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»Früher hat der Auto­konzern die gesamte Wertschöpfungs­kette kontrolliert«

Wie sich der Umbau eines ganzen Industriezweiges auf Produktions­netzwerke und Arbeits­bedingungen auswirkt, erzählt Johannes Schulten im Interview

Interview: Lene Kempe

Der Nostalgiefaktor ist jetzt schon unverkennbar: Das VW-Stammwerk in Wolfsburg, einst die größte Fabrikanlage der Welt. Bis Tesla in Texas eine größere baute. Foto: Roger W/Flickr, CC BY-SA 2.0

Immer weniger Autos werden in Deutschland produziert, ganze Fertigungszweige verlieren an Bedeutung, und die IG Metall muss sich in einer ihrer wichtigsten Branchen neu aufstellen. Was der Umbruch der globalen Automobilindustrie für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften bedeutet und warum es dabei um mehr geht als um Elektromotoren, damit hat sich Johannes Schulten, gemeinsam mit seinem Co-Autor Jörn Boewe, gerade in einer Studie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt.

In eurer Studie gibt es ein schönes Zitat von dem Toyota-Manager Jim Adler: »Software is eating the world, and cars are next on the menu«. Was meint er damit?

Johannes Schulten: Das Zitat beschreibt, wie sich die Wertschöpfungsketten in der Automobilindustrie öffnen. Und der große Player, der jetzt neu mitmischt, das sind die Big Tech-Unternehmen, vor allem aus den USA. Die stürzen sich gerade auf die Automobilindustrie, weil dort richtig viel Geld verdient werden kann. Software wird im Zuge der Digitalisierung des Autos immer wichtiger. Bislang haben die Autokonzerne ihre eigene Software entwickelt und sehr viel Geld in die Entwicklung eigener Betriebssysteme gesteckt. Aber weil die Ansprüche immer höher werden, schaffen die es nicht mehr mitzuhalten. Mercedes Benz und VW haben schon große Abstriche gemacht und setzen jetzt stärker auf Kooperation mit Firmen wie Google oder Nvidia. Das bedeutet, dass deren Anteil und damit auch deren Macht innerhalb der Wertschöpfungskette größer wird. Früher hat der Automobilkonzern immer die gesamte Wertschöpfungskette kontrolliert, hierarchisch von oben nach unten. Dieses Modell existiert so nicht mehr.

Die Umstellung auf Elektromobilität bedeutet also viel mehr als einfach den Umstieg auf eine neue Antriebstechnologie …

Genau. Wir nutzen dafür den Begriff der »doppelten Transformation«, weil es eine Gleichzeitigkeit gibt von einerseits einer Umstellung auf Elektromobilität, also einem neuen Antriebsstrang, der den Verbrenner ersetzt. Und parallel dazu gibt es den erheblich gesteigerten Bedarf an softwarebasierten Lösungen. Das hängt zum Teil, aber nicht nur, mit dem Umstieg auf Elektromotoren zusammen.

Dieser neue Antriebsstrang soll uns ja nun vor dem Klimakollaps bewahren. Angenommen ich hätte genügend Geld dafür, sollte ich mir also einen Tesla kaufen?

Der »CO2-Rucksack«, mit dem Elektroautos aus der Fabrik auf die Straße kommen, ist erstmal sehr viel größer als bei Verbrennerautos. Und dieses Mehr an Emissionen trägt sich nur langsam ab. Je nach Studie hast du ab 100.000 oder auch schon ab 30.000 Kilometern eine positive Klimabilanz. So oder so musst du eine Weile fahren. Am besten ist natürlich, du kaufst dir gar kein Auto, aber vielleicht bist du ja auch drauf angewiesen. Da haben Elektroautos schon Vorteile gegenüber Verbrennern. Aber der Punkt ist eben, dass wir insgesamt ein Verkehrssystem bräuchten, wo nicht alles rund ums Auto aufgebaut ist.

Und der Elektromotor wird wohl kaum das Klima retten. Trotzdem werden dafür große Teile der Industrielandschaft umgepflügt. Was sind die Treiber dieser Entwicklung?

In gewisser Weise ist das schon der Klimaschutz, in Gestalt zum Beispiel von internationalen Abkommen, die CO2-Reduzierungen vorsehen, auch für den Verkehrssektor. Darauf musste die Industrie irgendwann reagieren. Gleichzeitig hast du einen bereits bestehenden riesigen Markt für Elektromobilität in China, der schon vor etwa acht bis zehn Jahren geschaffen wurde. Damals um die starke Smog-Bildung in den chinesischen Großstädten zu reduzieren. Aber auch, weil Elektromobilität als Zukunftstechnologie gesehen wurde, in der man die eigene Industrie stark aufstellen konnte. Und dieser riesige Markt wird natürlich auch schon von den deutschen Konzernen bespielt.

