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|Thema in ak 697: 1923

Vergessene Revolution

Trotz Betriebsrätebewegung, proletarischer Bewaffnung und großen Streikwellen sagte die KPD-Führung den »Deutschen Oktober« ab

Von Stephan Kimmerle und Nelli Tügel

Ein Mann wird von Soldaten abgeführt.
Da wurde nicht lange gefackelt: Reichswehrsoldaten führen ein Mitglied der Proletarischen Hundertschaften in Sachsen ab. Foto: Bundesarchiv/Wikimedia Common, CC BY-SA 3.0

1923 in Deutschland – das ist das Jahr der Hyperinflation. 1923 ist auch das Jahr von Hitlers Bierhallenputsch, der Farce, die vor der Tragödie hermarschierte. (ak 696) Und sonst? Auf der Linken sind andere Ereignisse der Jahre ab 1918 präsent: natürlich die November-Revolution, der Kapp-Putsch 1920, vielleicht die Märzaktion 1921. Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1923, die in der Weimarer Republik den Wendepunkt zwischen einem Revolutionszyklus (1918-1923) und einigen Jahren relativer Stabilität (den so genannten Goldenen Zwanzigern) markierten, sind dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten und vielen Linken, vor allem in Deutschland, kaum bekannt. Dabei war 1923 ein Jahr intensiver Selbsttätigkeit der Arbeiter*innenklasse. 

Millionen von Lohnabhängigen beteiligten sich an Streiks, Protesten und Unruhen. Oskar Hippe, kommunistischer Arbeiter im ostdeutschen Braunkohlerevier rund um Leipzig und Halle, beschrieb die Lage 1923 in seiner Autobiografie so: »Politisch hatten Regierung und Kapital ihre Absicht, die revolutionäre Bewegung mit Hilfe der Sozialdemokraten zu zerschlagen, nicht durchgesetzt. Im Gegenteil – der Einfluss der Kommunistischen Partei war noch gewachsen. (…) In den Betrieben war die Unruhe ins Unermessliche gewachsen. Wir brauchten uns nicht sehr anzustrengen, um die Kollegen zu überzeugen, dass der Kampf der einzige Ausweg war.« 

Konfrontiert mit bewaffneten Banden der Konterrevolution, den Freikorps – oft reorganisiert in faschistischen Banden – und mit Polizei- sowie Reichswehreinsätzen, organisierten sich Beschäftigte in sogenannten Proletarischen Hundertschaften. Diese bestanden zur Hälfte aus kommunistischen, zu 30 bis 35 Prozent aus nicht-organisierten und zu 15 bis 20 Prozent aus sozialdemokratischen Arbeiter*innen. Bis Oktober 1923 waren sie auf etwa 133.000 Kämpfer*innen angewachsen, ihre Zentren lagen in Sachsen und Thüringen. 

Die Streikbewegungen schlugen sich zudem in einer drastischen Linksverschiebung innerhalb der Betriebsräte nieder. Betriebsrätekonferenzen bildeten ein organisatorisches Zentrum, in dem kommunistische, sozialdemokratische und unorganisierte Arbeiter*innen zusammenkamen. Die Konferenzen hatten daher Autorität über Parteigrenzen hinweg, obwohl sie von kommunistischen Aktivist*innen dominiert wurden. 

Die Betriebsräte setzten oft sogenannte Kontrollausschüsse ein, in denen besonders häufig Frauen aktiv waren, um direkt gegen die Inflation vorzugehen. Die Zeitung Bergische Arbeiterstimme berichtete am 27. Februar 1923 etwa: »Vor kurzem haben in mehreren Städten des Industriegebietes die Belegschaften einiger Großbetriebe unter Führung von Kontrollausschüssen die Herabsetzung der Preise für Fette und Kleidungsstücke erzwungen. Sowohl aus Hagen und Haspe wie auch aus Wald bei Solingen (um nur einige Fälle zu nennen) wurde gemeldet, daß die Initiativen zu diesen Aktionen gegen den Wucher aus den Reihen der Betriebsräte kam (…).« 

Die Ereignisse des Jahres 1923 entrückten der Linken später auf eigentümliche Weise, vieles geriet in Vergessenheit.

