analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 680 | International

Auf dem Schleichweg

Am 11. März beginnt die Amtszeit des Linken Gabriel Boric in Chile – dass er das Land umkrempeln kann, bezweifeln viele 

Von Malte Seiwerth

Für die einen Hoffnungsträger, für die anderen jetzt schon eine Enttäuschung: Chiles neuer Präsident Gabriel Boric. Foto: Mediabanco Agencia /Flickr, CC BY 2.0

Teddybären, Süßigkeiten, Bittschriften – diese und andere Dinge bringen dutzende Menschen fast täglich zur Moneda Chica, dem Bürogebäude des neu gewählten chilenischen Präsidenten. Familien schießen begeistert ein Foto von Gabriel Boric, der durch den Gartenzaun die Menge begrüßt. Rentner*innen bitten ihn, sich um eine ausreichende Altersversorgung zu kümmern, Schwerkranke wollen ein besseres öffentliches Gesundheitssystem, und Gewerkschaften fordern mehr Arbeitsrechte.

An einem Nachmittag Ende Januar steht auch René Morales vor dem Tor des großbürgerlichen Hauses. Er ist in seiner Rolle als Präsident der Gewerkschaft des zivilen Gefängnispersonals gekommen, um eine Sitzung mit der neuen Justizministerin Marcela Rios zu beantragen. »Wir wollen die Resozialisierung von Gefangenen fördern«, erzählt er. Morales hat große Hoffnungen in die neue Regierung, nicht nur mit Blick auf seine Arbeit: Er wünscht sich ein Ende des neoliberalen Wirtschaftssystems und der repressiven Sicherheitspolitik des chilenischen »Nachtwächterstaates«.

Ein Scherbenhaufen

»Die Hoffnung hat über die Angst gesiegt«, hatte Gabriel Boric am Tag des Wahlsiegs Ende Dezember verkündet. Auf der Hauptstraße von Santiago und in allen Städten versammelten sich damals hunderttausende von Menschen, um den Triumph über den rechtsextremen Gegenkandidaten José Antonio Kast zu feiern. Boric redete von Dialog und dem Ende der Menschenrechtsverletzungen unter Piñera. »Nie mehr wird ein chilenischer Präsident seinem eigenen Volk den Krieg erklären«, verkündete er. Die Menge brach in Jubel aus.

Mit ihrem Antritt am 11. März übernimmt seine Regierung eine schwere Last. Die Pandemie und vier Jahre rechte Reformprogramme unter der Regierung von Sebastián Piñera haben die sozialen Konflikte in der Gesellschaft verschärft. Piñera war bei der Wahl vor vier Jahren mit dem Versprechen angetreten, der sogenannten Mittelschicht, die sich ökonomisch zunehmend abgehängt sah, zu helfen und für mehr Sicherheiten zu sorgen. Das wäre auch ein Rettungsring für das neoliberale Modell gewesen. Sattdessen verhöhnte Piñeras Kabinett Menschen, die sich über steigende Lebensmittelpreise beschwerten. Auch nach der sozialen Revolte von 2019 fehlte es an einer koordinierten Politik zur Befriedung der Konflikte. Soziale Unzufriedenheit wurden ebenso wie das verbreitete Gefühl ansteigender Kriminalität und Unsicherheit nur mit polizeilichen oder militärischen Maßnahmen beantwortet. 

Die Folge: An allen Ecken und Enden im Land brodelt es. Der Süden Chiles ist seit Monaten militärisch besetzt, um militante indigene Mapuche zu bekämpfen, die Forstplantagen und zum Teil Siedler*innen angreifen, um ihr Land zu verteidigen. Im Norden des Landes kommen wöchentlich tausende Geflüchtete aus Kolumbien, Venezuela oder  Haiti an, es fehlt an Unterstützung und legalen Arbeitsmöglichkeiten. Hilfsangebote der UNO wurden von Piñera abgelehnt. Seit Wochen monieren Anwohner*innen steigende Kriminalitätsraten. Regelmäßig finden antimigrantische Proteste statt.

Doch Piñera und seine Minister*innen haben die Regierungsgeschäfte bereits weitestgehend niedergelegt, sich neue Jobs gesucht – wie der langjährige Außenminister Andrés Allamand – oder die Sommerferien frühzeitig eingeläutet.

