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ZeroCovid als geschlechterpolitische Intervention

Frauen sind von den nicht ernst gemeinten Lockdowns besonders betroffen, deshalb ist das Eintreten für eine solidarische Pause auch eine feministische Strategie

Von Jeja Klein

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Gewaltbetroffenheit von Frauen ist noch unterbelichtet; das Wissen um häusliche Gewalt im Lockdown ist eher anekdotisch verbreitet worden, deutlich ist aber: Viele Frauen sind mit ihren Partnern mehr oder weniger stark zuhause eingesperrt, ihre Vulnerabilität gegenüber Intimgewalt ist damit gestiegen. Foto: Matthias Berg

Fast ein Jahr hat es gebraucht, bis die hiesige Linke eine eigenständige politische Antwort auf das Krisenmanagement des kapitalistischen Seuchenstaats gefunden hat. Mit dem offenen Brief der Initiative ZeroCovid wird seit einigen Wochen in der bundesdeutschen Debatte das Für und Wider eines von sozialpolitischen Maßnahmen flankierten Wirtschafts-Lockdowns als solidarische Pause diskutiert. Der organisierte Feminismus hingegen steckt noch immer in der Pandemie-Paralyse: Außer vereinzelten Artikeln und Stellungnahmen über die Situation von Frauen und anderen marginalisierten Geschlechtern und Identitäten gibt es keine Organisierung, keine eigenständigen Forderungen, keine gemeinsame Kampagne. Die Bewegung, die sich gegenwärtig unter dem Schlagwort ZeroCovid formiert, könnte und sollte jedoch genau das auch sein: eine geschlechterpolitische Antwort auf eine Politik, die Zugeständnisse an das Patriarchat organisiert, um in einer Pandemie den kapitalistischen Status Quo zu retten.

Viele Brände der gegenwärtigen Krise befinden sich im politischen Feld des Feminismus: etwa, dass die unmenschlichen Herausforderungen in der Pflege vorwiegend weibliches Personal betreffen. Die Entgrenzung der Arbeit der Pflegekräfte in der Krise stellt eine massive Enteignung dieser Menschen dar. Sie bezahlen buchstäblich mit ihren Körpern, ihrer Lebenskraft, für die Aufrechterhaltung eines durchkapitalisierten und darum der Krisenstrategie nicht gewachsenen Gesundheitssystems. Der Ausfall der Beschulung bedeutet zwangsläufig, dass vorwiegend Frauen die Zeit der Kinder zuhause planen, organisieren und begleiten: Homeschooling, Mahlzeiten, Unterhaltung, Nähe und Sorgearbeit, Mental Load.

Debatte über ZeroCovid

Der am 14. Januar veröffentlichte Aufruf »ZeroCovid: Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown« hat viele Reaktionen ausgelöst. Eine Begründung der ZeroCovid-Forderung von Verena Kreilinger und Christian Zeller findet sich in ak 667. Eine Kritik an der Initiative formulierte Alex Demirović auf dieser Seite. Auf diese Kritik entgegneten unter anderem Sebastian Reinfeldt auf dem Semiosisblog und Thomas Sablowski bei der Zeitschrift Luxemburg. Im Mosaik Blog diskutieren Verena Kreilinger und Christian Zeller (Pro) und Benjamin Opratko (Contra) über die Kampagne. Die Initiative Solidarisch gegen Corona brachte Überlegungen dazu, was ein Shutdown von unten eigentlich bedeuten würde, in die Debatte ein.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Gewaltbetroffenheit von Frauen ist noch unterbelichtet. Im Juni wiesen die TU München und das Robert-Koch-Institut in einer Studie darauf hin, dass bereits in den ersten Monaten der Kontaktbeschränkung 3,6 Prozent der Frauen eine Vergewaltigung durch ihren Partner erlebt hatten – mehr als 1,5 Millionen. Die Differenz zu Nicht-Corona-Zeiten ist dabei unklar. Das Wissen um häusliche Gewalt im Lockdown ist eher anekdotisch verbreitet worden, deutlich geworden ist aber: Viele Frauen sind mit ihren Partnern mehr oder weniger stark zuhause eingesperrt. Ihre Vulnerabilität gegenüber Intimgewalt ist damit gestiegen.

Geschlechterpolitische Rollback auf vielen Ebenen

Auch in der Berufswelt trifft die Krise vor allem Frauen. Bereits im Frühjahr durften wir durch Daten von wissenschaftlichen Veröffentlichungen erfahren, wo die Reise hingehen würde: So sank die Zahl der durch Frauen eingereichten wissenschaftlichen Paper, während Männer die Chance nutzten, ihren wissenschaftlichen Output noch zu steigern. Man sollte solche Effekte der Krise übrigens nicht zu sehr im Unbewussten der Individuen ansiedeln: Diese Männer kriegen mit, dass ihre Kolleginnen wie auch ihre Partnerinnen vermehrt mit Care-Arbeiten beschäftigt sind. Sie sehen in der Mehrzahl bloß nicht ein, wieso sie die Chance, Frauen in der Konkurrenz zu überflügeln, nicht nutzen sollten.

Der geschlechterpolitische Rollback, den Männer durch die Corona-Krise durchsetzen konnten, betrifft auch weitere marginalisierte Geschlechter. So sind auch transgeschlechtliche Männer und Enbies sowie intersexuelle Menschen auf ein vollkommen überfordertes Gesundheitswesen angewiesen, in dem z.B. geschlechtsangleichende Operationen verschoben und ausgesetzt werden. Queere Menschen haben weit häufiger mit ihren Herkunftsfamilien gebrochen. Ihre Wahlfamilien jedoch werden vom Gesetzgeber nicht als »Kernfamilie« in den Kontaktbeschränkungen anerkannt. Vor allem queere Jugendliche und junge Erwachsene leben seit einem Jahr häufig mit Menschen zusammen, die ihre Identitäten und ihre sexuelle Orientierung nicht anerkennen oder sie ihnen austreiben wollen. Das Netzwerk aus Unterstützung und institutionalisierter Beratung ist genauso zusammengebrochen wie Events der Szene, Treffpunkte, Partys und Jugendgruppen.

