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»Wahrheit für Souheil. Wahrheit für alle«

Nach dem Polizeimord an Souheil El Khalfaoui in Marseille kämpfen Angehörige für Aufklärung – Gesetze aus den vergangenen Jahren erschweren Gerechtigkeit

Von Anna Steenblock

Ein mehrfarbiges Graffiti, man sieht den Kopf eines jungen Mannes, daneben steht Verité pour Souheil.
Graffiti von Swen 93 MC im Stadtteil Belle de Mai, das am Aktionswochenende im November 2021 entstanden ist. Foto: Facebook Seite Vérité pour Souheil

Am 4. August 2021 wurde der 19-jährige Souheil El Khalfaoui im Stadtteil Belle de Mai in Marseille von einem Polizisten erschossen. Wie so häufig ging der Tat eine sogenannte Routinekontrolle voraus, die mit dem Tod von Souheil El Khalfaoui durch einen Schuss aus unmittelbarer Nähe endete. Seither kämpfen seine Angehörigen und Freund*innen für die Aufklärung dessen, was in den Minuten vor seinem Tod geschah, für die Wahrheit, und gegen die systematische Vertuschung durch die juristischen und polizeilichen Institutionen.

Die Polizei ließ bereits unmittelbar nach der Tat verlautbaren, dass es sich um Notwehr gehandelt habe. Die Anwohner*innen, die alles mitbekommen hatten, erzählen allerdings »eine andere Geschichte«, wie es in einem gemeinsam verfassten Statement heißt. »Die Version der Verteidigung aus Notwehr ist völliger Blödsinn. Es stimmt, der junge Mann hat versucht, sich der Kontrolle zu entziehen, aber das ist alles. Dafür bringt man doch keinen jungen Menschen um!«, wird eine unter Schock stehende Nachbarin zitiert. Den Zeug*innen zufolge setzte Souheil El Khalfaoui bei dem Versuch, der Kontrolle zu entkommen, mit dem Auto zurück und traf einen der Polizisten am Bein, der zu Boden stürzte. Daraufhin eröffnete der Polizist, der neben dem Auto von Souheil El Khalfaoui stand, das Feuer und traf ihn aus nächster Nähe durch das geöffnete Fenster in den Brustkorb. Auf einem Video ist zu sehen, wie der zu Boden gestürzte Polizist selbstständig aufsteht und leicht verletzt zu seinen Kollegen humpelt. Um Souheil El Khalfaoui kümmerte sich zu dem Zeitpunkt niemand. Es sind die umstehenden Zeug*innen, die fordern: »Ruft die Rettungskräfte!«, und diese dann offenbar selbst anrufen.

Von dem Tod seines Sohnes erfährt Issam El Khalfaoui, der über Stunden zwischen den Krankenhäusern hin und her irrte, ohne zu wissen, wo sich sein Sohn befindet, aus den Medien – weder die Polizei noch das Krankenhauspersonal informierten ihn. Darüber hinaus ließ einer der Polizisten, als er endlich mit ihnen sprechen konnte, ihn im Irrglauben, sein Sohn habe den Polizisten »überfahren« und damit schwer oder gar tödlich verletzt. Dass es sich dabei um eine dreiste Lüge handelte, erfährt er erst zwei Tage später auf einem von Anwohner*innen spontan organisierten Gedenk- und Protestmarsch. Diese hatten, geschockt von der Version, die nach der Tat in den lokalen Medien kursierte, zusammen mit der Stadtteilinitiative, dem Collectif d’habitant.e.s organisé.e.s, Zeug*innenaussagen gesammelt und eine Gegenversion veröffentlicht.

Erleichterte »Notwehr« für Sicherheitskräfte

Dann beginnt, was Issam und die Tante von Souheil, Samia El Khalfaoui, rückblickend eine »gewollte Maskierung der Wahrheit« nennen. In der von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Untersuchung gegen den schießenden Polizisten wegen »vorsätzlicher Tötung«, die von der »Polizei der Polizei«, der nationalen Polizeiinspektion (IGPN) durchgeführt wurde, finden Issam und Samia El Khalfaoui zahlreiche Inkohärenzen und fehlerhaftes Vorgehen. So wurde der betreffende Polizist nicht isoliert und erst 48 Stunden nach der Tat befragt, nachdem er sich mit seinen Kollegen austauschen konnte, relevante Videoaufnahmen von der gegenüberliegenden Sparkasse sind verschwunden, und zentrale Zeug*innenaussagen flossen nicht in die Untersuchung mit ein. Sie selbst haben zusammen mit solidarischen Anwohner*innen über Wochen mit den Nachbar*innen Haustürgespräche geführt, um die Chronologie der Ereignisse zu rekonstruieren und Videoaufnahmen zusammengetragen. Weder von der Staatsanwaltschaft, noch von der Polizei wurde die Familie in den Monaten nach der Tat kontaktiert, um sie über den Stand der Untersuchung zu informieren. Der Zugriff auf Dokumente wurde ihnen vor Ablauf einer Frist von drei Monaten verweigert, die aus ihrer Sicht aus taktischen Gründen bewusst ausgereizt wurde.