Nach Monaten von Protesten, Streiks und Zusammenstößen mit Polizei und Faschisten erreichten die Bewegungen einen Höhepunkt im August: Ein Generalstreik in Berlin begann sich reichsweit auszubreiten. Innerhalb weniger Tage implodierte die Regierung des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno, nachdem sich rund 3,5 Millionen Beschäftigte dem Ausstand angeschlossen hatten. Organisierendes Zentrum waren die Berliner Betriebsräte und ihr Reichsausschuss. Sie forderten am 11. August u.a. den sofortigen Rücktritt der Regierung, die Errichtung einer »Arbeiter- und Bauernregierung« sowie »die Beschlagnahmung aller Lebensmittel und ihre gerechte Verteilung unter Kontrolle der Arbeiterorganisationen«.

Der Sozialist Julius Braunthal, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg im Sekretariat der Sozialistischen Internationale arbeitete, schrieb: »Der Generalstreik war weder von der sozialdemokratischen Parteileitung noch von der kommunistischen geplant gewesen. Er war ein elementarer Ausdruck der Verzweiflung und Erbitterung der Arbeiter über unerträgliche Not. Er stand unter Führung kommunistischer Betriebsräte, die erwarteten, ihre Parteileitung würde den Generalstreik zur Revolution weitertreiben.« Doch was machte diese Leitung?

Angst vor einer neuen Märzaktion

Die KPD-Zentrale um den Vorsitzenden Heinrich Brandler und ihren Cheftheoretiker August Thalheimer hatte »eine sehr vorsichtige und bedächtige Taktik eingeschlagen. Wir haben bewusst gesagt, wir wollen bei Beginn der Bewegung nicht von uns aus versuchen, die Bewegung zu forcieren und vorwärtszutreiben«, so formulierte es Brandler selbst noch im August. Der Hintergrund: Er hatte Angst vor isolierten Aktionen und einer Wiederholung der gescheiterten Märzaktion von 1921. Bei dieser war die KPD der »Offensivtheorie« gefolgt und hatte erfolglos versucht, künstlich eine Aufstandssituation herbeizuführen. 

Bei einer Tagung des Zentralausschusses der KPD am 16. und 17. Mai hielt die Parteiführung noch fest, dass den Anhänger*innen vermittelt werden müsse, »dass wir uns jetzt nicht in der Periode des Angriffes des Proletariats, sondern leider in der Periode der Offensive des Kapitals befinden.« Und weiter: »Wir sind heute nicht imstande, die Diktatur des Proletariats aufzurichten, weil dazu die Vorbedingung, der revolutionäre Wille bei der Mehrheit des Proletariats, fehlt.« 

Nur drei Monate später wollte diese Führung plötzlich Kurs auf einen Aufstand nehmen. Wirklich?

Im Rückblick auf die Ereignisse schrieben die führenden KPDler Hermann Remmele, Bernard Koenen, Hugo Eberlein und andere – organisiert in einer »Mittelgruppe« zwischen Brandler und Thalheimer auf der einen und den Ultra-Linken um Ruth Fischer, Arkadi Maslow und Ernst Thälmann auf der anderen Seite – im Dezember 1923, die Partei habe »nicht rechtzeitig die Bedeutung der großen proletarischen Massenkämpfe im Ruhrgebiet, in Oberschlesien und des Cuno-Streiks erkannt und daher durchaus nicht sofort die notwendige Umstellung vorgenommen«.

Die KPD habe die Vorbereitungen für einen Aufstand nicht aus den Kämpfen gegen die Ruhr-Besetzung oder gegen die Cuno-Regierung abgeleitet, sondern versucht, Massenbewegungen »bis zum ›endgültigen Schlag‹ zu verschieben versucht und so die Massenbewegung gedämpft statt gefördert.« Der Historiker Florian Wilde fasst dieses Dilemma in seiner Biografie von Ernst Meyer, KPD-Vorsitzender vor 1923, so zusammen: »Ein weiteres Mal zeigte sich die Schwäche der KPD-Führung: Aus dem Versuch einer Kompensation ihrer Passivität im Kapp-Putsch heraus in der Märzaktion in die Offensive gegangen und damit dramatisch gescheitert, wurde dieser Aktionismus nun erneut durch eine zögerliche Politik kompensiert.«

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Rosa Meyer-Leviné, die Partnerin von Meyer, schreibt in ihrer Autobiografie: »Der Grundirrtum (der KPD-Führung) lag in ihrer Vorstellung, man müsse die revolutionären Energien aufsparen für die ›letzte Schlacht‹.« Brandler sei mit seinem »Drang zur Sparsamkeit« so weit gegangen, Kämpfe nicht nur nicht zu befördern, sondern sogar »verschiedentlich bereits laufende Aktionen wieder abzublasen«, so Meyer-Leviné.

