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Kanonen­futter­maschinerie

Wer nicht für Russland in den Krieg ziehen will, hat schlechte Chancen auf Asyl in der BRD – und auch der Ton gegenüber geflohenen Wehrpflichtigen aus der Ukraine wird rauer 

Von Nelli Tügel

Ein Soldat steht mitten in einem verschneiten Trümmerfeld. Er schaut über die Schulter.
Dem Schlachtfeld zu entkommen, ist kaum möglich – jene, die es versuchen, werden oft allein gelassen. Foto: picture alliance / Anadolu / Diego Herrera Carcedo

Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen.« Das hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP im Frühjahr 2022, kurz nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine, behauptet. Als dann einige Monate später in Russland die Teilmobilmachung verkündet wurde und Zehntausende Russ*innen das Land verließen, äußerten sich aus diesem Anlass Politiker*innen aller Regierungsparteien ganz ähnlich wie Buschmann. Gefolgt ist den warmen Worten allerdings nichts. Nur 92 »wehrfähige« Personen aus Russland haben – Stand November 2023 – in der Bundesrepublik Asyl erhalten. An der Nachfrage liegt es nicht: 3.500 Asylanträge von solchen, die nicht für Putin in den Krieg ziehen wollen, hatte es bis Herbst 2023 gegeben. Die Hälfte dieser Anträge war laut Bundesinnenministerium, das diese Zahlen auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger hin preisgab, noch nicht bearbeitet. Von den anderen wurde die überwältigende Mehrheit nicht bewilligt. Oft aus formalen Gründen – mit Verweis auf die Dublin-Regelung. Der zufolge müssten die Betroffenen ihren Asylantrag dort stellen, wo sie die EU betreten haben. 

Das wiederum ist hochproblematisch, da in einigen der Staaten, in denen der Asylantrag bearbeitet werden müsste – konkret Polen, Litauen und Kroatien – das Risiko für eine Ablehnung und sogar Abschiebung nach Russland groß ist. Dies erklärt Rudi Friedrich von Connection e.V., einem Verein, der Deserteur*innen, Kriegsdienstverweigerer*innen und Wehrdienstflüchtlinge, nicht nur, aber auch aus Russland und der Ukraine unterstützt. Er berichtet etwa vom Fall eines Russen, dessen Asylantrag mit Verweis auf die Dublin-Regelung abgelehnt und der nach Polen zurückgeschickt werden sollte. Der Mann rettete sich in Neuenhagen ins Kirchenasyl. Auch, weil er einen triftigen Grund dafür hatte, dem Asylverfahren in Polen zu misstrauen: Sein Freund wurde dort abgelehnt, musste nach Russland zurückkehren und starb kurz darauf an der Front.

Eine lächerlich geringe Quote positiv beschiedener Asylentscheide in der Bundesrepublik ließ sich schon früh befürchten. Zum Beispiel, als ein Antrag der Linksfraktion im Bundestag im September 2022 durchfiel. In diesem hatten die Abgeordneten gefordert, »sofort alle notwendigen Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene zu ergreifen«, um russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern sicheren Schutz und Aufenthaltsstatus zu erteilen. Gefordert wurde überdies, ihnen eine sichere Einreise in die EU beziehungsweise nach Deutschland zu ermöglichen. Die allermeisten der Hunderttausenden vor einem Einzug in die Armee geflüchteten Russ*innen sind nämlich gar nicht in der EU, sondern anderen Staaten gestrandet. Die Wege sind ihnen versperrt, da die Visavergabe durch die Länder des Schengen-Raums an Russ*innen streng reglementiert wird.