FDP-Verkehrsminister Volker Wissing scheint diese Entwicklung aufhalten zu wollen und hat gerade erfolgreich das Verbrenner-Aus auf EU-Ebene blockiert. Fahrzeuge, die E-Fuels verbrennen, dürfen auch nach 2035 verkauft werden…

Das halte ich für eine Art Nebenkriegsschauplatz. Das ist nicht die entscheidende Auseinandersetzung. Im Schwerlastverkehr, im Schiffsverkehr etwa, oder in Ländern, wo es auf absehbare Zeit keine Ladeinfrastruktur geben wird – und das sind große Weltregionen – sind E-Fuels vielleicht sogar eine sinnvolle Alternative. Aber an dieser Frage entscheidet sich nicht die Zukunft der Mobilität. Der Umstieg auf Elektromobilität geht ganz sicher weiter. Ich könnte mir aber vorstellen, dass E-Fuels in sehr hochpreisigen Segmenten für große, hochmotorisierte Autos eine Rolle spielen werden. Das ist für die deutschen Hersteller, soweit sie noch hier produzieren, ein wichtiger Markt. Für den Massenmarkt wird hier ja kaum noch produziert. Da kommen die Autos größtenteils aus den Nachbarländern, aus der europäischen Peripherie. 

Damit sprichst du eine weitere große Entwicklungstendenz in der Autoindustrie an, dass nämlich schon seit Jahren immer mehr Produktion ins Ausland verlagert wird.

Ja, das stimmt. Die Gesamtproduktion ist in den letzten Jahren stark gestiegen, aber anteilig hat vor allem die Auslandsproduktion zugenommen. Etwa seit dem Jahr 2010 wächst die stärker als die Inlandsproduktion. Produktionsverlagerungen ins Ausland haben allerdings schon seit den 1990er Jahren deutlich zugenommen. Das hatte mit der Ostexpansion der EU zu tun, aber auch mit dem Bau neuer großer Werke in China. Denn die Autoindustrie begann vermehrt da zu produzieren, wo die Märkte sind. »Local for local« nannte man das. Mittlerweile werden doppelt so viele Autos im Ausland gebaut wie im Inland. Bekommt das jetzt nochmal einen Schub? Wir sagen: Auf jeden Fall. Das Elektroauto ist ein neues Produkt, bei dem neu ausgehandelt wird, wo es produziert wird. Viele Automobilhersteller werden neue Fabriken bauen, und da ist es natürlich einfacher, direkt ins billige Ausland zu gehen.

Foto: privat

Johannes Schulten

hat zum Thema gewerkschaftliche Erneuerung promoviert und arbeitet am IAQ, dem Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen. Gemeinsam mit Jörn Boewe betreibt er außerdem das Journalistenbüro work in progress in Berlin-Moabit.   

Was bedeutet das für den »Standort Deutschland«? Die Autoindustrie ist ja eine tragende Säule des deutschen Wirtschaftsmodells.

Wenn neue Produkte auf den Markt kamen, konnten die Betriebsräte in den deutschen Stammwerken bisher immer argumentieren: Wir haben hier gut ausgestattete Fabriken mit hohen Durchlaufzahlen, wir geben das alte Produkt ab und bekommen dafür das neue. Das alte wandert in die Peripherie und alle sind glücklich. Diese Situation haben wir heute nicht mehr. In den USA zum Beispiel wurde jüngst der Inflation Reduction Act verabschiedet, der Milliardensubventionen für »grüne Technologien« vorsieht. Fast alle Betriebsräte haben uns berichtet, dass ihre Unternehmen im Moment überlegen, die nächste Produktionsstätte in den USA zu bauen. Die Grundtendenz ist klar: In Deutschland wird immer weniger gebaut, fast nur noch das hochpreisige Premiumsegment und alles andere geht woanders hin. In den Komponenten-Werken, dort, wo zum Beispiel die Motoren hergestellt werden, werden Arbeitsplätze in den nächsten Jahren deutlich abgebaut. Das ist ausgemacht, die Frage ist nur, wie weit sie runtergehen.

Es stand ja mal die Zahl von 400.000 Stellen im Raum?

