Alle Spieße stehen still
Beschäftigte bei Birtat erstreiken den ersten Tarifvertrag in der Dönerbranche
Von Amina Aziz

Begleitet vom Jubel benachbarter Betriebe zogen die Beschäftigten von Birtat an den Streiktagen morgens um das Werksgelände, das in der kleinen Gemeinde Murr bei Ludwigsburg liegt. So erzählt es Magdalena Krüger, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Stuttgart. Seit Dezember 2023 unterstützt sie die Belegschaft eines der größten Dönerfleischproduzenten Deutschlands. In dieser Zeit gründeten sie einen Betriebsrat, eine Tarifkommission und verhandelten den ersten Tarifvertrag der Dönerbranche – über fünfzig Jahre nachdem der erste Döner in Deutschland verkauft wurde.
Die Arbeit bei Birtat beginnt frühmorgens. Im Akkord fertigen die Mitarbeitenden Dönerfleischspieße, die jeweils rund 100 Kilogramm wiegen – täglich 35 bis 40 Tonnen. Da der Beruf nicht offiziell als Ausbildungsberuf anerkannt ist, werden die niedrigen Löhne leichter gerechtfertigt. Verlässliche Zahlen zur Beschäftigtenzahl in der Branche fehlen. Laut des Vereins türkischer Dönerhersteller in Europa (ATDID) erzielt die Branche mit etwa 18.000 Dönerläden in Deutschland jährlich einen Umsatz von rund 2,4 Milliarden Euro. Der Döner ist das vielleicht beliebteste Fast Food hierzulande. Die Fleischindustrie, zu der auch seine Produktion zählt, ist jedoch Teil des Niedriglohnsektors, in dem vor allem ausländische und migrantische Arbeitskräfte beschäftigt sind. Die Branche steht seit Jahren wegen schlechter Arbeitsbedingungen und Lohndumping in der Kritik. Dabei gab es, vor allem seit der Pandemie, Verbesserungen, wie das Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit. Dennoch liegt der Lohn in der Fleischindustrie unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Lohns in Deutschland, ausländische Beschäftigte verdienen noch weniger, insbesondere Frauen.
200 Euro Streikbrecherprämie
Izzet Al aus Stuttgart ist seit 25 Jahren bei Birtat. Mit dem Wachstum wurde auch das Betriebsklima schlechter, erzählt er. Der Lohn sei gering, und es gab keine Verbindlichkeit bei der Bezahlung: »Was wir an Lohn erhalten haben, war abhängig von der Laune der Chefs, wir sollten um jede Gehaltserhöhung betteln«, berichtet er. Betriebsratsleiter Muzayfe Doganer ergänzt: »Unsere Arbeit ist hart, und wir alle brauchen Verbindlichkeit und Gerechtigkeit.« Sie berichten von Schikanen durch den Arbeitgeber. Seit Beginn der Warnstreiks im Februar dieses Jahres habe Birtat Beschäftigte wiederholt mit Kündigungen eingeschüchtert und manche von ihren Unterkünften abgeholt, um sie zum Arbeitsantritt und gegen die Teilnahme am Streik zu bewegen. Wer nicht streikte, sollte eine Prämie von 200 Euro pro Tag erhalten. Dennoch konnte der Streik dadurch nicht gebrochen werden. »Wir leben in Deutschland, so kann man uns nicht behandeln, wir lassen uns nicht erpressen«, so Doganer. Birtat reagierte bis Redaktionsschluss nicht auf die Vorwürfe.
Die Arbeit bei Birtat beginnt frühmorgens. Im Akkord fertigen die Mitarbeitenden Dönerfleischspieße, die jeweils rund 100 Kilogramm wiegen – täglich 35 bis 40 Tonnen.
Das Unternehmen entstand in den 1990er Jahren als Familienbetrieb. Der Vater des heutigen Vizepräsidenten Cihan Karaman kam in den 1970ern als Gastarbeiter nach Deutschland und begann später selbst damit, Dönerfleischspieße zu produzieren. Heute beschäftigt Birtat etwa 115 Mitarbeitende und gehört zu Meat World SE, das laut eigenen Angaben jährlich einen Umsatz von etwa 200 Millionen Euro erwirtschaftet.
Der Tarifvertrag ist branchenweit ein Novum. Um sprachliche Barrieren zu überwinden, mobilisiere man bei Birtat die Kolleg*innen mithilfe von Google Translate, wie Doganer erzählt. Ein weiterer Faktor für seltenere Organisierung ist die Saisonarbeit von Beschäftigten aus Rumänien, der Türkei und Bulgarien und die hohe Fluktuation. Mark Baumeister, Referatsleiter Gastgewerbe bei der NGG, berichtet zudem, dass er in der Fleischindustrie massive Einschüchterungsversuche bis hin zu Gewaltandrohungen gegenüber Mitarbeitenden erlebt habe.
