet sie eine alternative Ontologie des schwangeren Körpers an – eine, die die materielle Unterscheidung zwischen dem »mütterlichen« und dem »fötalen« Körper aufhebt – und besteht darauf, dass wir lernen müssen, den »Mutterfötus-Holobionten« (8) als eine grenzüberschreitende Cyborgfigur zu denken, die in symbiotischer und symbiogenetischer Koproduktion tätig ist. Ich glaube, dass Takeshitas Intervention uns einen Weg aus der diskursiven Sackgasse weist, in der Feminist*innen jahrzehntelang versucht haben, einen mehr-als-menschlichen Befreiungskampf – den Kampf des Mutterfötus-Holobionten – auf humanistischem Terrain zu führen.

Wir sollten aufhören, uns selbst zu infantilisieren, indem wir so tun, als gäbe es bei einer Abtreibung nichts zu töten.

Warum sollte man es nicht laut aussprechen? Die Freiheit von der Zwangsarbeit, die Abtreibungen bieten, ist eine fetizidale Freiheit. Durch die Tötung des Fötus in ihnen hört der Mutterfötus auf, »Dividuum« zu sein, und tritt wieder in die Sphäre der vermeintlichen »Individuen« ein. Die Abtreibung ist selbstverständlich und empirisch ein Akt der Tötung. Sie ist zweifellos auch ein Akt der Gesundheitsfürsorge und sicherlich eine unabdingbare Voraussetzung für körperliche Autonomie. Wir sollten aufhören, uns selbst zu infantilisieren, indem wir so tun, als gäbe es bei einer Abtreibung nichts zu töten. Es gibt etwas: keine Person, sondern eine Proto-Person, ein Lebewesen wie ein Schmetterling, ein Opossum oder ein Wal. Eine Abtreibung tötet dieses Lebewesen. Und es ist unglaublich gut, wenn man das zulässt. Abtreibungen werden nicht bereut. Obwohl es sich um Tötungen handelt, sind Abtreibungen nachweislich überwältigende Glücksproduzenten.

Die Tötung eines Lebewesens – selbst eines Bandwurms im eigenen Darm – ist eine ernstzunehmende Sache. Insofern stimme ich mit den faschistischen Befürworter*innen des Gebärzwangs darin überein, dass die ethische Berücksichtigung von Föten etwas ist, das auf unserer Liste der zu erreichenden Ziele stehen sollte. Im Rahmen meines antifaschistischen Repro-Utopismus möchte ich eines Tages an dem noch undenkbaren Ort ankommen, an dem die ethische Berücksichtigung von Föten möglich geworden ist, vielleicht dank der von Schwangeren kontrollierten ektogenetischen Technologien. Das ist kein wichtiger Faktor, der mich antreibt, aber er steht auf der Liste.

Fürs Erste gilt: Zu leugnen, dass eine Abtreibung etwas Lebendiges tötet, gibt den Befürworter*innen erzwungener Schwangerschaften nur Boden unter den Füßen und zwingt Abtreibungsbefürworter*innen zu bizarren Verrenkungen aus Euphemismus, Entschuldigung und Selbstsabotage. Abtreibung tötet, aber im Gegensatz zu den allermeisten Formen des Tötens ist sie eine unverzichtbare Technologie für die kollektiven Gestaltung des guten Lebens. Wir sollten genauso frei sein, ungebetene Proto-Personen in unserem Körper zu töten, wie wir Bakterien, Protozoen und Parasiten aller Art töten dürfen.

Abtreibung ist Freiheit

Die Einbeziehung der Abtreibung in die Gesundheitsfürsorge sollte als ein großartiger politischer Sieg anerkannt werden, gerade weil sie, wie viele andere Formen der Gesundheitsfürsorge auch, das Töten beinhaltet. Denken Sie an das Wort Anti-Biotikum. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Tötungen sind Abtreibungen, ebenso wie Antibiotika, ein öffentliches moralisches Gut. Wenn der Humanismus diese zentrale, banale Realität der jahrtausendealten Praktiken unserer Spezies nicht berücksichtigen kann, dann müssen Schwangerschaftskommunist*innen mit dem Humanismus brechen.

