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Nach uns die Kapitalflut

Westliche Investor*innen wollen die Ukraine zu einem »Leuchtfeuer der Hoffnung für die Kraft des Kapitalismus« machen

Von Lene Kempe

Bild eines diplomatischen Empfangs. Im Hintergrund sind ukrainische und EU-Flaggen zu sehen. Im Vordergrund stehen links Ursula von der Leyen und links Wolodymyr Selenskyj vor Rednerpulten.
Die EU möchte die Ukraine auch nach dem Krieg eng an sich binden: Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj. Foto: President of the Ukraine Wolodymyr Selenskyy / Wikimedia, CC BY 4.0

Man dürfe nicht vergessen, dass der Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft »auch ein gewaltiges Konjunkturprogramm für die europäische Industrie und Wirtschaft« sei, erinnert der Handelsblatt-Journalist Mathias Brüggemann am Ende eines Beitrags über die Kosten und Risiken jener Operation, die derzeit von unterschiedlichsten Akteuren mit hohem Druck vorangetrieben wird: die Vorbereitung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der kriegszerstörten Ukraine. Schon kurz nach Kriegsbeginn, im Mai 2022, hatte die EU-Kommission ihre Vorstellung eines Wiederaufbauplans bekannt gegeben. Und sie hatte deutlich gemacht, dass der Union darin eine entscheidende Gestaltungsrolle zukommen müsse.

Einige Wochen später, Mitte Juni, erhielt die Ukraine ihren Status als EU-Beitrittskandidatin. Im Oktober forderten Kanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dann gemeinsam einen »europäischen Marshall-Plan für die Ukraine« und machten nochmals klar, wie eng sie die Zukunft der Ukraine mit der EU verknüpft sehen.

Heute, knapp 16 Monate nach Kriegsbeginn, ist das Feld jener, die sich für die Zeit nach dem Abzug der russischen Truppen aufstellen, extrem unübersichtlich. Eine ganze Armada an Investor*innen, Unternehmen, staatlichen und multilateralen Akteuren schmiedet Pläne für eine neue, modernisierte Ukraine.

Milliarden-Schulden

Ihre Erwartungshaltung, diesen Prozess mitzugestalten, ergibt sich vor allem aus ihrer Rolle als Schuldner*innen. Die EU hatte der Ukraine im ersten Kriegsjahr gut 19 Milliarden Euro an Hilfsgeldern überwiesen und weitere 18 Milliarden für 2023 zugesagt. 24,5 Milliarden Euro reine Finanzhilfen kamen aus den USA sowie 43,2 Milliarden militärischer und 3,6 Miliarden Euro humanitärer Hilfen. Großbritannien zahlte alles zusammengenommen 9,8 und Deutschland 7,3 Milliarden Euro. Die Weltbank hatte ihre Kreditzusagen um drei Milliarden erhöht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) genehmigte Anfang April eine Zahlung über 15,6 Milliarden US-Dollar und schätzt, dass die Ukraine in den kommenden vier Jahren mindestens weitere 115 Milliarden braucht, um ihren Staatsbetrieb am Laufen zu halten.

Bis 2024 ist mit den bisher zugesagten Mitteln der laufende Haushalt der Ukraine mehr oder weniger gedeckt. Der langfristige Finanzbedarf erfordert allerdings nach Meinung internationaler Geber*innen eine noch weitaus höhere Summe, denn der große Flächenstaat liegt größtenteils brach, Häuser, Fabrikanlagen und kritische Infrastruktur sind zerstört, Agrarflächen unbenutzbar, Schulen und Krankenhäuser kaputt. Der Finanzbedarf wird mittlerweile auf Summen zwischen 400 Milliarden und 1,2 Billionen Euro geschätzt.

Dass diese Mittel nicht nur aus staatlichen Kassen kommen können, sondern private Finanziers einen Großteil des Geldes aufbringen sollen, darüber herrscht Einigkeit. Und diese privaten Akteure sind längst aktiv: Schon im Januar hatte BlackRock-Chef Larry Fink auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos angekündigt, die Ukraine »mit Kapital fluten« und zu einem »Leuchtfeuer der Hoffnung für die Kraft des Kapitalismus« machen zu wollen. Der weltgrößte Vermögensverwalter koordiniert mittlerweile den Aufbau eines Eine-Billion-Dollar-Fonds – im Auftrag der ukrainischen Regierung. Dafür, so schreibt die Wirtschaftswoche, hätten sich »die mächtigsten Finanzakteure der Welt zusammengeschlossen«.

