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Desaströse Niederlage in Chile

Der fortschrittliche Verfassungsentwurf scheitert deutlicher als gedacht – erste Überlegungen zu Gründen und Bedeutung dieses Scheiterns

Von Tobias Lambert

Eine zerstreute Menschenmenge in der Nacht auf einen Platz, am rechten Bildrand brennt ein kleines Feuer
Eine deutliche Mehrheit hat die neue Verfassung abgelehnt. »Trauerstimmung auf der Plaza Dignidad, wo 2019 die soziale Revolte begonnen hat«, schreibt die Journalistin Sophia Boddenberg auf Twitter zu diesem Foto aus Santiago, aufgenommen in der Nacht der Abstimmung.

Es ist ein herber Rückschlag für den sozialen und ökologischen Wandel in Chile: Etwa 62 Prozent der Wähler*innen stimmten am Sonntag, den 4. September, gegen den Entwurf für eine neue, fortschrittliche Verfassung. In Umfragen hatte die Ablehnung seit Monaten vorne gelegen. Da erstmals seit 2012 wieder eine Wahlpflicht galt, hofften die Befürworter*innen des Verfassungsentwurfs aber bis zuletzt auf unentschlossene Wähler*innen. Genützt hat es nichts. Bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp 86 Prozent votierten 7,88 Millionen Chilen*innen gegen und nur 4,86 Millionen für den Verfassungsentwurf. Die Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen lagen bei gut zwei Prozent.

»Die chilenische Bevölkerung war mit dem Entwurf nicht einverstanden«, erklärte Präsident Gabriel Boric am späten Wahlabend. »Sie fordert von uns, mit mehr Engagement, Dialog, Respekt und Zuneigung an einer neuen Verfassung zu arbeiten.« Die Ansicht, der auch einige Gegner*innen des Verfassungsentwurfs folgen, lautet: Da sich im Oktober 2020 fast 80 Prozent der Wähler*innen per Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen haben, bleibt der Auftrag bestehen. Die alte Verfassung, die 1980 unter der Militärdiktatur entstanden war, besitzt weiterhin keine Legitimität mehr. Ob in einem neuen Aushandlungsprozess nun der vorliegende Entwurf verändert oder ein völlig neuer ausgearbeitet wird, ist offen. Am heutigen Montag will Boric mit allen politischen Parteien beraten. Klar ist, dass es dauern und der bestehende Entwurf mindestens an vielen Stellen abgeschwächt werden wird. Einzelne Punkte ließen sich auch als einfache Gesetze verwirklichen. Doch geht die Regierung Boric, die den Verfassungsentwurf unterstützte, geschwächt aus der Abstimmung hervor.

Gründe für die Niederlage

Es ist nicht leicht, am Tag nach dem Referendum bereits die Gründe für die deutliche Niederlage zu benennen. Eine häufig angeführte Erklärung ist die Lügenkampagne der chilenischen Rechten gegen den Verfassungsentwurf. »Es handelt sich um eine Wahlniederlage, nicht die Niederlage eines politischen Projektes«, erklärte etwa der Zusammenschluss sozialer Bewegungen, der sich für den Verfassungsentwurf einsetzt (Movimientos Sociales por el Apruebo). Es sei schwer gewesen, gegen die mediale Übermacht der Gegner*innen und deren Lügenkampagne anzukommen.