Ja, die Zahl kenne ich auch, da gibt es allerdings sehr unterschiedliche Einschätzungen. Die IG Metall geht eher von 100.000 bis 150.000 Stellen aus, die wegfallen, vor allem im Bereich des Antriebsstrangs und hier vor allem in der Zulieferindustrie, die Komponenten rund um den Verbrennungsmotor bauen. Das trifft vor allem die Unternehmen ganz unten in der Pyramide, die nicht über die Mittel für Forschung und Entwicklung verfügen, um neue Produkte herzustellen. Bei Bosch oder ZF ist das eine andere Nummer. Auf der anderen Seite entstehen aber auch neue Produktionsstätten wie die Gigafabrik von Tesla in Brandenburg.

Tesla kann ziemlich schnell irgendwo eine Fabrik hinsetzen. Die Organisierung der Beschäftigten dauert deutlich länger.

Tesla ist ja für seine gewerkschaftsfeindlichen Praxen bekannt. Dabei war die hiesige Autoindustrie immer eine Festung der deutschen Gewerkschaften. Was bedeutet dieser Wandel für die Arbeitnehmer*innenrechte?

Natürlich ist es nicht in Stein gemeißelt, dass man nicht auch bei Tesla Mitglieder gewinnen und stark werden kann als Gewerkschaft. Aber es liegt auf der Hand, dass das erheblich schwerer ist, enorme Ressourcen braucht und eine Weile dauern wird. Tesla kann ziemlich schnell irgendwo eine Fabrik hinsetzen. Die Organisierung der Beschäftigten dauert deutlich länger. Und natürlich hast du einen Bedeutungsverlust, wenn gewerkschaftlich gut organisierte Arbeitsplätze, wie wir sie hier Jahrzehnte lang in der Automobilindustrie hatten, derart unter Druck kommen. Das ist aber auch kein neues Phänomen: Die Produktionsverlagerungen nach Osteuropa in den 1990er Jahren bedeuteten damals schon eine starke Schwächung der hiesigen Gewerkschaften. Hinzu kommt der Wandel der Beschäftigtenstrukturen. Wir haben seit Jahren einen Trend der Zunahme von Angestellten in den Unternehmen, also Entwickler*innen, Ingenieure, Verwaltung. Dieser Trend wird nun nochmal erheblich beschleunigt. Natürlich gibt es auch bei diesen Beschäftigtengruppen Konflikte, aber die zu organisieren braucht Zeit – und eine Umorientierung der Gewerkschaften.

Gibt es Versuche der IG Metall, sich international besser zu vernetzen? Schließlich werden ja auch die Produktionsnetzwerke immer globaler.

In Bezug auf Osteuropa gibt es schon seit vielen Jahren eine transnationale Partnerschaftsinitiative mit der ungarischen Automobilarbeiter-Gewerkschaft VASAS. Die IG Metall unterstützt die ungarischen Kolleg*innen bei der Weiterbildung und Organisierung, speziell in Betrieben deutscher Unternehmen. Das ist ein guter Ansatz, aber die ungarischen Gewerkschaften sind generell sehr schwach. Der Effekt ist deshalb begrenzt. Beim internationalen Dachverband IndustriALL gibt es schlaue Köpfe, die schon seit ein paar Jahren versuchen, innerhalb ihres Netzwerkes Allianzen anzustoßen. Für den Batteriesektor beispielsweise, von der Mine, über die Raffinerie und Batteriefabrik zum Montagewerk und schließlich zum Recycling. Aber das funktioniert nur, wenn vor Ort handlungsfähige Akteure sind. Gerade in Ländern, in denen kritische Rohstoffe angebaut werden, gibt es oft keine starken Gewerkschaften. Mit Blick auf China hat uns ein Gewerkschafter von IndustriALL gesagt, das Land sei für sie eine Blackbox.

Bei allen Schwierigkeiten, die du beschrieben hast: Siehst du auch Chancen in diesem Prozess der doppelten Transformation?

Ohne Auto wird es so schnell nicht gehen, gerade im ländlichen Raum. Da können neue Technologien durchaus einen positiven Effekt haben. Also sowohl der Elektromotor als auch der Digitalisierungsschub. Die Potenziale sind da ja unendlich. Shuttle-Busse, die mit Elektroantrieb fahren, und digitalisierte Rufsysteme wären bestimmt eine gute Möglichkeit. Am Ende ist entscheidend, wie das organisiert ist. Also privatwirtschaftlich oder kommunal, über den ÖPNV oder die Stadtwerke zum Beispiel. Und dann könnte man tatsächlich die Mobilität in ländlichen Gebieten verbessern und die Menschen unabhängig machen vom Einzel-Pkw.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.