Selbst von den Cuno-Streiks war der KPD-Vorsitzende kaum beeindruckt. Im Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 14. August wird er so wiedergegeben: »Die Bewegung war lediglich eine kraftlose, spontane Rebellion, ausgelöst durch die allgemeine Teuerung, verschärft durch die Zahlungsmittelknappheit. Wir müssen offiziell sagen, dass der Sturz Cunos eine Folge der Berliner Bewegung war, obwohl es nicht stimmt.« 

Das Drängen auf einen Aufstandsplan kam daher auch nicht von der KPD-Führung selbst – sondern wurde von den Diskussionen der Kommunistischen Internationale, der Komintern, in Moskau angestoßen. Am 15. August forderte Grigori Sinowjew, damals Vorsitzender der Komintern, unterstützt von Leo Trotzki, aber skeptisch beäugt von Josef Stalin, einen Plan zum Aufstand in Deutschland. Angesichts der Betriebsräte-Bewegung und der Cuno-Streiks hielten sie schnelles Handeln für geboten. 

Der Aufstandsplan

Nach anfänglicher Ablehnung lenkte die KPD-Führung ein und akzeptierte einen Termin für den Aufstand Anfang November. Der Plan sah vor, dass die KPD die Stärke der Bewegung in Sachsen und Thüringen nutzen sollte: die große Unterstützung für die Kommunist*innen dort, den hohen Organisationsgrad der Proletarischen Hundertschaften sowie die Linkswende innerhalb der dortigen SPD. In beiden Ländern trat die KPD daher in die Landesregierungen ein, am 10. Oktober in Sachsen und am 16. Oktober in Thüringen. Die Reichsregierung reagierte entsprechend: Bereits am 13. Oktober wurde die sächsische Landesregierung faktisch entmachtet, die dortige Polizei der Reichsregierung unterstellt. 

Der Kampf um die Arbeiter*innenregierungen in Sachsen und Thüringen sollte – gemäß dem Plan der KPD – der Anstoß zu einer deutschlandweiten Aufstandsbewegung sein, die am 9. November mit einer Reichs-Betriebsrätekonferenz den Übergang zu einer sozialistischen Republik besiegeln sollte. Entscheidender Schritt dahin: Eine Betriebsräteversammlung am 21. Oktober in Chemnitz sollte zur Verteidigung der bedrohten Arbeiter*innenregierung in Sachsen die Eskalation mit einem Aufruf zum Generalstreik einleiten. Brandler brachte dort einen entsprechenden Vorschlag zum allgemeinen Ausstand ein. 

Nur in Hamburg wurde dennoch zwischen dem 23. und 25. Oktober der Aufstand geprobt – und schnell niedergeschlagen.

Doch dann geschah laut Thalheimer folgendes: »Der linke SPD-Minister (Georg) Graupe trat auf und erklärte, falls die Kommunisten nicht darauf verzichteten, die Frage des Generalstreiks in dieser Versammlung zu stellen, dann würde er mit seinen sieben Leuten die Versammlung verlassen. (…) Das bedeutete, (…) daß gar keine Rede davon sein konnte, daß etwa die Mehrheit der sächsischen Arbeiterschaft in diesem Moment bereit war, um die Macht zu kämpfen. (…) Auf Grund der Einsicht in die wirkliche Lage kam der einstimmige Beschluß der Zentrale zustande, daß der Rückzug angetreten werden müsse.« Es sei, so Thalheimer, »nicht gelungen, im Laufe des Jahres 1923 durch die Taktik der Einheitsfront die Mehrheit der deutschen Arbeiter für den Kampf um die Macht zu erobern.« 

Der Aufstandsplan wurde abgesagt. Nur in Hamburg wurde dennoch zwischen dem 23. und 25. Oktober der Aufstand geprobt – und schnell niedergeschlagen. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob die Hamburger Delegierten ihre Heimatstadt nicht rechtzeitig erreichten, um den Aufstand abzusagen, oder ob die Hamburger KPD-Führung um den Parteilinken Thälmann selbst Fakten schaffen wollte. 