Neben BlackRock sind etwa Finanzdienstleister JP Morgan und die Unternehmensberatung McKinsey mit im Boot. Der ukrainische Präsident Selenskyi selbst hatte auf dem Davos-Forum um diese privaten Finanziers geworben und sein Land als attraktives Ziel für Investor*innen und Anleger*innen präsentiert, ein Land, das ganze Städte und Industriezweige neu aufbauen müsse und das über gut ausgebildete Fachkräfte verfügt, vor allem im zukünftig so wichtigen IT-Bereich. Dass Selenskyi den Kriegszustand genutzt hatte, um das ukrainische Arbeitsrecht zu schleifen, dürfte aus Investor*innensicht ein weiterer positiver Standortfaktor sein.  

Riesige Rohstoffvorkommen  

Aus Sicht deutscher, vor allem kleiner und mittelständischer Unternehmen ist die Ukraine als Produktionsstandort schon lange interessant, weil die Löhne niedrig sind, aber auch wegen der geografischen Nähe. Im Zuge der Lieferkettenstörungen während der Corona-Pandemie und wegen des Konfliktes mit China ist dieses »Nearshoring« noch attraktiver geworden. Zudem sollen in der Ukraine Industriezweige ganz neu aufgebaut werden, die »perfekt mit den Kompetenzen der deutschen Industrie« zusammenpassen.

Um diese Beziehungen zu festigen, reiste Wirtschaftsminister Robert Habeck im April mit einer Delegation von Wirtschafts- und Unternehmensvertreter*innen in die Ukraine. Der Bayer-Konzern kündigte nach der Reise an, nochmals 60 Millionen Euro in die ukrainische Saatgutproduktion investieren und eine Aufbereitungsanlage für Maissaatgut in Pochuiky, nordwestlich von Kiew, aufrüsten zu wollen. Die Bundesregierung hat für solche Projekte eigens ihre schon vor dem Krieg sehr gefragten Investitions-, aber auch Exportgarantien für die Ukraine aufgestockt. Anfragen kämen derzeit vor allem aus der Bauindustrie und der Landwirtschaft.

Der lukrative, exportstarke Agrarsektor und die insgesamt 32 Millionen Hektar Ackerland gelten ausländischen Investor*innen als einer der interessantesten Bereiche, aber auch der IT-Sektor, den die ukrainische Regierung weiter fördern möchte. Und schließlich hatte Selenskyi – noch unter Kriegsbedingungen – die Liberalisierung des Agrarlandhandels und die Privatisierung von 3.400 der rund 3.700 Staatsbetriebe weiter vorangetrieben, um Investor*innen anzulocken.

Ein besonderes Interesse an dem Land haben Deutschland, die EU und vermutlich auch Russland, weil es über riesige Rohstoffvorkommen wie Lithium- und Titanlagerstätten sowie unerschlossene Öl- und Gasfelder verfügt. Bei 22 der 30 von der EU als kritisch eingestuften Rohstoffe wurden Vorkommen in der Ukraine nachgewiesen. Im Juli 2021 hatte die EU deshalb eine Partnerschaft mit der Ukraine über eben diese kritischen Rohstoffe geschlossen. Viele davon, etwa die größten Lithiumvorkommen, befinden sich allerdings in der Ostukraine, in den jetzt von Russland besetzten Gebieten.

Vor allem Lithium ist ein entscheidender Stoff für die europäische Energiewende, weil es etwa in Batterien für Elektroautos steckt. Diese Gebiete von Russland zurückzuerobern liegt also auch im Interesse von EU und Bundesregierung, die ihre Wirtschaften im Eiltempo auf neue Energien umstellen und derzeit etwa in Lateinamerika verstärkt um Rohstoffpartnerschaften buhlen.

Mit dem Ende des Krieges könnte in der Ukraine eine Art Goldgräberstimmung ausbrechen

Mit dem Ende des Krieges, darauf deuten diese Entwicklungen hin, könnte in der Ukraine also eine Art Goldgräberstimmung ausbrechen – abhängig davon, welche territorialen Zugeständnisse letztlich an Russland gemacht werden. Ob und wann es gelingen könnte, Russlands Armee beispielsweise aus dem wirtschaftlich wichtigen Osten mit seinen riesigen Rohstoffvorkommen zu vertreiben, ist bekanntermaßen vollkommen offen. Dass aber das Interesse der westlichen Bündnispartner, der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen, über geopolitische Erwägungen hinausreicht und wirtschaftliche Interessen hier eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ist offensichtlich.

Back to the 80s

In der Ukraine könnte sich dann abspielen, was in den 1980er und 90er Jahren an der Tagesordnung war: Ein Land und die Menschen darin geraten in den Zangengriff von Investor*innen, die ganze Wirtschaftssysteme umgestalten und aus Boden, Arbeitskraft und Institutionen rauspressen, was es an Profit zu holen gibt. Das Ziel sowohl der westlichen Geldgeber*innen als auch der Regierung Selenskyi ist nicht einfach der Wiederaufbau der Ukraine; das postsowjetische Land soll in hoher Geschwindigkeit zu einem neoliberalen Musterstaat umgebaut werden – was in den letzten 30 Jahre nur zur Hälfte gelang, weil die geforderten Reformen von den zwischen der EU und Russland pendelnden ukrainischen Machthabern aus Sicht westlicher Geldgeber*innen zu langsam umgesetzt wurden.