Keine Angst vor »Döner-Knappheit«
Aurel Eschmann von LobbyControl erklärt, die Fleischindustrie sei in der Politik stark vernetzt und über die Bauernlobby einflussreich. In ländlichen Wahlkreisen sei die Nähe zu Landwirt*innen und Metzger*innen politisch nützlich – nicht zuletzt sei der amtierende CSU-Landwirtschaftsminister Alois Rainer selbst Metzger. In der Öffentlichkeit dominiere laut Eschmann außerdem das Bild kleiner, familiärer Betriebe, obwohl es milliardenschwere Unternehmen gibt, die wegen schlechter Arbeits- und Hygienebedingungen in der Kritik stehen, wie etwa der Lebensmittelproduzent Tönnies. 2021 spendete Tönnies 25.000 Euro an die CDU. Ein Beispiel dafür, wie finanzielle Mittel gezielt für politischen Einfluss eingesetzt werden.
Die mediale Berichterstattung über die Streiks bei Birtat wirft indes überwiegend die Frage auf, ob Döner bald knapp oder teurer werde. Dabei müsse man sich über eine »Döner-Knappheit« laut Baumeister keine Sorgen machen: Dönerimbisse würden das Fleisch einfach woanders einkaufen. Bezüglich einer Preissteigerung des Döners schlägt der Verband der Dönerproduzenten Deutschlands (VDD) einen Preis von 10,50 Euro pro Döner vor. Im Jahr 2023 hatte Unternehmersohn Karaman einen Preis von zehn Euro pro Döner empfohlen und war damit in die Schlagzeilen geraten. Er sitzt im Vorstand des VDD.
Die Inflation trifft selbstredend auch die Dönerbranche, doch Baumeister von der NGG betont, dass Arbeitnehmer*innen wie bei Birtat nicht darunter leiden müssten. Der Döner-Preis setzt sich aus diversen Faktoren zusammen: Zutaten, Automatisierung, Gas- und Energiekosten, Entfernung zum Kunden, Verpackung, Miete usw. Personalkosten machen lediglich zwanzig bis dreißig Prozent der Gesamtkosten aus. »Egal, ob ein Döner jetzt sieben oder zehn Euro kostet: Es ist gar kein Problem, die Angestellten in der Produktion vernünftig zu bezahlen«, so Baumeister.
Sie sind Pioniere
Dass eine Gewerkschaft migrantische und ausländische Beschäftigte so konsequent unterstützt wie die NGG, ist eher die Ausnahme. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und migrantischen Beschäftigten in Deutschland schwankt seit jeher zwischen Zurückhaltung und Unterstützung aufgrund der Anerkennung ihrer unverzichtbaren Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Besonders deutlich wurde dies im Anschluss an die sogenannten wilden Streiks 1973 bei Ford in Köln und in vielen anderen Betrieben, an denen vor allem Gastarbeiter*innen beteiligt waren und die von den Gewerkschaften nicht unterstützt wurden. Mittlerweile sind viele Migrant*innen gewerkschaftlich aktiv, zugleich kämpfen neue Gruppen von ausländischen Beschäftigten für ihre Rechte und werden dabei mitunter allein gelassen, wie im Jahr 2021 beim Lieferdienst Gorillas.
Bei Birtat drohten nach der dritten Verhandlungsrunde im Juni die Gespräche zu scheitern – das Unternehmen holte eine Großkanzlei hinzu, der Ton verschärfte sich. Dass auf Druck des Arbeitgebers fünf Wochen bis zum nächsten Termin vereinbart wurden, ließ die Stimmung bei Gewerkschaft und Betriebsrat sinken. Es war die Belegschaft, die kämpferisch blieb: »Sie haben den Kampfgeist zu keinem Zeitpunkt verloren, das ist nicht selbstverständlich«, erzählt Magdalena Krüger von der NGG. Nach zuletzt über zwölf Stunden Verhandlung gibt es seit dem 8. August die Einigung auf den ersten Tarifvertrag in der Dönerbranche. Der Einstiegslohn wird 2.600 Euro monatlich betragen, 400 Euro weniger als gefordert. Laut Krüger ist das erst der Anfang: Ab Oktober bis weit ins kommende Jahr hinein werden die Details des Vertrags verhandelt. Al und Doganer sind froh, dass jetzt alles geordnete Wege geht, auch wenn sie um die niedrige Bezahlung in der Branche wissen. Eine Sache kann ihnen keiner nehmen: Sie sind Pioniere.