War da was?

Brandlers und Thalheimers spätere Version der Geschichte rückte alle Kritiker*innen am Kurs ihrer Führung in die Nähe von Putschist*innen, die aus der Märzaktion 1921 nichts gelernt hätten. Ihre zentrale These lautete: 1923 habe es gar keine revolutionäre Situation gegeben, die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse sei noch der Sozialdemokratie, nicht den Kommunist*innen gefolgt. Thalheimer fasste diese Version der Geschichte 1931 in der, für die Historisierung von 1923 wirkmächtigen Broschüre »1923: Eine verpaßte Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923« zusammen. 

Der Streit unter (linken) Historiker*innen bewegt(e) sich seither oft um die Frage, wie groß der Einfluss der KPD tatsächlich gewesen sei. Der Augenzeuge und Historiker Arthur Rosenberg schrieb in den 1930er Jahren, zu diesem Zeitpunkt schon profilierter »Kommunismuskritiker« und damit vermutlich ohne großes Interesse daran, die KPD im Rückblick einflussreicher erscheinen zu lassen als sie war: »Ohne Zweifel hatte im Sommer 1923 die KPD die Majorität des deutschen Proletariats hinter sich.« Rosenberg verweist u.a. auf eine Abstimmung unter Mitgliedern des Metallarbeiter-Verbandes in Berlin, bei der im Juli die Kommunist*innen 54.000 und die Sozialdemokrat*innen nur noch 22.000 Stimmen erhalten hatten. Auch Ossip K. Flechtheim, der Rosenbergs These in dem Buch »Die KPD in der Weimarer Republik«, zu einem Zeitpunkt, an dem er ebenfalls Gegner des Kommunismus ist, erörterte, hielt diese für plausibel. Er verwies auf Zahlen, die den 1923 stark wachsenden Einfluss der KPD in den Gewerkschaften belegen, besonders in den industriellen Hochburgen. (1) 

Dabei springt vor allem der Widerspruch ins Auge, dass einerseits Kommunist*innen die unglaublich lebendigen Bewegungen der Arbeiter*innenklasse im Sommer und Herbst 1923 vielerorts anführten, doch andererseits die KPD-Zentrale sich nicht annähernd auch nur daran versuchte, die sich in den Proletarischen Hundertschaften, den Betriebsräten und Kontrollausschüssen formierende ökonomische, militärische und politische Macht zusammenzufassen und zu organisieren. Was wäre möglich gewesen, wenn sie es getan hätte? Wichtiger als kontrafaktisches Mutmaßen darüber scheint uns, den Unwillen der KPD-Zentrale historisch zu kontextualisieren.

Einheitsfrontpolitik

Die relative Passivität der Führung der KPD offenbarte eine tiefe Spaltung innerhalb der Partei bezüglich der sich ihr stellenden Aufgaben, besonders in Bezug auf die Einheitsfront. Diese Debatte zog sich durch die gesamte Kommunistische Internationale. Die Misserfolge der Revolution in Deutschland 1918 bis 1921, aber auch der revolutionären Versuche in Ungarn, Italien und anderen Ländern zeigten, dass die Kommunist*innen nur eine Minderheit der Arbeiter*innenklasse anführten und der Einfluss der Sozialdemokratie erst noch überwunden werden musste, wenn eine sozialistische Revolution erfolgreich sein sollte. Die Einheitsfrontpolitik – beschlossen auf dem dritten Weltkongress der Komintern im Jahr 1921 – sollte diesem Ziel dienen: Arbeiter*innen, die den sozialdemokratischen Parteien folgten, sollten durch gemeinsamen Kampf, und zwar auch in Teilkämpfen mit ihren Organisationen und deren Anführer*innen um Reformen, von der Überlegenheit der revolutionären Methoden und Ziele der Kommunist*innen überzeugt werden.