Warum Desertion kein Asylgrund ist

Dass es mit der Erleichterung von Asyl nicht weit her sein dürfte, zeigte sich bei genauerem Hinsehen schon im Frühjahr 2022. Damals hatte Nancy Faesers Haus auf Fragen des Bundesinnenausschusses zu der Thematik Stellung bezogen und erklärt: »Bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden kann für den Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation derzeit in der Regel von drohenden Verfolgungshandlungen (§ 3a AsylG) ausgegangen werden. (…) Da bereits die Bezeichnung ›Krieg‹, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.« Mit der Interpretation von Desertion als politisch-oppositionellen Akt öffnete das Bundesinnenministerium zwar eine Tür, unterstrich aber zugleich Deutschlands grundsätzliche Haltung, dass Desertion an sich noch kein Asylgrund ist. (1) Zudem nahm es in derselben Stellungnahme eine entscheidende Einschränkung vor, nämlich, dass sich die genannten Ausführungen »ausschließlich auf die Situation von Deserteuren« bezögen. Wehrdienstflüchtlinge, hieß es, seien davon ausdrücklich nicht umfasst. (ak 686) 

Das ist so bemerkenswert wie ernüchternd. Denn der übergroße Teil derer, die in der Bundesrepublik Schutz suchen, um nicht vom russischen Militär eingezogen zu werden, sind Wehrdienstflüchtlinge – und nicht Deserteure. Das ist auch logisch: Zu desertieren ist ungleich schwerer und gefährlicher, als sich der Einberufung rechtzeitig zu entziehen. Auch zwei ältere Urteile des Europäischen Gerichtshofes zum Schutz von geflohenen Kriegsdienstverweigerern (2) nützen hier nichts – denn die Betroffenen müssten, wie Pro Asyl schreibt, dafür »zuvor in ihrem Land einen förmlichen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben, der abgelehnt wurde«. Die meisten Wehrdienstflüchtlinge haben das nicht getan. 

Nur 2,6 Prozent der Asylanträge von russischen Militärverweigerern wurden positiv beschieden.

Was auf den ersten Blick paradox wirkt – dass Deutschland und die EU zwar Russ*innen auffordern, Putin nicht zu unterstützen, ihnen aber zugleich sichere Fluchtwege versperren und keinen großzügigen Schutz bieten – folgt dabei einer inneren Logik. Zum einen dürfte es wenig Interesse an einem Präzedenzfall geben: Denn, wenn Verweigerer aus Russland leicht Asyl erhalten, könnten ja auch Staatsbürger*innen anderer kriegführender Länder auf die Idee kommen, in Deutschland Schutz zu suchen. Hinzu kommt: Auch die Bundesrepublik, in der die Wehrpflicht zwar ausgesetzt, aber nach wie vor aktivierbar ist, behält sich vor, ihre Bürger*innen potenziell zum Töten und Sich-Töten-Lassen verpflichten zu können – Stichwort »Kriegstauglichkeit«. Ein zu lockerer Umgang mit Desertion und Wehrdienstentzug könnte sich (aus dieser Sicht) zukünftig negativ auf den grundsätzlich beanspruchten staatlichen Zugriff auswirken. 

»Bürgergeld statt Krieg«

Gegenüber ukrainischen Militärdienstpflichtigen, von denen sich nach Schätzungen von Connection e.V. etwa 100.000 nach Deutschland und 325.000 in die EU geflüchtet und die damit das mit Kriegsbeginn verhängte Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren gebrochen haben, wird dieser Zugriffsanspruch bereits immer deutlicher formuliert. Nicht nur von der Selenski-Regierung, die sich »zuhause« angesichts des anhaltenden Massensterbens an der Front wachsendem Druck ausgesetzt sieht und im Dezember 2022 einen Appell an ukrainische Männer im Ausland richtete, zurückzukehren und »ihr Land« zu verteidigen, sondern auch von deutschen Politiker*innen und einigen Journalist*innen. 

So machte etwa FAZ-Redakteur Peter Karstens Ende vergangenen Jahres eine atemberaubend menschenverachtende Rechnung auf, die er »das Ukraine-Paradox« taufte: Die Bundesrepublik, so Karstens‘ These, konterkariere ihre eigenen milliardenschweren Militärhilfen für die Ukraine, wenn sie zugleich »220.000 Männer mit Bürgergeld unterhält, die sich seit Kriegsbeginn aus der Ukraine in Sicherheit gebracht haben«. Deutschland zahle damit »deutlich mehr Geld für den Lebensunterhalt ukrainischer Wehrdienstverweigerer, als es in die Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Verteidiger gegen die russische Aggression investiert«. »Bürgergeld statt Krieg – Mehr als 200 000 potenzielle Soldaten bekommen bei uns Stütze«, hetzte am Neujahrstag 2024, in dasselbe Horn wie Karstens blasend, die Bild-Zeitung. 