Frauen leiden also besonders unter den Maßnahmen, die zur Eindämmung und Bekämpfung der Corona-Pandemie ergriffen worden sind. Wieso sollten sie ihre Interessen in einer Initiative wie ZeroCovid vertreten sehen, die ja immerhin für einen noch strengeren Lockdown steht? Würde das die erwähnten Effekte nicht kurzfristig weiter verschärfen? Sicher wäre das so. Aber mittel- und langfristig ist es die bisherige Strategie, bei jedem noch so unerheblichem Absinken von Infektionszahlen auf katastrophal hohem Niveau die nächste Lockerungsdiskussion anzuschieben, die Frauen ihrer misslichen Lage aussetzt. Denn eben mit dieser Strategie ist man krachend daran gescheitert, die Infektionen in einen nachverfolgbaren Bereich zu drücken und so die Einschränkungen der privaten Freiheiten wieder zurück nehmen zu können.

Mittel- und langfristig ist es die bisherige Strategie, bei jedem noch so unerheblichem Absinken von Infektionszahlen auf katastrophal hohem Niveau die nächste Lockerungsdiskussion anzuschieben, die Frauen ihrer misslichen Lage aussetzt.

Der halb ernst gemeinten Lockdown ist der Grund, warum Frauen inzwischen schon so lange in ihr gefährliches Zuhause verbannt sind. Hinzu kommt: In der ZeroCovid-Initiative, die sich gerade zu einer sozialen Bewegung des Krisenprotests entwickelt, ist endlich Raum für sozialpolitische Forderungen geschaffen worden, mit denen die Menschen überhaupt erst in der Lage wären, einen richtigen Lockdown durchzuhalten. Feminist*innen sollten sich hier klar machen: Die bloß naturwissenschaftliche Beherrschung des Virus ist eine Phantasie eben desjenigen kapitalistischen Patriarchats, das uns das Virus überhaupt erst – Stichwort Zoonose – eingebrockt hat.

Will man das Virus bekämpfen, braucht es erhöhte Hartz-IV-Sätze, Unterstützungsgelder und Lohnfortzahlungen, endlich eine Ausfinanzierung der Frauenhäuser, Lohnerhöhungen für Care-Berufe. Auch, dass der Globale Norden einen großen Teil der Weltbevölkerung nicht über Jahre schutzlos einem mörderischen und mutierenden Virus aussetzen darf, um die Profite bei den Patenthaltern Pfizer, Biontech oder AstraZeneca zu sichern, wäre ein ureigen feministisches Thema. Es braucht einen gesellschaftlichen Lösungsansatz, keinen rein medizinischen.

Organisierung von unten, also in den Sorgenbeziehungen

Barbara Koslowski und David Ernesto García Doell haben in ihrem Beitrag zurecht darauf hingewiesen, dass linke Kritik an ZeroCovid bislang auffällig häufig von Männern formuliert worden ist. Die Pandemie ist unter patriarchalen Vorzeichen nicht als die fundamentale Krise menschlicher Beziehungen und der prekären, vulnerablen menschlichen Existenz schlechthin entschlüsselbar. Sie erscheint dadurch vorwiegend als staatlicher Zugriff auf die individuellen Freiheitsrechte. Dass einige Linke dazu neigen, letztere höher zu werten als das Leben Zehn- und Hunderttausender, vor allem von alten, vorerkrankten und behinderten Menschen, überrascht nicht.

Die real stattfindende Triage ökonomisch überflüssig gewordenen Lebens lässt darum nicht nur die zumeist männlichen Performer unseres Wirtschaftssystems auffallend kalt: Auch Linke würden teilweise lieber wieder in ihren »Freiräumen« mit den Kumpels rebellisch einen heben, als sich im von oben geführten Klassenkampf mit den Marginalisierten, den unter tödlichen Gefahren arbeitenden Menschen und den Sterbenden zu identifizieren.

Feminist*innen sollten in einer Bewegung rund um ZeroCovid indes auf eine echte Organisierung von unten pochen, und das heißt: in den konkreten Sorgebeziehungen. Die mit einem Wirtschaftsshutdown drohenden psychosozialen Folgen müssen aufgefangen werden. Die nachbarinnenschaftliche Unterstützung, die wir in der ersten Welle gesehen haben, war ein gutes Beispiel dafür. Ausfinanzierte Institutionen müssen folgen. Der Gedanke allerdings, eine linke Antwort auf die Pandemie dürfe niemanden über seine persönlichen Grenzen bringen, Isolation und Entbehrung zu ertragen, ist eine patriarchale Illusion. Sie schwärmt von den virilen Kräften des Schaffens und des Lebens, während sie von der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz abgeturnt wird.

Was Feminist*innen außerdem tun sollten, ist, sich nicht in Szene-Eitelkeiten über die gewählten Formulierungen oder falsch gesetzte Gendersternchen zu stürzen, wenn es darum geht, eine Mehrheit für eine solidarische Pause zu organisieren. Und wenn demnächst eine Bitte um Unterzeichnung eines frauenpolitischen Aufrufs für ZeroCovid eintrudelt: bitte unterschreiben und weiter verbreiten.

Jeja Klein

macht freien Journalismus und beschäftigt sich mit Geschlecht und Queerness, sexueller Gewalt und Antifaschismus: jejaklein.net. Pronomen: sie/es.