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Im Land des Billiglohns

Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind hart – ein Besuch im Großraum Oldenburg

Von Tim Herbold, Valentina Moraru und Lisa Riedner

In der Fleischindustrie zu schuften, ist alles andere als schön. Foto: U.S. Department of Agriculture/Flickr, Öffentliche Domäne

Auf unserer Fahrt durch die Region um Oldenburg im März 2024 stoßen wir auf Kontraste. Da ist einerseits das ländliche Idyll, Felder und viel weites, flaches Land. Dann biegen wir hinter einer Ortschaft ab und finden uns vor einem der grauen Fabrikkästen der Fleischindustrie wieder. Diese konzentriert sich seit den 1990er Jahren in der Region und trägt seitdem zu einer erstaunlichen wirtschaftlichen Entwicklung in der früher eher strukturschwachen Gegend bei. Produziert wird hier für den europäischen wie für den Weltmarkt, mit hartem Preis- und Konkurrenzdruck.

Um diesem standzuhalten, griff die Fleischindustrie von Anfang an auf die Ausbeutung migrantisierter Arbeiter*innen zurück, hauptsächlich von Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Mit hohem Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung und oft auch unbezahlter Mehrarbeit sichert diese Industrie bis heute ihre Gewinnmargen – trotz des inzwischen durchgesetzten Verbots der Leiharbeit in der Branche. Die Unternehmen brauchen dafür aber auch beständig neue Gruppen von Arbeiter*innen, die aufgrund von Armut, noch niedrigeren Löhnen in anderen Ländern oder wegen ihres aufenthaltsrechtlichen Status’ auf diese Art von Arbeit angewiesen sind.

Eine der wenigen Akteure, die in diesem Kontext zusammen mit den Arbeiter*innen und deren Familien dafür kämpfen, dass diese nicht auf ihre Rolle als ausbeutbare Arbeitskräfte und Objekte (sozial-)staatlicher Verwaltung reduziert werden, ist die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO). Hervorgegangen aus der Erwerbslosenbewegung der 1980er Jahre, bietet die ALSO schon seit Jahrzehnten Sozialberatung »von unten« und Möglichkeiten zur politischen (Selbst-)Organisation in der Stadt Oldenburg an. Damit will sie den Menschen den Rücken stärken, gleichzeitig betont sie die Notwendigkeit, sich gemeinsam für grundlegend andere Verhältnisse einzusetzen. Seit 2015 hat die ALSO ihr Unterstützungs- und Beratungsangebot in die Landkreise, in denen die Fleischindustrie präsent ist, erweitert.

Im Geflügelshop

Als Forschungsteam einer am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Uni München angesiedelten DFG-Nachwuchsforschungsgruppe besuchen wir die ALSO in Oldenburg. Unsere Kollegin Valentina arbeitet seit zehn Monaten forschend in der Organisation mit. Wir möchten verstehen, welche Rolle Auseinandersetzungen um soziale Rechte in der Fleischindustrie im Oldenburger Land spielen.

Vor Ort erfahren wir von der Schließung eines Standorts zur Schweinefleischverarbeitung von Vion in Emstek, ganz in der Nähe von Oldenburg. Das viertgrößte Unternehmen der Branche in Deutschland verkauft auch drei weitere Werke. Die Industrie kämpft nach eigenen Angaben mit den Nachwirkungen der Schweinepest und erheblicher Konkurrenz aus den USA und China.

Nach kurzer Fahrt übers Land kommen wir erst am Werk des Geflügelfleischherstellers Heidemark vorbei. Zwischen ein- und ausfahrenden Lastwagen finden wir einen Parkplatz und betreten den »Geflügelshop«. Die Kühlregale sind mit sauber abgepackten Putenteilen gefüllt und sowohl auf Deutsch wie auf Rumänisch beschriftet. Zwischen den Regalen erlaubt ein Fenster einen Blick auf die Arbeit an den Fließbändern. Arbeiter*innen in Schutzanzügen bewegen Kisten, manche rennen. Die Verkäuferin, mit der wir ins Gespräch kommen, bietet uns gleich einen Job im Laden an. Wir verabschieden uns dankend.

Wenige hundert Meter hinter dem Werkstor von Heidemark passieren wir einen Kreisverkehr, der in den 8.000-Seelen-Ort Ahlhorn führt. Hier, berichtet Valentina, war Ende letzten Jahres auf Protestplakaten zu lesen: »Ein Ort am Limit!« Ein Bürgerverein hatte Proteste gegen die Pläne für eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in einer ehemaligen Militärkaserne organisiert. Bei einer Kundgebung am 2. Dezember 2023 teilten sich Vertreter*innen von SPD, CDU und AfD die Bühne unter der gleichen Botschaft. Sie behaupteten, dass die Region von »Arbeitsmigranten überrannt« werde, die »das System an seine Grenzen« und »den sozialen Frieden in Gefahr« brächten. Am Ende waren sie erfolgreich, die Einrichtung wurde verhindert.

