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Ethnische Säuberung in Bergkarabach

Aserbaidschan ist in die Enklave einmarschiert und hat ihre Bewohner*innen vertrieben – nun könnte ein Krieg gegen Armenien folgen

Von Rovshana Orujova

Eine Person in roter Hose und Pullover balanziert auf einem Brett, unter ihr Schutt und ein zerstörtes Haus.
Schon beim Krieg 2020 waren die Bombadierungen durch Aserbaidschan verheerend: zerstörtes Gebäude in Bergkarabach/Arzach. Foto: Yan Boechat/VOA, gemeinfrei

In der Region Bergkarabach/Arzach (1) leben keine Armenier*innen mehr. Fast alle der etwa 120.000 Einwohner*innen sind seit Ende September unter dem Eindruck der erneuten Angriffe Aserbaidschans und nach monatelanger Hungerblockade geflohen, die meisten mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Inzwischen ist die Auflösung des international nicht anerkannten Staates besiegelt, Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev kann sein Ziel der ethnischen Säuberung des Gebiets von Armenier*innen als erreicht betrachten. Allerdings mehren sich die Hinweise, dass die Aggression Bakus damit nicht beendet ist. Auch der Süden Armeniens, der zwischen Aserbaidschan und der Exklave Nachitschewan liegt, rückt ins Visier der Regierung in Baku.

Schon 2020 und 2022 griff Aserbaidschan die Region Bergkarabach/Arzach militärisch an, auch damals im September. Die Wahl des Monats verweist auf die Unabhängigkeitserklärung von Bergkarabach/Arzach im September 1991. Am 19. September 2023 begann Aserbaidschan unter dem Vorwand einer Anti-Terror-Operation den jüngsten und vielleicht letzten Angriff auf Bergkarabach/Arzach. Dabei stellte es die eigenen Interessen rücksichtslos über das Leben der Armenier*innen in der Region. Das Hauptziel der Operation war es, die Behörden von Bergkarabach/Arzach zu zwingen, den Bedingungen der Kapitulation zuzustimmen. Ilham Aliyev rechtfertigte die Kriegshandlungen mit internationalem Recht – ein deutlicher Hinweis auf die Schwächen und Unzulänglichkeiten des internationalen Rechtssystems sowie der internationalen Ordnung. Aserbaidschan bezieht sich auf das Prinzip der territorialen Integrität innerhalb des Völkerrechts, auf diplomatischem Parkett gilt die Region als Teil Aserbaidschans.

Dieses Rechtsprinzip legitimiert die Kriege Aserbaidschans. Die Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und Zivilist*innen ist dabei in Konflikten häufig unklar. Oft werden Ziele als militärische dargestellt, obwohl sie eigentlich zivile sind. Die Folge ist, dass abermals Zivilist*innen bombardiert wurden, auch wenn die Regierung in Baku das leugnet.

Das Ende von Bergkarabach

Am 27. September wurde Ruben Vardanyan, ehemaliger Staatsminister von Bergkarabach/Arzach, von den aserbaidschanischen Behörden an der Lachin/Berdzor-Grenze am gleichnamigen Korridor, der einzigen Verbindung der Region mit Armenien, verhaftet und nach Baku gebracht. Vardanyan hatte, wie Tausende Armenier*innen aus Bergkarabach/Arzach, versucht, nach Armenien zu fliehen. Nun drohen ihm bis zu 20 Jahre Gefängnis in Aserbaidschan. Auch Davit Babayan, der Außenminister von Bergkarabach/Arzach, wurde von Aserbaidschan inhaftiert. Der Vorwurf: Er soll während des zweiten Bergkarabachkrieges 2020 Bombadierungen auf Zivilist*innen in Ganja, einer Stadt in Aserbaidschan, befohlen haben. Arayik Harutyunyan, der vorletzte Präsident Bergkarabachs/Arzachs, wurde am 3. Oktober 2023 ebenfalls festgenommen und nach Baku gebracht.

