Gewalt und Mosaik
Warum Russland dekolonisiert werden muss und was das eigentlich bedeutet
Von Arthur Grand

In Russland hat es nie eine breite öffentliche Debatte über (De-)Kolonisierung gegeben. Die Frage, wie es dazu kam, dass der Staat ein derart riesiges Territorium mit so vielen Völkern und ethnischen Gruppen umfasst, hat sich der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung nie gestellt, oder er geht davon aus, dass es dazu in einem quasi natürlichen Prozess kam, nicht vergleichbar mit der Art und Weise, wie europäische Imperien Afrika, Asien oder Amerika kolonisierten. Wladimir Putin, bekannt für einen ausgesprochen exzentrischen Blick auf die Geschichte, hat dieses Thema seit seinem Machtantritt tunlichst gemieden.
Mit Beginn des groß angelegten Überfalls auf die Ukraine griff er jedoch plötzlich selbst auf diesen Diskurs zurück – in verdrehter Form. Der politische Philosoph Ilja Budraitskis beschreibt es so, dass Russland sich in der pervertierten Logik des Kremls derzeit angeblich selbst vom kollektiven Westen dekolonisiere und sich als Kämpfer gegen den Neokolonialismus präsentiere. Putin nennt Afrika etwa einen »geistig nahestehenden Kontinent« und entsendet dorthin Söldner. So absurd diese Variante der Dekolonisierung auch erscheinen mag, findet sie dennoch ihre Verfechter – sowohl innerhalb Russlands, wo eine gewaltige Propagandamaschinerie Bildung, freie Medien und jegliche öffentliche Diskussionen zermalmt hat, als auch in Teilen des Globalen Südens, wo man noch immer die Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten spürt.
Der richtige Zeitpunkt
Die Skepsis derer, die das Reden über die Dekolonisierung Russlands für verfrüht halten, ist nachvollziehbar. Eine landesweite, legale Debatte ist unter dem derzeitigen Regime schlichtweg unmöglich. Und doch halte ich es für notwendig, gerade jetzt diesen komplexen und für viele schmerzhaften Diskurs anzustoßen. Der fortschreitende, technologische Wandel erleichtert den Zugang zu öffentlichen Informationen und ermöglicht es auch in Russland lebenden Menschen, sich an der Diskussion zu beteiligen, wenn auch nur auf privater Ebene. Man kann sich gut vorstellen, welches Kopfschütteln Äußerungen aus dem Kreml bei Kalmücken, Jakuten oder Burjaten auslösen, wenn man sie dazu auffordert, ihr Leben für die »russische Welt« aufs Spiel zu setzen. Wenn sie spüren, dass ernsthaft über eine grundlegende Neuordnung des Staates diskutiert wird, in der die Meinungen der unterdrückten Völker Gehör finden würden, so könnte dies für sie zumindest einen Funken Hoffnung bedeuten.
Russische dekoloniale Initiativen existieren vor allem im Exil, wo man sich zu diesem Thema frei äußern kann. So untersucht das unabhängige Medium Beda Media die Ursprünge des russischen imperialen Projekts und Strategien des Widerstands; auch das linke Medium DOXA und die Plattform Syg.ma widmen dem Thema viel Aufmerksamkeit. Es gibt Menschenrechtsgruppen wie die Stiftung Freies Burjatien, aber auch bemerkenswerte Kulturprojekte: zum Beispiel dekoloniale Ausstellungen des Kunstkollektivs de_colonialanguage oder mehrsprachige Texte der tatarischen Autorin Dinara Rasulowa. Doch ihre Sichtbarkeit im oppositionellen Informationsraum bleibt gering.
Es gab keinen »natürlichen« Prozess der Eingliederung – die Kolonialmetropole unterwarf Sibirien, Zentralasien und den Kaukasus.
Aktualität erhält das Thema Dekolonisierung auch im Kontext des Krieges gegen die Ukraine und in Bezug auf postsowjetische Länder, in die viele russische Kriegsgegner*innen emigriert sind (Armenien, Georgien, Kasachstan u.a.). Die extrem schwierige, politische Lage im Südkaukasus ist zum Beispiel eine Folge der Politik des Kremls, der diese Region wie eine verlorene Kolonie behandelt. Eine echte Dekolonisierung Russlands muss nicht nur die in der Föderation lebenden Völker und Ethnien einbeziehen, sondern auch die Beziehungen zu Staaten, die sich teilweise unter direkter Besatzung befinden (Ukraine, Georgien, Moldau) oder einer solchen Gefahr ausgesetzt sind (Armenien, Usbekistan u.a.).
Teil eines globalen Diskurses
Das Russische Imperium war nur möglich, weil es über lange Zeit hinweg benachbarte Territorien und Bevölkerungen eroberte, unterwarf und ausbeutete. Es gab keinen »natürlichen« Prozess der Eingliederung – die Kolonialmetropole unterwarf Sibirien, Zentralasien und den Kaukasus. Dieser lange und oft blutige Prozess ist detailliert vom Kulturwissenschaftler Alexander Etkind in seinem Buch »Internal Colonization« beschrieben worden, und schon der berühmte Historiker Wassili Kljutschewski schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Die Geschichte Russlands ist die Geschichte eines Landes, das kolonisiert.«
Die Sowjetunion, die zu Beginn Rechte und Freiheiten für unterdrückte Völker versprach und internationale Solidarität proklamierte, entwickelte sich rasch zu einem totalitären Staat, in dem die Parolen von »Selbstbestimmungsrecht der Nationen« und »Völkerfreundschaft« zu einer leeren Fassade verkamen. So wurden etwa 1927 der tatarischen Sprache gewaltsam die arabischen Schriftzeichen genommen – zunächst auf Latein und 1939 dann auf Kyrillisch umgestellt. Auch das postsowjetische Russland erbte brutale koloniale Traditionen: Unter Boris Jelzin begann der Krieg in Tschetschenien als Reaktion auf den Wunsch dieser Region, sich abzuspalten; Putins Regime unterdrückte nicht nur jede Form regionaler Selbstbestimmung, sondern besetzte auch Gebiete in Georgien und der Ukraine.
