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|ak 696 | Geschichte

Zehn Jahre bis 1933

Täter, Opfer, Profiteure: das deutsche Krisenjahr 1923 und seine Folgen

Von Jens Renner

Reichswehr-Soldaten riegeln eine Straße mit gefälltem Bajonett ab
Mit Waffengewalt gegen die linke Einheitsfrontregierung: Reichswehr in Freiberg, Sachsen. Foto: Bundesarchiv/Wikimedia Common, CC BY-SA 3.0 DE

Hundert Jahre nach 1923 dürften nur wenige Menschen in Deutschland etwas mit der Jahreszahl verbinden. Dabei handelt es sich, glaubt man aktuellen Erzeugnissen diverser etablierter Buchverlage, um ein weiteres deutsches »Schicksalsjahr«. Mit etlichen Neuerscheinungen (1) wenden sie sich an historisch Interessierte – nicht nur, um Umsatz zu machen, sondern auch, um das kollektive Gedächtnis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Damit wird das Jubiläumsjahr nicht nur für die Feuilletons, sondern auch für die hiesige Linke zu einem Thema, das die kritische Debatte lohnt.

Denn wie üblich interpretieren Autor*innen wie Rezensent*innen die Ereignisse in ihrem Sinne – und präsentieren Gute und Böse. Zu Letzteren gehören natürlich, schön ausgewogen, »die Extremisten von rechts und links«. 

Als Helden vorgestellt werden »die Demokraten«, denen die Rettung der Weimarer Republik zu verdanken sei, namentlich Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) und Kanzler Gustav Stresemann (DVP). (2) Zwar überlebte die gerettete Republik nur noch bis 1933, aber das ist eine andere Geschichte. Oder vielleicht doch nicht? 

Ruhrkrise und Hyperinflation

Das Jahr 1923 begann mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen. Im zweiten Halbjahr 1922 hatte das im Weltkrieg unterlegene Deutsche Reich erst die Reparationszahlungen und dann auch die Lieferung von Holz und Kohle eingestellt und damit gegen den Versailler Vertrag verstoßen. Dessen Bestimmungen nannte Lenin »noch bestialischer und niederträchtiger« als den Sowjetrussland 1918 von den Deutschen aufgezwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Offensichtlich war nach dem imperialistischen Krieg von den Siegern ein »gerechter Frieden« nicht gewollt. Der Kampf um Einflusszonen und Bodenschätze ging weiter. Unter Ministerpräsident Raymond Poincaré wollte Frankreich insbesondere Zugriff auf Kohle und Stahl in Deutschland. Vorübergehend unterstützte die französische Regierung auch separatistische Bestrebungen im Rheinland.

Dagegen und insbesondere gegen die militärische Besetzung richtete sich auf deutscher Seite eine Welle des Nationalismus. Reichspräsident Friedrich Ebert rief am 13. Februar die Bevölkerung zum »passiven Widerstand« auf. Staatsbeamte sollten jede Zusammenarbeit mit den Besatzern verweigern. Das wurde weitgehend eingehalten. Die extreme Rechte ging noch weiter. Sabotageakte und gewaltsame Angriffe auf Besatzungstruppen gehörten zu ihren Kampfformen. Der Nazi Albert Leo Schlageter wurde von einem französischen Militärgericht wegen Sabotage zum Tode verurteilt und hingerichtet – ein Märtyrer nicht nur für die extreme Rechte. Der Beauftragte der Kommunistischen Internationale, Karl Radek, nannte ihn einen »mutigen Soldaten der Konterrevolution«. Auch die KPD geriet auf Abwege. Ihre – zum Glück erfolglosen – Versuche einer Einheitsfront mit der völkischen Bewegung ging unter dem Namen »Schlageter-Kurs« in die Liste kommunistischer Fehlleistungen ein.

Dass die SPD-nahe Stiftung heute noch Eberts Namen trägt, sagt alles über die verpasste sozialdemokratische Vergangenheitsbewältigung.