Erhoffter Paradigmenwechsel

So richten sich die politischen Forderungen aus der Bevölkerung schon seit Anfang des Jahres an die noch nicht amtierende Regierung von Boric. Die Hoffnungen, die sich damit verbinden, beschreibt der Gewerkschafter René Morales, der dieser Tage zur Moneda Chica gekommen war. Das Justizministerium übernimmt unter Boric mit Marcela Rios erstmals seit langem kein Anwalt, sondern eine Sozialwissenschaftlerin. Für Morales bedeutet diese Besetzung einen Paradigmenwechsel: »Endlich soll es nicht nur um Gesetze gehen, sondern auch um gesellschaftliche Faktoren, die Kriminalität begünstigen.«

In Chile werden derzeit fast nur arme Menschen eingesperrt, erzählt Morales. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass mehr als die Hälfte der Häftlinge Analphabet*innen sind. Reiche werden entweder freigesprochen oder bekommen Ersatzstrafen, so auch wichtige Politiker*innen der rechten Parteien, die nach einem Korruptionsskandal obligatorischen Ethikunterricht aufgebrummt bekamen. Eigentlich, meint Morales, würden eben diese einen viel größeren wirtschaftlichen Schaden in der Gesellschaft anrichten; durch Preisabsprachen, Korruption und Steuerhinterziehung. Genau hier hofft Morales auf Wandel, ein gerechteres Justizsystem und mehr Bildung für Gefängnisinsass*innen.

Auch die Ernennung anderer Minister*innen war für viele Anlass, Boric` Wahlsieg zu feiern: Feministische Organisationen begrüßten die Ernennung der Feministin Antonia Orellana zur Frauenministerin sowie die Mehrheit weiblicher Ministerinnen im Kabinett. Das Arbeitsministerium wird fortan von der Gewerkschafterin und Kommunistin Jeannette Jara geleitet, das Transportministerium von Juan Carlos Muñoz, einem Verfechter des öffentlichen Transportsystems, das Umweltministerium von der Umweltwissenschaftlerin Maisa Rojas und das Bildungsministerium vom Lehrer Marco Antonio Ávila.

Die Zeit der Betriebswirtschaftler, die in der Regierung Piñera eine große Anzahl an Ministerien besetzt hatten, ist damit endgültig vorbei. Erste Reformankündigungen lassen nun auf einen Politikwechsel hoffen: Der neue Transportminister will den öffentlichen Verkehr sowie Fahrradwege ausbauen, die Frauenministerin will Abtreibungen legalisieren, und Boric selbst versprach mehrfach die Einführung einer öffentlichen und universellen Krankenversicherung sowie einer solidarischen Rentenversicherung.

Im Rahmen des Möglichen

Es wären große und strukturelle Reformen, doch wie sie umgesetzt werden sollen, ist bislang unklar. Die ursprüngliche Koalition von Gabriel Boric, Apruebo Dignidad, stellt gerade einmal 37 von 155 Abgeordneten. Die rechten Parteien sind im Parlament nur knapp in der Minderheit und die Christdemokrat*innen das Zünglein an der Waage. Gesetzesänderungen nur mit der Mehrheit der linken Parteienkoalition durchzubringen, wird nicht möglich sein.

Auch deswegen öffnete Boric sein Kabinett. Nur zwölf von 24 Ministerien werden von Parteimitgliedern der eigenen Koalition besetzt. In den anderen Ministerien sitzen vier Parteiunabhängige, darunter Umweltministerin Rojas und Transportminister Muñoz, sowie acht Mitglieder von Parteien der ehemaligen Mitte-Links Koalition Concertación por la Democracia, die von 1990 bis 2010 durchgehend regierte.

Insbesondere die Sozialistische Partei, der auch die ehemalige Präsidentin und derzeitige Hochkommissarin für Menschenrechte der UNO, Michelle Bachelet, angehört, war die große Siegerin der Regierungsbildung. Sie besetzt vier Ministerien, darunter das für Verteidigung und das Finanzministerium, obwohl die Partei während der ersten Wahlrunde eine andere Kandidatin unterstützte.

Insbesondere die Ernennung von Mario Marcel als Finanzminister löste in linken Kreisen großes Unbehagen aus. Marcel wurde von Bachelet als Direktor der Nationalbank eingesetzt und war dies bis Januar 2022, er ist ein enger Vertrauter der ehemaligen Präsidentin und war vormals als Berater in der OECD aktiv. Der ehemalige kommunistische Präsidentschaftskandidat Daniel Jadue bezeichnete ihn als »Verfechter der neoliberalen Ideologie«. Boric verteidigte die Wahl: Es ginge darum, mit bekannten Gesichtern bei den Unternehmen und Investor*innen Vertrauen zu schaffen.

Für Gewerkschafter Morales symbolisiert die Ernennung genau das Gegenteil: »Ich habe Angst ein zweites Mal enttäuscht zu werden«. Er spielt damit auf die 90er Jahre an, als die Mitte-Links Koalition Concertación Por La Democracia erstmals mit dem Versprechen angetreten war, die Militärdiktatur zu beenden und damit auch das Wirtschaftssystem zu reformieren. Sie tat genau das Gegenteil: Weitere staatliche Betriebe wurden privatisiert und das neoliberale Wirtschaftssystem verfestigt. Die massiven sozialen Proteste im Jahr 2019 waren eine Reaktion auf die fehlende Zunahme sozialer Absicherungen, bei einem gleichzeitig kräftigen Wirtschaftsaufschwung und Vermögenszuwachs auf Seiten der politischen und wirtschaftlichen Eliten.