Am 28. September wurde ein Dekret unterzeichnet, das die Auflösung von Bergkarabach/Arzach zum 1. Januar 2024 vorsieht. Das war nur möglich, weil der Krieg Tatsachen geschaffen hat: Zwischen dem 21. und 30. September wurden über 100.000 Armenier*innen aus Bergkarabach/Arzach vertrieben, nachdem sie über zehn Monate hinweg der Blockade des Lachin/Berdzor-Korridors seitens Aserbaidschans ausgesetzt waren. Diese Blockade führte zu Hunger, einem Mangel an medizinischer Versorgung, Stromausfällen und Toten. (Siehe ak 690 und 696)

Aserbaidschan ist es wichtig, auf internationalem Parkett gut dazustehen. Die dortigen Medien haben Videos veröffentlicht, in denen aserbaidschanische Soldaten Armenier*innen auf der Flucht mit Wasser und Essen versorgen. Aserbaidschan inszeniert sich als humanitäre Kraft, und es soll so wirken, als ob die Armenier*innen freiwillig das Gebiet verlassen, um den falschen Eindruck zu erwecken, dass es sich um keine ethnische Säuberung handeln würde. Ein Blick auf die Kommentare von Aserbaidschaner*innen zu diesen Videos zeigt deutlich, wie verbreitet nationalistische und militaristische Ansichten sind. Die Erzählung von der freiwilligen Ausreise ist Teil der ethnischen Säuberung – und die hat eine Vorgeschichte.

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Über zehn Monate wurden Armenier*innen in der totalen Blockade durch sogenannte Öko-Aktivist*innen im Lachin/Berdzor-Korridor eingeschlossen, ausgehungert und sich selbst überlassen. Die vermeintlichen Aktivist*innen protestierten gegen die Regionalregierung in Bergkarabach/Arzach, sie kamen von einer staatlich gelenkten aserbaidschanischen NGO. Mit der Blockade in Lachin/Berdzor sendete das Regime die Botschaft: »Entweder akzeptiert ihr die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft, oder ihr müsst gehen.« So zwang Baku die mehr als 120.000 in Bergkarabach/Arzach lebende Armenier*innen, erst im Elend zu leben und dann zu flüchten.

Um Aserbaidschan für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, hat das armenische Parlament nun das Römische Statut, die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, ratifiziert, obwohl der Kreml zuvor gewarnt hatte, dass diese Handlung negative Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen haben könnte. Am 3. Oktober wurde das Gesetz mit 60 Ja-Stimmen und 22 Nein-Stimmen verabschiedet. Eine Konsequenz der Ratifizierung könnte sein, dass Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Einreise nach Armenien festgenommen wird.

Nationalistische Mobilisierung

Das Regime in Baku behauptet nach wie vor, dass Armenier*innen in Bergkarabach/Arzach bleiben dürften. Demgegenüber steht die Erzählung der letzten 30 Jahre, in der die hochmilitarisierte aserbaidschanische Gesellschaft Armenier*innen als Feinde, als ganz »Andere« zeichnet. Ein Blick in die aserbaidschanischen Geschichtsbücher verdeutlicht, wie tief diese Haltung verankert ist. Ein Ende dieser Logik ist nicht in Sicht.

Seit Jahren wird jeder Dialog zwischen beiden Gesellschaften von der aserbaidschanischen Regierung verhindert, jeder Versuch hierzu niedergeschlagen. Alle politischen Strömungen gegen den Krieg innerhalb Aserbaidschans werden brutal unterdrückt, die Regierung erklärt Kriegsgegner*innen zu inneren Feinden. Diese Propaganda trägt Früchte: In den letzten Wochen, als viele Armenier*innen verzweifelt auf ihre Evakuierung vom Flughafen in Bergkarabach/Arzach warteten, feierten Aserbaidschaner*innen dies als Triumph, freuten sich über das Leid der Armenier*innen und bezeichneten es als historische Gerechtigkeit für das Massaker von Khojaly im ersten Bergkarabach-Krieg. (2) Ein fataler Revanchismus, den der Aliyev-Clan und die politische Führung des Landes für ihren Machterhalt instrumentalisieren.

In der EU gilt Aserbaidschan noch immer als zuverlässiger Partner und Alternative zu den Rohstofflieferungen aus Russland.

Am 29. September äußerte sich Aserbaidschans Präsident Aliyev zur Lage und betonte, mit dem Ende der Militäroperation sei die Souveränität seines Landes wieder hergestellt. Er forderte Vertreter*innen Armeniens auf, an den Verhandlungstisch zu kommen und einen Friedensvertrag zu erarbeiten. Die interessante Frage lautet: Warum besteht Aliyev auf einem unmittelbaren Friedensabkommen? Wie das Feminist Peace Collective (3) analysierte, stehen hinter den Angriffskriegen die wirtschaftlichen Interessen Aserbaidschans in der Region.