Der proletarische Widerstand hatte viele Facetten. Dazu gehörten Streiks, Hungerkrawalle und Plünderungen. Oft wurden sie von vaterländischen Gesängen begleitet. Im November hetzten völkische Agitatoren mit der Lüge, an der Brotpreiserhöhung wären »die Juden« schuld, zum Pogrom im Berliner Scheunenviertel. Zugleich war der Widerstand gegen die Besatzung auch eine Fortsetzung der antimilitaristischen Revolution ab November 1918. Über die Kämpfe der Arbeiter*innen im Ruhrgebiet schreibt der irische Historiker Mark Jones: »Die Anwesenheit bewaffneter Soldaten radikalisierte die Arbeiter, deren Widerstand gegen jede Form militärischer Präsenz an ihrem Arbeitsplatz auf einer langen Tradition der Feindseligkeit der Arbeiterschaft gegen jedweden Militarismus im Ruhrgebiet beruhte.« Allerdings blieb es nicht bei bloßer militärischer Präsenz. Über die Zahl der Opfer schreibt Reinhard Sturm: »Von den Besatzern verursachte Gewaltakte und Unfälle forderten bis August 1924 137 Tote und 603 Verletzte.« Beim »Ostermassaker« erschossen französische Soldaten 13 protestierende Arbeiter auf dem Gelände der Essener Krupp-Werke.

Auf Dauer zerrüttete die Politik des passiven Widerstands die deutschen Staatsfinanzen: Steuereinnahmen blieben aus, während die Gehälter der Beamten weiter gezahlt wurden. Auch die Eigentümer*innen und Belegschaften stillgelegter Betriebe erhielten staatliche Unterstützung – mit Hilfe der Notenpresse. Die seit Kriegsbeginn herrschende Inflation wurde zur Hyperinflation mit fast täglicher Geldentwertung. Im August kostete ein Brot knapp 3.500 Mark, im Dezember 400 Billionen Mark. Während die Armen hungerten und Sparer*innen ihre kleinen Vermögen verloren, profitierten die Eigentümer*innen von Sachwerten wie Immobilien, Fabriken und Transportmitteln. Die Großkapitalisten Stinnes und Flick häuften ungeheure Reichtümer an. Auch Bauern wurden dank der Geldentwertung ihre Schulden los. In der Summe aber wurde die Inflation zum nationalen Trauma, das bis heute fortwirkt. 

Härte gegen Links, Milde gegen Rechts

Spätestens im Sommer 1923 war offensichtlich, dass der passive Widerstand gegen die Ruhrbesetzung in den wirtschaftlichen Ruin führte. Am 12. August trat die von dem parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno angeführte Regierung der bürgerlichen Mitte zurück. Ersetzt wurde sie durch ein Kabinett der großen Koalition aus SPD, DDP, Zentrum und DVP. Ende September verkündete der neue Kanzler und Außenminister Gustav Stresemann das Ende des passiven Widerstands und leitete mit der Einführung der »Rentenmark« eine Währungsreform ein. Ein Jahr später wurde die Rentenmark durch die goldgedeckte Reichsmark ersetzt. Stresemann galt seitdem als Retter, obwohl er schon Ende November nach verlorener Vertrauensabstimmung als Regierungschef zurücktrat und nur noch Außenminister blieb. In diesem Amt beendete er die Konfrontation mit Frankreich. 1926 wurde ihm und seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand der Friedensnobelpreis verliehen.

Damit war »das deutsche Ansehen in der Welt« zumindest in Teilen wiederhergestellt, nicht aber der innere Frieden. Denn die von Stresemann und Ebert repräsentierten Kräfte setzten im Krisenjahr die Politik fort, die 1919 zum Sieg der Konterrevolution geführt hatte. Schon am 10. November 1918 hatte Ebert, der nach eigener Aussage die Revolution hasste »wie die Sünde«, ein Bündnis mit der nationalistischen Rechten geschlossen: den »Ebert-Groener-Pakt«. Dazu reichte ein Anruf des Reichswehrgenerals Wilhelm Groener bei Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten. Der Publizist Sebastian Haffner schreibt über das später »legendenumwobene Telefongespräch«: »Der General bot loyale Zusammenarbeit an – und stellte Forderungen: Kampf gegen Radikalismus und Bolschewismus, schnellste Beendigung des Räte-Unwesens, Nationalversammlung, Rückkehr zu geordneten Zuständen. Dem allem konnte Ebert aus vollem Herzen zustimmen; es war genau das, was er selber wollte.« Später schrieb Groener: »Ebert ging auf meinen Bündnisvorschlag ein. Von da ab besprachen wir uns täglich abends auf einer geheimen Leitung zwischen der Reichskanzlei und der Heeresleitung über die notwendigen Maßnahmen. Das Bündnis hat sich bewährt.«