Die Hoffnung auf Gerechtigkeit hat Issam El Khalfaoui in dieser Zeit verloren, aber die Forderung nach der Wahrheit treibt ihn weiter an. Sie haben das »V« für »vérité« (Wahrheit) als ihr Zeichen gewählt, das nicht nur für die Forderung nach der »Wahrheit für Souheil« (Vérité pour Souheil) steht, sondern »für alle« (pour tous) Opfer von Polizeigewalt. Unter diesem Motto organisierten die Familienmitglieder, Freund*innen von Souheil El Khalfaoui und weitere Unterstützer*innen ein Aktionswochenende im November, um auf die erfahrene strukturelle Gewalt hinzuweisen: »Innerhalb weniger Minuten verkörperten die Polizisten alle drei Gewalten, die laut unserer Verfassung theoretisch geteilt sind« analysiert Issam El Khalfaoui und fragt sich: »Wie ist es möglich, dass einem Polizisten, zudem einem Polizisten in Ausbildung, so viel Macht zukommen kann?« Er beantwortet sich die Frage selbst und verweist auf die Änderung des Gesetzes zur inneren Sicherheit von 2017, das die Anwendung von »Notwehr« für Sicherheitskräfte deutlich erleichtert hat. Es ist eine »offene Tür für jeglichen Missbrauch« ist Issam El Khalfaoui sich sicher.

Zusammen mit dem Kollektiv Désarmons-les (Entwaffnen wir sie), das zu Polizeigewalt arbeitet, organisierten sie mehrere Workshops, um über das Gesetz aufzuklären und Betroffene dafür zu sensibilisieren, wie sie im Fall von Polizeikontrollen reagieren können. Auf einer großen Tafel stellen sie verschiedene Situationen der Notwehr nach und diskutierten die rechtlichen Rahmenbedingungen. Mithilfe von Pappfiguren und -autos rekonstruieren sie auch die Situation von Souheil El Khalfaoui In ihrer Broschüre resümiert das Kollektiv, dass es sich aus ihrer Sicht weder um eine »unmittelbare Bedrohung« handelte noch um einen »notwendigen Gegenangriff«, eine Situation der »Notwehr« habe es daher nicht gegeben.

Die Erlaubnis zu töten

»Die Gesetzeslage entwickelt sich seit Jahren immer stärker in Richtung Straffreiheit von Sicherheitskräften«, stellt Ian B. vom Kollektiv Désarmons-les fest. Da ist einerseits das Gesetz zur »globalen Sicherheit« (Loi pour une sécurité globale), das nach monatelangen Protesten gegen seinen presseeinschränkenden Charakter im Mai 2021 verabschiedet worden war und vor allem auf die Anonymisierung von Polizeikräften abzielt, indem die Verbreitung von Bildmaterial kriminalisiert wird. Andererseits das Gesetz zur inneren Sicherheit von 2017, in diesem Fall der Artikel L.435-1, der den Sicherheitskräften einen größeren Schutz vor juristischen Konsequenzen gibt, sobald sie ihre Waffe einsetzen, indem sie sich auf das Argument der Notwehr stützen können. Kritiker*innen nennen den Artikel auch »die Erlaubnis zu töten«, der als Antiterrormaßnahme unter erleichterten Bedingungen im staatlichen Ausnahmezustand 2017 durchgewunken wurde. Polizeigewerkschaften hatten jahrelang für die Änderung dieses Gesetzes mobilisiert, nachdem der Polizist Damien Saboundjian für den Tod von Amine Bentounsi im April 2012 durch einen Schuss in den Rücken verurteilt worden war und das Gericht seine Version der »Notwehr« nicht anerkannt hatte.

Sie werden nicht getötet, weil sie vor der Polizei fliehen. Sie fliehen vor der Polizei, weil sie getötet werden.