Die internationale Linke beschreibt koloniale und dekoloniale Prozesse in Afrika oder Palästina ausführlich, doch Russland bleibt in diesem Diskurs weitgehend unsichtbar. Ja, die russischen Zaren mussten keine Meere überqueren, um neue Gebiete zu erobern (von Alaska abgesehen) – aber auch das Britische Empire tat dies nicht, als es Schottland und Wales unterwarf. Wenn sie jemanden verprügeln und ausrauben, um ihn dann zum Schuldner zu machen, spielt es keine Rolle, ob sie vorher die Straße überquert haben oder nicht. Das vorrevolutionäre russische Imperium unterschied sich in diesem Sinne in keinster Weise vom deutschen oder portugiesischen.
Die Dekolonisierung Russlands muss daher Teil eines weltweiten postkolonialen Diskurses sein. Sie umfasst nicht nur die »Entputinisierung« (das ist das absolute Minimum), sondern auch Dezentralisierung und Deimperialisierung nach denselben Prinzipien, auf deren Grundlage die europäischen Imperien demontiert wurden.
Zu den wichtigsten Akteuren einer Dekolonisierung Russlands müssen dabei zweifellos die unterdrückten Völker gehören. Ein Szenario, in dem die vorübergehend ernüchterte Zentralmacht die Zügel etwas lockert und Macht abgibt, ist eine Sackgasse. Die Vorstellungen der Regionen darüber, wie sie ihre Zukunft sehen, müssen ins Zentrum des Projekts rücken.
Doch auch auf die Menschen, die sich als Russ*innen verstehen, wartet eine enorme Aufgabe. Einer bekannter linker Slogans lautet: »Decolonize yourself.« Er klingt einfach, ist aber in der praktischen Umsetzung schwierig. Wir sehen, wie viele weiße Menschen im Westen nur ungern auf ihr gesteigertes Selbstwertgefühl (ein Euphemismus für Rassismus) und auf die globalen Macht- und Wohlstandsverhältnisse verzichten.
Während im Westen immerhin eine Bewegung in Richtung Dekolonisierung erkennbar ist, stehen Russ*innen hier noch ganz am Anfang. Wir müssen uns von vielen eingeimpften Narrativen befreien, die vom russischen Staat – in all seinen historischen Gestalten – geschaffen und verbreitet wurden. Wir müssen uns selbst dekolonisieren.
Dekolonisierung denken
Eine der drängendsten Fragen ist: Wie genau soll eine Dekolonisierung Russlands vonstatten gehen? Was soll an ihrem Ende entstehen? Wer ehrlich darüber nachdenkt, wird keine fertige Antwort finden. Diese Idee muss erst in einer Vielzahl von gemeinsamen Gesprächen, Diskussionen und praktischen Ansätzen reifen.
Einerseits kann sich eine Dekolonisierung Russlands auf viele globale Erfahrungen stützen; andererseits muss sie auch die negativen Beispiele postkolonialer Realität berücksichtigen. Ethnischer Nationalismus, der oft mit Befreiungsbewegungen einhergeht, und die neokoloniale Politik ehemaliger Imperien führen allzu oft zu Grenzkonflikten und zu Staaten, die nur de jure unabhängig sind. Der Ausweg aus dieser Falle kann nur darin liegen, völlig neue Formen des Zusammenlebens zu denken.
Vielleicht muss die Idee des russischen Staates selbst radikal infrage gestellt werden. Russland hat sich geografisch und ideologisch gewandelt, aber in jeder seiner Ausprägungen zwang es allem, was es erreichen konnte, Russifizierung, Vereinheitlichung und Ausplünderung auf. Anstelle der Russischen Föderation könnte eine Konföderation oder ein anderer Zusammenschluss entstehen, in dem sich Menschen etwa nach regionalen Prinzipien organisieren.
Madina Tlostanova, Professorin für postkolonialen Feminismus an der Universität Linköping in Schweden, sagt: »Der russische Staat hat keine schöpferische Zukunftsvision, keinen Kitt, der die Bevölkerung des riesigen Territoriums zusammenhält.« Dieses beispiellose Mosaik aus Kulturen, Sprachen und Traditionen lässt sich nicht in ein einziges Narrativ zwängen – es verlangt Experimente, Freiräume für Austausch und tausend Abkommen statt einer einheitlichen Verfassung, die dieses vielfältige Ganze mit Gewalt organisiert.
In einer Zeit des weltweiten Rechtsrucks, in der politische und wirtschaftliche Eliten ernsthaft dystopische Konzepte wie Privatstädte oder Festungsstaaten diskutieren, sollten wir uns nicht nur fragen, was wir dem entgegensetzen können, sondern auch, was wir überhaupt unter Demokratie verstehen. In welcher Welt wollen wir leben? Inwieweit passt das Modell des Nationalstaats zu linken Ideen wie einer Welt ohne Grenzen, internationaler Solidarität und Multikulturalität? Vielleicht entsteht gerade an der Stelle des russischen Staates, der unter Putin seinen moralischen und existenziellen Tiefpunkt erreicht hat, ein völlig neues Gesellschaftsmodell – ein Experiment, um allgemein akzeptierte, aber schlecht funktionierende politische Formen neu zu denken.