Tatsächlich fürchtete die traditionelle Elite um ihre Privilegien und versuchte, die Annahme des Verfassungsentwurfs mit einer aggressiven Kampagne zu verhindern. Durch Falschbehauptungen schürte sie Ängste vor Kommunismus, Enteignungen und wirtschaftlichem Niedergang. Mit Verweis auf das im Verfassungsentwurf vorgesehene Recht auf angemessenen Wohnraum behaupteten die Rechten beispielsweise, dass künftig Privatwohnungen und -Häuser enteignet würden – was nicht stimmt. Eine weitere Lüge lautete, dass durch die bereits im ersten Verfassungsartikel genannte Plurinationalität, die offiziell indigene und afrochilenische Gruppen mit einbezieht, der Zerfall des Landes drohe. Oder dass das Recht auf Abtreibung Schwangerschaftsabbrüche zukünftig bis zum 9. Monat ermöglichen solle. Die Gegner*innen der Verfassung hatten durch Zuwendungen reicher Chilen*innen deutlich mehr finanzielle Mittel als die Befürworter*innen; in den privaten Massenmedien war die Ablehnungskampagne viel stärker vertreten.

All dies hatte zweifellos Einfluss auf die Abstimmung. Aber als Erklärung für das desaströse Ergebnis reicht es nicht. Das würde bedeuten, dass sich Millionen Chilen*innen schlicht auf plumpe Art und Weise hätten täuschen lassen. Anderen linken Regierungen in Lateinamerika gelangen in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter vergleichbaren Bedingungen aber deutliche Wahlerfolge. Die Ablehnung in Chile reichte im Vorfeld bis ins linksliberale Lager hinein. So haben sich etwa auch einige bekannte Politiker*innen des früheren Mitte-Links-Bündnisses Concertación offen gegen den aus ihrer Sicht zu einseitigen und an vielen Stellen schwammig formulierten Entwurf gestellt. Diese Positionierungen haben dazu beigetragen, die Ablehnung außerhalb des rechten Spektrums zu stärken.

Ein Verfassungstext alleine kann ein Land nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen.

Die linken Bewegungen müssen also auch aufarbeiten, warum sie mit ihrer Kommunikation und Ansprache nicht mehr Menschen überzeugen konnten. Möglicherweise waren einige der Konzepte, die in linken Kreisen Lateinamerikas überwiegend geläufig sind, zu abstrakt. Viele unpolitische Wähler*innen hatten während der aufziehenden Rezession und Inflation wohl tatsächlich Angst vor zu viel Veränderung auf einmal. Da die Regierung den Verfassungsentwurf unterstützte, wenngleich sie formal keinen Einfluss auf die Abstimmung hatte, dürften auch ein paar Stimmen zur »Abstrafung« der bisherigen Regierungsbilanz dabei gewesen sein. Vielleicht hat auch alles etwas zu lang gedauert. 2020 sah sich die damalige Regierung unter dem rechten Milliardär Sebastián Piñera dazu gezwungen, auf die immer stärker werdenden Forderungen nach einer neuen Verfassung einzugehen. Allerdings gelang es ihr, den Prozess in die Länge zu ziehen, so dass der durch die Revolte entfachte Wille zu rascher Veränderung auf dem Weg durch die Institutionen an Schwung verlor. Einen Anteil daran dürfte nicht zuletzt die Corona-Pandemie gehabt haben, die Straßenproteste zwischenzeitlich erheblich erschwerte.

Wie es zu dem Referendum kam

So oder so: Eines der interessantesten politischen Projekte der vergangenen Jahre droht nun zu scheitern beziehungsweise deutlich ausgebremst zu werden. Ab Oktober 2019 hatten sich in Chile soziale Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn zu einer breiten Revolte gegen das neoliberale Wirtschaftssystem ausgeweitet. Im Oktober 2020 sprachen sich in einem Referendum bei 51 Prozent Wahlbeteiligung fast 80 Prozent der Wähler*innen dafür aus, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Im Mai 2021 wurde mit 41 Prozent Beteiligung eine paritätisch besetzte verfassunggebende Versammlung gewählt, in der linke und unabhängige Kandidat*innen die Mehrheit hatten. Die rechte Elite konnte mit weniger als einem Drittel der Sitze keine Beschlüsse blockieren. 17 von 155 Sitzen waren indigenen Gemeinschaften vorbehalten, die in der Verfassung von 1980 keinerlei Rolle spielen.