Ian B. sieht in den Sicherheitspolitiken der letzten Jahre eine Zusammenführung aus der systematischen Kriminalisierung der Bewohner*innen in den sogenannten Banlieues, die in Frankreich eine lange (Kolonial-)Geschichte hat, und dem »Kampf gegen den Terrorismus«, der insbesondere unter Nikolas Sarkozy vorangetrieben wurde. Nach dem Vorbild der Broken-Windows-Theorie aus New York City führte Sarkozy, der anlässlich der Revolten von 2005 davon sprach, die Vorstädte »mit dem Hochdruckreiniger säubern zu wollen«, eine Nulltoleranzpolitik ein: Jede noch so kleine Straftat solle im Keim erstickt werden, da sich aus ihr potentiell organisierte Kriminalität und Terrorismus entwickeln könne. Dieses Denken ist den Polizeieinheiten, die in die Vorstädte geschickt werden, tief eingetrichtert und steht nicht selten unter dem Vorzeichen einer »republikanischen Zurückeroberung der Vorstädte« – unterlegt mit einem rassistischen Diskurs, so die Analyse von Désarmons-les.

»Sie werden nicht getötet, weil sie vor der Polizei fliehen. Sie fliehen vor der Polizei, weil sie getötet werden«, bringt Ian B. es auf den Punkt und fügt hinzu: »Der Tod von Souheil demonstriert genau das.« Souheil El Khalfaoui fiel in jene soziale Gruppe, die durch permanente Kontrollen und Erniedrigungen durch die Polizei von klein auf gelehrt wird, Angst vor ihnen zu haben. Das Wissen um den erleichterten Einsatz der Waffe seit 2017 sei in den Polizeieinheiten omnipräsent und verringere die Hemmschwelle, diese auch wirklich einzusetzen, so Ian B.

»Der Staat hört uns nicht«

Im Dezember 2021 hat die IGPN, die Polizeiinspektion, ihre Untersuchung wegen »vorsätzlicher Tötung« mit dem Ergebnis eingestellt, dass es sich um »Notwehr« gehandelt habe. Issam und Samia El Khalfaoui werfen ihr Parteilichkeit und eine mangelhaft durchgeführte Untersuchung vor. »Das ist eine Ansammlung von Lügen und Falschaussagen der Polizisten.« Zusammen mit ihren Anwälten, Arié Alimi und Raphaël Kempf, bereiten sie eine Anzeige wegen »Verhinderung der Wahrheitsfindung« vor. Sie fordern außerdem die Verlegung der Untersuchung nach Paris, um weitere Parteilichkeit zu verhindern. »In dieser Angelegenheit wird alles gemacht – von der Staatsanwaltschaft, von den Polizeikräften, von der Polizeiinspektion –, um die Aussagen der Polizisten zu stützen«, so einer der Anwälte.

»Die Institution der Polizei hört unsere Appelle nicht, der Staat hört uns nicht. Ich bekomme Brechreiz, wenn ich unseren Innenminister sagen höre: Die Polizei töte nicht!«, so Issam El Khalfaoui Er betont, dass sich seine Anklagen nicht gegen Einzelpersonen und Einzelfälle richten, sondern gegen die institutionelle Gewalt insgesamt. »Es sind immer die gleichen Viertel, immer die gleichen jungen Leute«, stellt Samia El Khalfaoui mit Bitterkeit in einem Interview mit Mediapart fest. Ihnen ist wichtig, sich mit anderen von Polizeigewalt Betroffenen zusammenzuschließen und den Kampf für die Wahrheit gemeinsam zu führen. »Ein Polizist in Ausbildung hat meinen Sohn getötet, weil die Politiken dies ermöglicht haben«. Issam El Khalfaoui ruft auf der Kundgebung am alten Hafen, zu der zahlreiche andere betroffene Angehörige und Freund*innen im November angereist sind, dazu auf, sich solidarisch zu zeigen. Das Zeichen »V« für »Vérité pour Souheil. Vérité pour tous« solle vor die Justizpaläste, Polizeistationen und Rathäuser, die Konzertsäle und Sportstadien, die Überwachungskameras und in die sozialen Medien getragen werden: überall dorthin, wo sich dieses Unrecht wiederholen könne.

Anna Steenblock

ist in Marseille in verschiedenen politischen Kollektiven aktiv und promoviert an der Uni Kassel zu sozialen Kämpfen um Reproduktion.