Ein Wiederaufbau, nicht »nur im Sinne von building back better, sondern im Grunde eine Art Upgrade, eine Art Modernisierung, eine Art digitale Zukunft« für das Land zu schaffen, sei das Ziel, so formuliert es Rainer Lindner, Vorsitzender des in der Ukraine tätigen Stahlhändlers Heine und Beisswenger, etwas blumiger.

Eine entscheidende Frage wird sein, wer diesen neoliberalen Umbau des Landes koordiniert und damit bestimmt. Da müsse Europa ganz klar eine Führungsrolle übernehmen und dürfe das nicht den Amerikanern überlassen, meint etwa die Außenpolitik- und Sicherheitsexpertin Liana Fix. Allein wegen des EU-Beitrittskandidatenstatus der Ukraine sei diese dafür prädestiniert, so meinen auch die Kommissionspräsidentin von der Leyen und die Bundesregierung. Die EU hat dafür im Januar eine »Geberkoordinierungsplattform« eingerichtet, die Bundesregierung die »Plattform Wiederaufbau Ukraine«, der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft informiert mit seinem regelmäßigen »Update Recovery Ukraine« auch über Geschäftschancen vor Ort.

Dass sich die US-Regierung als größter Finanzgeber oder der von BlackRock koordinierte Billionen-Fonds dieser beanspruchten Führungsrolle unterordnen, scheint indes unwahrscheinlich. »Es wird ein konflikträchtiges Feld sein, dieser Wiederaufbau der Ukraine«, kommentiert vor diesem Hintergrund ein Jahr nach Kriegsbeginn der Wirtschaftsjournalist Daniel Imwinkelried.

Am wenigsten realistisch scheint jedenfalls, dass die Ukraine selbst, wie vielfach öffentlich kolportiert, die zentralen Entscheidungen über den eigenen Wiederaufbau treffen wird. Zwar arbeitet auch die Selenskyi-Regierung an Koordinierungs- und Vernetzungsangeboten und wirbt aktiv um Investor*innen und Unternehmen. Das osteuropäische Land hatte allerdings schon vor dem Krieg, Ende 2020, knapp 130 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden. Das meiste davon bei privaten Kreditgebern, aber auch beim IWF, der der Ukraine 2014 große Kredite gewährt hatte, bei der Weltbank oder der Europäischen Entwicklungsbank. Dieser Schuldenberg ist in rasantem Tempo gewachsen, insbesondere was die Staatsschulden angeht. 2023, so rechnet das Statistikportal Statista, wird die Schuldenquote in Prozent des Bruttoinlandsproduktes voraussichtlich auf rund 98,3 Prozent wachsen.

Investor*innenträume

Und auch die große Mehrheit der aktuellen Hilfszahlungen sind keine nicht-rückzahlbaren Zuschüsse, sondern Kredite. Zwar gelten derzeit unterschiedliche Schuldenmoratorien, auch diese Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen sind aber nur zeitlich nach hinten verschoben. Der EU-Beitrittsprozess wird zudem weiter genutzt werden, um politische Reformen wie Privatisierungen von Staatsbetrieben, die weitere Liberalisierung des Agrarsektors, Korruptionsbekämpfung oder Sparmaßen im Bereich der öffentlichen Ausgaben einzufordern. Allein über diesen Hebel werden Investitionsentscheidungen effektiv gesteuert. Zudem wird die Ukraine neue Schulden aufnehmen müssen, um die alten zu begleichen. Ein bekannter Teufelskreis. Allein im letzten Jahr musste die Ukraine insgesamt 6,2 Milliarden Dollar für den Schuldendienst an ausländische Gläubiger aufbringen, 2,7 davon an den IWF, der seine »Hilfen« stets an eine neoliberale Reformagenda knüpft.

Welchen Kurs die Entwicklung in der Ukraine in den nächsten Jahren einschlagen wird, ist unmöglich vorherzusagen. Weder ist klar, wie lange der Krieg noch dauern und wie er enden wird, noch ob die Selenskyi-Regierung bis zum Ende im Amt bleibt, oder wie sich das geopolitische Kräfteverhältnis bis dahin verschoben haben wird. Es ist eine Rechnung mit etlichen Unbekannten. Sicher ist aber, dass eine internationale Finanz-, Wirtschafts- und Politikelite gewillt ist, die Ukraine in Zeiten der wachsenden Systemkonkurrenz zu einem Leuchtturmprojekt des neoliberalen Kapitalismus zu machen.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.

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