Zwar stellte Justizminister Buschmann noch im Dezember 2022 klar, dass man Ukrainer*innen nicht zum Kriegsdienst zwingen werde. (»Dass wir nun Menschen gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen, das wird nicht der Fall sein«). Doch auf solche Versicherungen ist erfahrungsgemäß wenig Verlass. Und der Ton ist in kurzer Zeit schon deutlich rauer geworden. So hat der CDU-Kriegspolitiker Roderich Kiesewetter die Streichung von Bürgergeld für ukrainische Wehrpflichtige ins Spiel gebracht. Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, erklärte Anfang Januar nach der CSU-Neujahrsklausur, Ukrainer*innen, die sich nicht zur Arbeit in Deutschland zwingen lassen wollen, sollten in die »sichere« Westukraine abgeschoben werden können. Der Ukrainer*innen nach Kriegsbeginn gewährte humanitäre Aufenthalt ist befristet bis zum Frühjahr 2025, wie es danach weitergeht, ist noch völlig offen. Es ist gut vorstellbar, dass bei anstehender Verlängerung dieser Regelung die Stimmen lauter werden, die mindestens militärdienstpflichtigen Ukrainer*innen keinen Aufenthalt mehr gewähren wollen.

»Schon jetzt wenden sich viele Ukrainer*innen an uns, um zu erfahren, wie sie einer Rekrutierung und Strafverfolgung entgehen können. Sie sind beunruhigt«, kommentiert Rudi Friedrich von Connection e.V. diese Debatte. Er erklärt allerdings auch, dass es zumindest für Forderungen, Wehrpflichtige, die sich durch die Flucht nach Deutschland in der Ukraine strafbar gemacht haben, auszuliefern, keine rechtliche Handhabe gebe. »Eine Auslieferung wegen Militärstrafvergehen ist aufgrund des Europäischen Auslieferungsabkommens ausgeschlossen.« 

Mit Sorge blicken Friedrich und seine Gefährt*innen unter anderem auf das neue Mobilisierungsgesetz, das derzeit dem ukrainischen Parlament vorliegt, dort am 7. Februar in erster Lesung beschlossen wurde und 500.000 neue Soldaten beschaffen soll, unter anderem durch eine drastische Registrierungspflicht und die Erhöhung von Strafen bei Wehrdienstentzug. In der Beratungspraxis hat der Verein es nun öfter auch mit Ukrainern zu tun, die an der Front waren und sich beim Besuch der nach Deutschland geflüchteten Familie absetzen, also nicht in die Ukraine zurückkehren, weil sie einfach nicht mehr können. »Allen, die sich dem Krieg verweigern, muss Schutz gewährt werden – sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland«, forderte kürzlich auch Michael Schulze von Glaßer von der Deutschen Friedensgesellschaft DFG-VK in einer gemeinsamen Presseerklärung mit Connection e.V.. Ein Thema übrigens, das sich in Bezug auf den Ukraine-Krieg zerstrittenen deutschen Linken eigentlich für die gemeinsame Bearbeitung anbietet, denn auf die Unterstützung derer, die sich dem Krieg verweigern, dürften sich wohl alle einigen können. Bisher aber ist es zu oft bei schriftlichen Bekenntnissen, Deserteuren und Militärflüchtigen helfen zu wollen, geblieben. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Zeit, tatsächlich tätig zu werden?

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Anmerkungen:

1) Pro Asyl schreibt dazu, dass »die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Allgemeinen nicht als Asylgrund gewertet« wird. Grundsätzlich, so Pro Asyl, werde in der obergerichtlichen Rechtsprechung Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung als legitimes staatliches Handeln eingestuft.

2) Kriegsdienstverweigerung ist das erklärte Nicht-Befolgen einer Einberufung aus religiösen oder politischen Gründen.

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