Die Angst von Morales ist nicht unberechtigt: Gerade in wirtschaftlichen Schlüsselpositionen werden unter Boric Persönlichkeiten aus der ehemaligen Concertación sitzen. Auch die Minenministerin Marcela Hernando war bereits unter der Regierung von Michelle Bachelet aktiv, damals wurde sie als Vorsteherin der rohstoffreichen Region von Antofagasta im Norden des Landes eingesetzt. Die Minenaktivitäten zählen zu den bedeutendsten Einnahmequellen der chilenischen Wirtschaft, sie machen zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes und mehr als die Hälfte aller Exporte aus. Zugleich wird der großflächige Abbau von Rohstoffen für enorme Umweltschäden verantwortlich gemacht.

Chiles Wirtschaft hängt ebenso wie der Ausbau des Sozialsystems mittelfristig am Abbau natürlicher Ressourcen.

Nachdem über Jahrzehnte Kupfer als der »Lohn Chiles« galt, wenden sich die Unternehmen heute immer mehr den riesigen Lithiumvorkommen in der Atacamawüste zu. Ein Versuch der Piñera-Regierung den Abbau von 400 Millionen Tonnen in letzter Sekunde an private Akteure zu übergeben, konnte per Gericht gestoppt werden. Boric schwebt nun ein staatliches Minenunternehmen vor – den Abbau stoppen möchte er nicht.

Bereits die Gewinnung von vergleichbar kleinen Mengen führte aufgrund des großen Wasserverbrauchs beim Lithiumabbau in Chile und anderen Ländern allerdings zu extremen Umweltschäden. Marcela Hernando verkündete zwar, ein »weiter so« in der Minenindustrie würde es nicht geben, die Umwelt müsse besser geschützt werden; doch wie das konkret aussehen könnte, ließ sie im Unklaren. Chiles Wirtschaft hängt ebenso wie der Ausbau des Sozialsystems mittelfristig am Abbau natürlicher Ressourcen.

Der Ort des Wandels

So verwundert es auch nicht, dass Boric, der sich der hohen Erwartungen an ihn bewusst ist, schon jetzt versucht, diese zu drücken. Es würde Reformen geben, aber diese würden »Schritt für Schritt« und im Rahmen des Möglichen durchgeführt. Das »Mögliche« hängt in Chile weiterhin in hohem Maße am Widerstand der Wirtschaftsverbände und von Teilen des Militärs ab – beides Sektoren, die ihre Privilegien während der Militärdiktatur ausgebaut und sich, gestützt auf ihre Medienunternehmen, einflussreiche Thinktanks und ihre Wirtschaftsmacht, vehement gegen jede Veränderungen gewehrt haben. Wenig überraschend verkündete der ultrarechte Thinktank Libertad y Desarrollo – Freiheit und Entwicklung – jüngst, die Umsetzung aller Versprechen von Boric würde ins makroökonomische Chaos führen. Der Untergang des chilenischen Wirtschaftsmodells wäre die Folge.

Wo soll der Wandel also stattfinden? Als Reaktion auf die heftigen Proteste von 2019 wurde noch unter der rechten Vorgängerregierung ein links dominierter Konvent gewählt, der derzeit eine neue Verfassung für Chile ausarbeitet. Die alte wurde während der Militärdiktatur verfasst und gilt als Fundament des neoliberalen Wirtschaftsmodells.

Boric hat nun – im Gegensatz zur abtretenden Regierung – garantiert, den verfassungsgebenden Prozess zu respektieren und zu fördern. Der Konventabgeordnete und Schriftsteller Jorge Baradit meinte, angesprochen auf die zukünftige Regierung, »der wirkliche Wandel findet im Verfassungskonvent statt, denn hier ändern wir die Spielregeln«.

Ende Februar wurden die ersten Artikel der neuen Verfassung angenommen: Sofern Mitte des Jahres das chilenische Volk die neue Verfassung per Abstimmung annimmt, wird das Land von einem Zentralstaat zu einem Regionalstaat umgebaut, Indigene werden als eigene Nationen anerkannt und bekommen die Möglichkeit eigener Rechtssysteme, soziale Rechte werden gesetzlich verankert und der Umweltschutz wird staatlich anerkannte Pflicht.

Die konkrete Umsetzung der neuen Verfassung wird der neuen Regierung obliegen. Wie sie das machen wird, steht heute noch in den Sternen.

Malte Seiwerth

ist Redaktionsmitglied des Schweizer Onlinemagazins Das Lamm. Er studierte Geschichte in Chile, lebt derzeit in Santiago und schreibt von dort für verschiedene deutschsprachige Medien.