Anthrogenese, die Menschenproduktion, muss und wird frei sein. Ich gebe zu, dass der Blick von dort, wo ich stehe, voller Schrecken ist. Aber, wie Jenny Brown sagt, haben unbezahlte Schwangere und potenzielle unbezahlte Schwangere in den USA das Potenzial unserer Verhandlungsposition noch nicht erkannt. Eine Bewegung für reproduktive Freiheit, die stärker ist als alle ihre Vorgänger aus den 1970er Jahren, könnte über den Sommer aus der Asche von Roe auferstehen. Ich bitte darum, dass unsere kollektive Vorstellungskraft in den kommenden Jahren ein wenig Zeit darauf verwendet, darüber zu spekulieren, was – neben dem Recht, private Entscheidungen über die Schwangerschaft zu treffen, oder dem Recht auf medizinische Versorgung – Schwangere fordern könnten. Welche Freiheiten könnten Schwangere gemeinsam artikulieren und in Anspruch nehmen?

Lasst uns zusammen mit unseren nicht-weiblichen Cyborg-Holobionten-Genoss*innen vorsichtig lernen, die produktiven und auch antiproduktiven (sogar destruktiven!), liebenden und gewalttätigen, weltschaffenden und -verhindernden, amniotechnischen Kräfte der Anthrogenese zu nutzen, die nicht mit der Schwangerschaft enden, sondern sich auf das gesamte Netz des Lebens erstrecken.

Der Horizont der freien Anthrogenese ruft uns auf, das Leben bewusst herzustellen, einige Körper zu schaffen und für sie zu sorgen, während wir andere durch Sorgeentzug bewusst verunmöglichen. Wir sollten lernen, die Schönheit und die Kraft des Neins von Schwangeren zu feiern, ohne auf medizinische Gründe, Zwangslagen oder andere besondere Begründungen zurückzugreifen. Die Anti-Arbeit-Anthrogenese deromantisiert die Sorgearbeit und denaturalisiert das Menschliche, indem sie Solidarität praktiziert: Sie rechtfertigt den Entzug der Arbeitskraft von Schwangeren, egal aus welchem Grund – und auch ganz ohne Begründung.

Sophie Lewis

ist Schriftstellerin und Parawissenschaftlerin und unterrichtet am Brooklyn Institute for Social Research. Sie ist Autorin von »Full Surrogacy Now: Feminism Against Family« und von »Abolish the Family: A Manifesto for Care and Liberation«, das demnächst bei Verso Books und Salvage Editions erscheint. Man kann sie auf Patreon unterstützen und ihre Vorträge unter lasophielle.org nachhören.

Die englische Originalfassung des Artikels erschien am 1. Juni – noch vor der endgültigen Entscheidung des Supreme Court, aber nach dem Leak des Gutachtens des Vorsitzenden Richters Alito – unter dem Titel »Free Anthrogenesis: Antiwork Abortion« auf salvage.zone. In der Printausgabe ist eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes zu lesen. Übersetzung: Jan Ole Arps

Anmerkungen:

1) Die Entscheidung Roe v. Wade von Januar 1973 verankerte das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung. In dem Grundsatzurteil hatte der US Supreme Court Schwangerschaftsabbrüche unter das Recht auf Privatsphäre gestellt und alle gesetzlichen Einschränkungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten aufgehoben.

2) Planned Parenthood ist eine Non-Profit-Organisation, die USA-weit 650 Kliniken betreibt, in denen unter anderem Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden können. Die Organisation wird seit Jahren von Abtreibungsgegner*innen attackiert.

3) Framing beschreibt die Rahmung eines Themas in einem bestimmten Bedeutungsumfeld und ihre (oft nicht bewussten) politischen Effekte. Wird über Steuern beispielsweise mit Begriffen wie »Steuerlast« oder »Steuererleichterung« gesprochen, so schwingt mit, dass Steuern etwas Schweres, Schlechtes sind und eine Erleichterung wünschenswert wäre. Dies wäre also ein Framing der Diskussion um Steuern, dass die Deutung marktliberaler Positionen unterstützt.

4) Underground Railroad war der Name für ein von Gegner*innen der Sklaverei aufgebautes Schleusernetzwerk, das im späten 18. und im 19. Jahrhundert Fluchthilfe für versklavte Schwarze Menschen aus den Süd- in die Nordstaaten der USA organisierte.

5) Das englische Wort »possession« kann sowohl Besitz als auch Bessensein bedeuten.

6) Eine Doula ist eine nicht medizinisch ausgebildete Geburtshelferin.

7) Natalismus ist die Propagierung von Kinderreichtum und Bevölkerungwachstum, wie sie etwa die christliche und völkische Rechte oder sogenannten Lebensschützer*innen betreiben.

8) Ein Holobiont ist ein »Gesamtlebewesen«, etwa ein Wirtskörper und die darin lebenden Organismen.

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