Wir erreichen unsere zweite Station, ein Beratungscafé. Initiiert von der ALSO, bieten mehrere Organisationen jeden Donnerstag im großen Saal des Dorfgemeinschaftshauses Beratung für Menschen aus Ahlhorn an. Ein Ehepaar, das mit seinem vierjährigen Kind im Ort wohnt, versucht seit mehr als einem Jahr mit Unterstützung der ALSO, Kindergeld für ihr älteres Kind zu erhalten, das noch bei seiner Oma in Rumänien lebt. Der Vater hat beim Schlachtunternehmen Vion gearbeitet. Als wir ihn um ein Gespräch bitten, holt er noch zwei Kollegen dazu. Alle drei arbeiten seit vier bis sieben Jahren bei Vion in der Fleischverarbeitung: Häutung, Entbeinen und Verpacken. Als 2021 Werkverträge in der Fleischindustrie verboten wurden, bekamen sie feste Verträge direkt bei Vion. Doch an den Arbeitsbedingungen habe sich nicht viel geändert, erzählen sie. Aktuell sind sie wegen der Schließung des Standorts in Emstek freigestellt, werden aber noch nach dem Sozialplan bezahlt. Mitarbeitende, die jünger als 60 Jahre sind, erhalten pro Jahr Betriebszugehörigkeit etwa ein halbes Monatsgehalt Abfindung.

Mit hohem Leistungsdruck, Verdichtung und oft auch unbezahlter Mehrarbeit sichert die Industrie ihre Gewinnmargen.

Einer unserer Gesprächspartner hat bereits einen neuen Job in einer Hühnerbrüterei gefunden. In scherzhaftem Ton fügt er hinzu: Dort wird es wenigstens warm sein. Arbeiter*innen, die bei Vion und anderen Schlachtbetrieben das Fleisch verarbeiten, müssen stundenlang in der Kälte stehen. Seine Freunde wollen ihr Arbeitslosengeld nach Rumänien schicken und einige Zeit mit ihren Familien dort verbringen. Das ist unter gewissen Umständen bis zu sechs Monate lang möglich. Sie alle planen, wieder in der Fleischindustrie zu arbeiten, da sie Fähigkeiten erworben haben, die hier gefragt sind, die Branche immer Arbeitskräfte braucht und sie mit ihrer Erfahrung besser bezahlt werden als in anderen Branchen.

Sie scheinen keine Angst vor der Zukunft zu haben. Die Arbeit in der Fleischindustrie beschreiben sie als sehr hart, aber man gewöhne sich irgendwann daran. Auch den Jobverlust würden sie schon kennen. In Rumänien hätten sie auch ihre Arbeit verloren, irgendwie sei es weitergegangen. So sei es eben. Sie können uns leider keinen Kontakt zu Kolleg*innen vermitteln, die in anderen Bereichen, etwa in der Reinigung oder als Vorarbeiter*innen gearbeitet haben und/oder nicht aus Rumänien kommen. Wir wünschen ihnen alles Gute und fahren weiter.

Amazon in Ahlhorn

Wir kommen an einem Amazon-Standort vorbei, der kürzlich in Ahlhorn eröffnet wurde. Er hat die Größe mehrerer Fußballfelder. Es wird vermutet, dass der Logistikkonzern, der ständig auf der Suche nach Arbeiter*innen ist, in diese Region gekommen ist, weil es hier viele migrantisierte Arbeiter*innen aus der Fleischindustrie gibt, die vielleicht lieber in den sauberen und beheizten Hallen arbeiten möchten.

Als Reaktion auf die Proteste gegen weitere Einwanderung hatte Amazon versprochen, dass keine neuen Arbeiter*innen nach Ahlhorn ziehen würden. Das Unternehmen hat Buslinien für Mitarbeiter*innen eingerichtet, die in anderen Orten in der Region wohnen. Die Mieten in Ahlhorn selbst sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Der lokale Wirtschaftsboom ermöglicht es Immobilienbesitzer*innen und findigen Geschäftsleuten, davon zu profitieren, dass viele Arbeiter*innen auf einen Wohnort in der Nähe ihres Arbeitsplatzes angewiesen sind. Gleich neben Amazon sehen wir die ein- bis zweistöckigen Gebäude des Wohnparks Ahlhorn. Der sogenannte Erdbeerkönig, ein Landwirt aus dem Ort, pachtete die ehemalige Militärkaserne, um sie wiederum an Unternehmen zu vermieten, die ihre Beschäftigten dort unterbringen und meist die Miete gleich vom Lohn abziehen. Als die ALSO hier eine Veranstaltung organisierte, in der sie über rechtliche Ansprüche nach der Schließung von Vion aufklärte, kamen mehr als 80 Beschäftigte.