Mit dem ehemaligen Studierendenaktivisten Gabriel Boric gewann am 19. Dezember 2021 dann ein junger linker Politiker die Stichwahl um die Präsidentschaft. Die Wahlbeteiligung lag (ohne Wahlpflicht) bei etwa 55 Prozent. »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein«, hatte der damals 35-jährige im Wahlkampf erklärt. Im lateinamerikanischen Vergleich gilt Boric als »moderner« oder »moderater« Linker, der eher den Interessenausgleich sucht, als eine Revolution auszurufen. Hoffnung auf tiefgreifende Veränderung machte daher vor allem der seit Mai 2021 tagende Verfassungskonvent, der dem Präsidenten Anfang Juli dieses Jahres den Entwurf für eine Verfassung übergab, die den Neoliberalismus überwinden wollte.

Chile war bekanntlich das erste Land weltweit, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit neoliberaler Politik experimentierte. Nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 machte die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet Chile gewissermaßen zu einem Labor des Neoliberalismus. Die so genannten Chicago Boys – Jung-Ökonomen, die überwiegend an der University of Chicago bei neoliberalen Vordenkern wie Milton Friedman studiert hatten – erhielten ab Mitte der 1970er Jahre weitgehend freie Hand für Reformen. Mittels einer »Schocktherapie« deregulierte die Militärdiktatur innerhalb kurzer Zeit große Teile der Wirtschaft, zerschlug die Gewerkschaften und privatisierte überwiegend den Zugang zu Wasser sowie das Bildungs- Gesundheits- und Rentensystem. Die Verfassung von 1980 sollte ein neuerliches sozialistisches Experiment unmöglich machen und sicherstellen, dass das neoliberale Wirtschaftssystem auch nach einer Demokratisierung Bestand haben würde. Dadurch konnte das Militär nach dem Ende der Diktatur 1990 großen politischen Einfluss behalten. Das neoliberale System blieb im Grundsatz auch nach der Demokratisierung erhalten, ergänzt durch punktuelle Sozialpolitiken verschiedener Mitte-Links-Regierungen.

Was sich verändert hätte

Der partizipativ erarbeitete Verfassungsentwurf wollte nun vor allem die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz sowie die wirtschaftliche Rolle des Staates stärken. Der Einfluss sozialer, feministischer und indigener Bewegungen ist unverkennbar. Im ersten Artikel wird Chile als »sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Staat« und als »solidarische Republik« definiert, die »plurinational, interkulturell, regional und ökologisch« ist. Der Entwurf garantiert das Recht auf Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit, Wasser sowie menschenwürdigen Wohnraum und enthält weitgehende Arbeitsrechte. Eine starke Rolle spielen zudem die Belange der Natur, die mit eigenen Rechten ausgestattet werden sollte. Auch aus feministischer Sicht enthält der Entwurf weitreichende Änderungen. So hätte Chile eine »paritätische Demokratie« eingeführt, sämtliche öffentliche Ämter mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt und Frauen, Kindern, Jugendlichen, trans und nicht-binären Personen ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt garantiert. Zudem enthält der Entwurf das Recht auf Sorge und auf Abtreibung und erkennt unbezahlte Haus- sowie Carearbeit an. Eine feministische Perspektive zieht sich durch den gesamten Verfassungstext. Zu einem der umstritteneren Punkte zählen Änderungen im politischen Repräsentationssystem. So sollte der bisherige, stets von der Elite kontrollierte Senat durch eine »Kammer der Regionen« ersetzt werden. Diese hätte anders als bisher weniger Rechte als die erste Kammer des Nationalkongresses, die Abgeordnetenkammer.

Ein Verfassungstext allein kann ein Land nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus in das Grab zu stoßen, das die Protestbewegung seit 2019 ausgehoben hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Nun wird es deutlich schwieriger, den nötigen Wandel in Chile umzusetzen.

Tobias Lambert

arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika.

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