Das tat es auch 1923, vor allem in Bayern, wo die dortige Staatsregierung Ende September den Ausnahmezustand verhängte und Gustav Ritter von Kahr zum Diktator machte. Das war Hochverrat, wurde aber von Ebert und der Regierung Stresemann ebenso hingenommen wie das folgende Verbot von Zeitungen und politischen Organisationen oder die Ausweisung Hunderter jüdischer Familien, die seit Jahrzehnten in Bayern lebten. Zwar verhängte Ebert den Ausnahmezustand über ganz Deutschland und übertrug die vollziehende Gewalt an Reichswehrminister Otto Geßler. Die eigentlich fällige militärische »Reichsexekution« gegen Bayern aber fand nicht statt. Der Satz »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« wurde zum geflügelten Wort. Geprägt hatte es Generaloberst Hans von Seeckt, der mächtige Chef der Heeresleitung. 

Ganz anders gingen Ebert und Stresemann gegen linke Umtriebe in Sachsen und Thüringen vor. Dort bildeten SPD und KPD nicht nur gemeinsame Regierungen, sondern stellten gegen konterrevolutionäre Putschversuche auch »proletarische Hundertschaften« auf. Die Reichsregierung reagierte mit Amtsenthebung der linken Koalitionsregierungen und Auflösung der proletarischen Einheiten. Diese waren im übrigen schlecht bewaffnet und stellten keine ernsthafte Gefahr für die herrschende Ordnung dar. Das galt auch für die kommunistischen Kämpfer*innen des Hamburger Aufstands. Ihre Erhebung im Oktober war nicht mehr als ein revolutionäres Fanal.

Von Weimar nach Berlin

Auf sein konterrevolutionäres Gegenstück, den Münchener »Hitlerputsch« am 8. und 9. November, haben auch kritische Zeitgenoss*innen mit viel Spott und Häme reagiert; siehe etwa Lion Feuchtwangers satirische Darstellung in seinem Roman »Erfolg«. Nur: So dilettantisch der Putsch auch organisiert war – er hätte eine ernste Warnung sein müssen für alle, denen ernsthaft an der Verteidigung der Demokratie gelegen war. Stattdessen ermunterte die überaus milde Behandlung der Nazi-Verschwörer durch Staat und Justiz diese zum Weitermachen.

Die Alternative, eine antifaschistische Republik ohne Militär als »Staat im Staate«, war damals mehrheitsfähig. Aber nicht nur die herrschende Klasse, auch ihre leitenden Angestellten hatten andere Ziele. 1923 war nur ein Schritt zwischen 1918/19 und 1933. Ebert starb 1925, Stresemann 1929. Für das, was nach ihnen kam, tragen sie Mitverantwortung. Dass die SPD-nahe Stiftung heute noch Eberts Namen trägt, sagt alles über die verpasste sozialdemokratische »Vergangenheitsbewältigung«. In Adenauers CDU-Staat wurden nach ihm und Stresemann Straßen benannt. An diesen Straßennamen festzuhalten, passt zur machtbewussten und militarisierten Berliner Republik. Mit der Berufung auf demokratische Traditionen hat diese Art von Geschichtspolitik nichts zu tun. Berlin sei nicht Weimar, wird uns immer wieder versichert.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Anmerkungen:

1) Dazu gehören u.a. die Bücher von Christian Bommarius, Mark Jones, Peter Longerich und Volker Ullrich.

2) DVP: Deutsche Volkspartei; DDP: Deutsche Demokratische Partei