Als wir schließlich den Schlachthof Vion im benachbarten Emstek erreichen, umgibt uns Stille. Ein großer Betonklotz versperrt die Einfahrt, durch die früher Lastwagen mit Schweinen fuhren. Wir laufen eine Weile auf einem fast leeren Parkplatz herum und sprechen zwei Frauen an, die aus dem Gebäude kommen. Zunächst verwechseln sie uns mit Mitarbeitenden von Vion. Als wir uns als Forscher*innen vorstellen, gehen sie weg. Wir fahren wieder nach Hause – vorbei an Wohnpark, Amazon, Gemeinschaftszentrum, Kreisverkehr, Heidemark, Felder.

Am nächsten Morgen sitzen die Beratenden der ALSO zusammen, wie jeden Freitag. Wir kommen auf die Situation der Vion-Beschäftigten zu sprechen: Sind alle Beschäftigten durch das Sozialpaket und Arbeitslosengeld einigermaßen abgesichert? In anderen Betrieben, so berichtete Peter Birke in seinem Buch »Grenzen aus Glas« (2022), arbeiten viele Asylsuchende für Subunternehmen in der Industriereinigung. Ist dies bei Vion auch so? Würde für diese Beschäftigten der Sozialplan auch gelten? Doch ähnlich wie die drei Männer, mit denen wir am Vortag gesprochen hatten, kennen auch die anwesenden Beratenden fast nur rumänische Beschäftigte in der Zerlegung und Verpackung.

Nach zwei Stunden raucht uns der Kopf vor lauter Notlagen, Paragrafen und Überlegungen zu Handlungsmöglichkeiten. Wir schließen uns dem Offenen Frühstück an, das auch jeden Freitag stattfindet für Aktive der ALSO, Ratsuchende, Nachbar*innen und Interessierte mit Kaffee, Brötchen und vegetarischer Wurst.

Schweinekalt, aber relativ sicher

Die relative Absicherung und Gelassenheit der drei Vion-Beschäftigten, die wir angetroffen haben, bedient nicht die Erzählung von der extremen Überausbeutung in der Fleischindustrie. Und dennoch: Ihr Alltag ist auch geprägt von schweinekalter, krank machender Arbeit und dem Ringen um die eigenen Rechte. Sie sind zwar stolz auf ihre Fähigkeiten, sagen aber auch, dass viele es nicht lange aushielten in dem Job. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist hier in einen fragilen Kompromiss übergegangen, der die Ausbeutung in einen für eine gewisse Zeit erträglichen Alltag einbettet, in dem auch Brüche wie ein Arbeitsplatzverlust einigermaßen abgesichert sind, zumindest für einige. Dies hat sicher mit dem Arbeitskräftemangel zu tun, ist aber auch Ergebnis ausdauernder Kämpfe, die während der Corona-Pandemie viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten und zu einem Verbot von Werkverträgen geführt haben. Zudem haben gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure wie die ALSO über viele Jahre Beratungsstrukturen und damit Zugang zu gewissen Sozialleistungen und einer Interessensvertretung geschaffen.

Unsere kurze Recherche zur Schließung von Vion erlaubt uns nicht, die am meisten ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie zu skandalisieren, weil wir diesen nicht begegnet sind. Doch möglicherweise ist es gerade die Abwesenheit eines allzu offenkundigen Skandals, die einen differenzierten Blick auf die alltäglichen Auseinandersetzungen und Akteurskonstellationen im Oldenburger Land ermöglicht und so Anknüpfungs- und Reflektionsmöglichkeiten für emanzipatorische Bewegungen bietet.

Tim Herbold

beschäftigt sich mit den Interaktionen zwischen Migrant*innen, Basisorganisationen, öffentlichen Institutionen und Lokalpolitiker*innen. Er schreibt seine Doktorarbeit im Rahmen der Nachwuchsforschungsgruppe »Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹« am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München.

Valentina Moraru

forscht in Zusammenarbeit mit der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg an den Schnittstellen von Moral, prekärer Arbeit und Migration. Sie promoviert im Rahmen der Nachwuchsforschungsgruppe »Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹« am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München.

Lisa Riedner

leitet die Forschunsgruppe »Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹«. Sie interessiert sich für soziale Fragen in der Migrationsgesellschaft. Zur Zeit schaut sie sich vor allem Auseinandersetzungen um Sozialhilfebetrug an.