In Bezug auf diese Taktik ergaben sich im Wesentlichen drei Flügel: Auf der Rechten der kommunistischen Bewegung wollten Genoss*innen wie Brandler und Thalheimer eine Einheitsfront und nichts anderes. Sie ersetzte gewissermaßen das Ziel, das mit ihr eigentlich erreicht werden sollte. Auf der Linken standen Genoss*innen wie Fischer, Maslow und Thälmann, die die Einheitsfront schon immer abgelehnt hatten. Sie wollten sofort losschlagen und keine taktischen Schritte wie den Eintritt der KPD in die von SPD-Linken geführten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen akzeptieren.

Unabhängig von diesen Polen bewegte sich eine dritte Gruppe, deren Position 1923 u.a. Leo Trotzki artikulierte. Er unterstützte die Einheitsfrontpolitik der KPD-Führung nach der gescheiterten Märzaktion 1921 gegen die Parteilinke. Doch für Trotzki blieb die Einheitsfront eine Taktik, die zu einem Punkt führen sollte, an dem sie sich erschöpft hätte und durch einen Kurs auf einen Aufstand der Arbeiter*innenklasse ersetzt würde. Trotzki glaubte, dass dieser Punkt 1923 in Deutschland erreicht war. Er lehnte also die These der Parteilinken ab, dass ein Aufstand in Deutschland quasi jederzeit hätte erfolgreich sein können und teilte in den Vorjahren die Analyse von Brandler und Thalheimer. Dann galt andererseits für Trotzki, dass 1923 die Zeit tatsächlich zum revolutionären Aufbruch gekommen war – und ungenutzt verstrich. Die zeitlos vorgebrachten Vorschläge der Parteilinken gewannen zu diesem Zeitpunkt seiner Ansicht nach ihre Berechtigung.

Doch wenn dem so war: Warum ging dann die von Thalheimer zitierte Konferenz am 21. Oktober in Chemnitz so fürchterlich schief?

Rückzug ohne Kampf

In der oben schon erwähnten Bilanz der Mittelgruppe schrieben Remmele, Koenen, Eberlein und andere, die KPD habe 1923 »die Rolle und den Charakter der linken SPD-Führer verkannt und in den Reihen der Partei die Illusion aufkommen lassen, als ob diese Führer gemeinsam mit der proletarischen Vorhut kämpfen würden«. 

Das scheint auf Thalheimers Herangehensweise zuzutreffen. Für ihn galt auch noch 1931 im Rückblick auf die Ereignisse, dass es richtig gewesen sei, auf die Umsetzung der Aufstandspläne zu verzichten, nachdem Graupe gedroht hatte, mit den sieben offiziellen SPD-Vertretern die Versammlung von 450 Arbeiter*innendelegierten zu verlassen. 

Um die Chemnitzer Konferenz ranken sich viele Mythen. Es existieren zu wenige Augenzeugenberichte darüber, wie die Delegierten der Konferenz tatsächlich auf Brandlers Vorschlag reagierten. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass die Debatte darüber auf Graupes Drohung hin abgebrochen wurde, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Wir könnten nur spekulieren, was passiert wäre, wenn Brandler auf einer Diskussion über einen Generalstreik zur Verteidigung der sächsischen Arbeiter*innenregierung bestanden hätte. Tatsache aber ist, dass Brandlers und Thalheimers spätere Erzählung über diese Konferenz ihre Interpretation der Einheitsfront offenlegt: In dieser hätten nicht die sozialdemokratischen Arbeiter*innen von den Kommunist*innen gewonnen werden, sondern die offiziellen SPD-Vertreter*innen hätten als Ergebnis der Einheitsfrontmethode der sozialistischen Revolution zustimmen müssen. 