Die wirtschaftlichen Kriegsgründe

Die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem aserbaidschanischen Staat und dem britischen Bergbauunternehmen Anglo-Asian Mining (ak 695) über drei neue Bergbaugebiete im Jahr 2022 hat die Bedeutung der Goldminen Qizilbulag und Demirli in Bergkarabach/Arzach erhöht und führte zur Lachin/Berdzor-Blockade. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens waren diese Minen nicht in Betrieb, es hieß, dass ihre Nutzung von der Entscheidung über den endgültigen Status von Bergkarabach/Arzach abhängen würde. Daher der Versuch Aserbaidschans, eine schnelle Entscheidung durch ein »Friedensabkommen« über den Status des Gebiets zu erzwingen.

Darüber hinaus ist die Kontrolle des Zangezur-Korridors (der die Exklave Nachitschewan mit Aserbaidschan verbindet und durch armenisches Staatsgebiet verläuft) für die Regierung in Baku von entscheidender Bedeutung. Dieser geostrategisch wichtige Korridor zwischen Europa und Asien steht unter der Kontrolle Armeniens. Aserbaidschan behauptet, dass Zangezur historisch zu Aserbaidschan gehöre. Seit dem zweiten Bergkarabach-Krieg 2020 intensivierten Aserbaidschan und die Türkei ihre Bemühungen, den Korridor unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Korridor würde eine Verbindung zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan herstellen und gleichzeitig die Türkei über die armenische Provinz Sjunik mit Asien verbinden. Es könnte also durchaus sein, dass ein weiterer Angriffskrieg bevorsteht, nun auf Armenien, um den Korridor, eventuell weitere Gebiete, unter Bakus Kontrolle zu bringen.

Aserbaidschan und die Türkei verbinden nicht nur gemeinsame wirtschaftliche Interessen, in beiden Ländern vertritt die Rechte die Ideologie des sogenannten Panturkismus: eine nationalistische Bewegung, die sich auf eine abgebliche gemeinsame Kultur in mehreren Ländern der Region beruft. (ak 696) Am 5. Oktober änderte Aserbaidschan den Namen einer Straße in Stepanakert/Khankendi, der Hauptstadt Arzachs, in »Anvar Pascha«. Anvar Pasha war einer der Organisator*innen des Völkermords an den Armenier*innen im Osmanischen Reich 1915.

In einer Rede im Jahr 2021 äußerte der türkische Präsident Erdoğan: »Es wird der Tag kommen, an dem wir von Zangezur nach Istanbul reisen können.« Zur Propagierung dieses Vorhabens hat Aserbaidschan ein umgekehrtes »A« kreiert. Der Buchstabe ∀ soll ein militärisches Wiedererkennungssymbol sein, vergleichbar dem Z-Symbol, das Russland im Angriffskrieg auf die Ukraine verwendet. Das umgekehrte »A« soll ein »V« (für Victory) darstellen, die Linie in der Mitte des »V« verweist auf die Straße, den Zangezur-Korridor.

Ein von Baku diktiertes Friedensabkommen dient im gegenwärtigen Konflikt lediglich dazu, die Interessen Aserbaidschans in internationales Recht zu kleiden. Unterstützung findet Aserbaidschan weiterhin bei der EU. Dort gilt das Land noch immer als zuverlässiger Partner und Alternative zu den Rohstofflieferungen aus Russland. Die nun begonnene ethnische Säuberung in dem bis vor kurzem von Armenier*innen bewohnten Gebiet, kompensieren die EU-Staaten mit Spenden. Es soll wohl dazu dienen, das Gesicht zu wahren. Ein Ende der Wirtschaftsbeziehungen zu Aserbaidschan ist nicht zu erwarten.

Rovshana Orujova

studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Orujovas Forschungsfokus liegt auf dem Zusammenhang von Geschlecht und Krieg aus materialistischer Sicht sowie auf gesellschaftspolitischen Analysen des  postsowjetischen Südkaukasus.

Anmerkungen:

1) Arzach ist der armenische Name für Bergkarabach, einer vorwiegend von Armenier*innen bewohnten Exklave innerhalb des Staatsgebiets Aserbaidschans. Seit dem Ende der Sowjetunion existiert die Region als eigener Staat, der allerdings nicht international anerkannt wurde, seither ist die Region zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpft. Zum 1. Januar 2024 wird sie nun aufgelöst und dem Staatsgebiet Aserbaidschans zugeschlagen.

2) Das Massaker von Khojaly bezieht sich auf ein tragisches Ereignis während des ersten Bergkarabach-Krieges. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 griffen armenische Streitkräfte die Stadt Khojaly in Bergkarabach/Arzach an, in der aserbaidschanische Zivilist*innen lebten.

3) https://www.feministpeacecollective.com/en/post/in-solidarity-with-karabakh-artsakh-against-total-war-blockade-and-hegemony

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