Pierre Frank zieht in seiner Geschichte der Kommunistischen Internationale die Parallele zwischen dem 21. Oktober 1923 in Deutschland und dem 25. Oktober (7. November neuer Zeitrechnung) in Russland 1917: »Man denkt unwillkürlich an Lenin in den Tagen, die dem Oktoberaufstand vorangingen, wie er befürchtete, die Entscheidung hänge von dem Zusammentreten des Allrussischen Sowjetkongresses ab, von den möglichen, um nicht zu sagen unvermeidlichen Machenschaften in einer großen Versammlung bei einer Frage wie der des bewaffneten Kampfes um die Macht. Dieses Zögern, ja sogar Ablehnung, waren innerhalb der Parteiführung vorhanden. Er hielt es für notwendig, die Aktion vor Eröffnung des Kongresses zu beginnen, um ihn in die Aktion hineinzuziehen. Wäre er wie Brandler vorgegangen, hätte es nicht einen russischen Graupe, sondern mehrere gegeben, die gedroht hätten, sich vom Kongress zurückzuziehen; es gab im übrigen mehr als einen, der den Kongress verließ, als der Aufstand im Gange war.«

Die Niederlage hatte brutale Folgen, auch für die KPD. Während sie 1923 um rund 70.000 Mitglieder auf knapp 300.000 angewachsen war, fiel die Mitgliedschaft nach der Niederlage auf unter 100.000. Besser erging es dagegen dem deutschen Kapitalismus: Mit Hilfe der USA, die nach 1923 gegenüber Deutschland einen Paradigmenwechsel vollzog, wurde er zumindest bis 1929 stabilisiert. Für die junge Sowjetunion und die Komintern war die Niederlage in Deutschland ebenfalls ein Wendepunkt, sie hatte verheerende Folgen: Demoralisiert und isoliert durch das Ausbleiben der Weltrevolution konnte der Stalinismus sich durchsetzen (mehr dazu auf der nächsten Seite). War der strategische Horizont bis zum Scheitern des »Deutschen Oktober« die kommende Weltrevolution gewesen, so rückte diese durch die Niederlage in Deutschland endgültig in weite Ferne.

Linker Gedächtnisschwund

Doch nicht nur das. Auch die Ereignisse des Jahres 1923 selbst entrückten der Linken auf eigentümliche Weise. Warum? Die bürgerliche Geschichtsschreibung hatte wenig Antrieb, die Versuche der Selbstermächtigung der Arbeiter*innenklasse zu dokumentieren. In ihrer Erzählung folgten auf Hyperinflation und Ruhrbesetzung Putschversuche von den »totalitären Rändern«, von rechts wie von links. Diese Art der Historisierung von 1923 betreiben auch einige aktuelle Neuerscheinungen anlässlich des 100. Jahrestages. Das wiederum ist recht kompatibel mit den beiden Haupterzählungen, die sich später innerhalb der kommunistischen Bewegung – in einem zunehmend gegen Kritiker*innen aus den eigenen Reihen repressiven und im Umgang mit den Fakten recht ruppigen System – etablierten und die beide die umfassende Selbsttätigkeit der Arbeiter*innenklasse in den Hintergrund treten lassen: Zum einen die stalinistische Heldenerzählung des am Hamburger Aufstand beteiligten (späteren KPD-Vorsitzenden und Stalin-Getreuen) Thälmann, in der kitschige Ikonisierung und die Bewunderung der Entschlossenheit einzelner Anführer*innen jede Analyse ersetzten. Zum anderen die Behauptung Thalheimers und Brandlers, eine revolutionäre Situation habe es 1923 nicht gegeben. 

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Gründen für die Niederlage war eingeklemmt zwischen diesen beiden Haupterzählungen kaum möglich. Hundert Jahre nach dem Scheitern einer revolutionären Massenbewegung für Sozialismus in Deutschland besteht die Chance, sich dieser endlich so anzunähern, wie sie es verdient.

Stephan Kimmerle

lebt in Seattle und ist Mitglied bei Reform & Revolution, einem marxistischen Zusammenschluss in den Democratic Socialists of America (DSA).

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Anmerkung:

1) U.a. C.L.R. James teilte Rosenbergs Einschätzung in seinem Grundlagenwerk zur Geschichte der Komintern. Der SPD-nahe Historiker Hermann Weber sah es später ähnlich, wenn auch vorsichtiger formuliert: »Das Jahr 1923 brachte (…) einen stetig wachsenden Einfluss der KPD, der es vermutlich zeitweise gelang, die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen.«

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