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Sozialpopulismus führt in die Irre

Linke Kampagnen gegen die Teuerungen blenden die ökologische Dimension der Krise aus

Von Christian Zeller

Ein Gebäude
»Es braucht eine demokratische gesellschaftliche Aneignung des Energiesektors von unten.« Foto: RWE und Co. Enteignen

Die schockartige Vervielfachung der Gas- und Strompreise macht viele Menschen ratlos. Die Verteuerung der Güter des täglichen Bedarfs treibt unzählige Menschen in die Armut. Seit Monaten diskutieren Linke über einen heißen Herbst. Reaktionäre und faschistische Kräfte wollen die soziale Not und das weitverbreitete Unbehagen gegenüber der Regierung nutzen, um Masseneinfluss zu erlangen. Wie sieht eine solidarische und ökologische Perspektive aus?

Unterschiedliche linke Kreise haben in den letzten Wochen politische Initiativen lanciert, um eine möglicherweise entstehende Protestbewegung politisch zu prägen. Dazu zählen die Initiative Heizung, Brot und Frieden und die von der Zeitschrift Jacobin als Kopie der in Großbritannien laufenden Kampagne Enough is Enough initiierte Plattform Genug ist Genug. Beide konzentrieren sich auf unmittelbare Forderungen zur Linderung der sozialen Notlage. Exponent*innen von Heizung, Brot und Frieden verlangen gar die Wiederöffnung der Nordstream-Pipelines und erzählen den Menschen den Unsinn, dass Preissteigerungen und Energiekrise in erster Linie Ergebnis der Wirtschaftssanktionen gegen Russland seien. 

Nicht überraschend fühlen sich auch Rechtsextreme angesprochen. Beide Initiativen blenden die Erderhitzung aus und wollen mit einem Sozialpopulismus massenwirksam werden. Doch wer Forderungen stellt, denen sich auch Querdenker*innen und Rechtsextreme anschließen können, führt den Protest in die Irre. Gemeinsam ist beiden Kampagnen, dass sie die ökologische Dimension der Krise ausblenden. Sie äußern kein Wort darüber, dass die weltweit steigenden Energiepreise auch Ausdruck der tiefgreifenden Krise des erforderlichen – aber nicht praktizierten – Übergangs zu nicht-fossilen Energieträgern sind. Die Energiepreise werden hoch bleiben, mit oder ohne Preisdeckel.

Die Kaufkraft erhalten, um im selben Stil weiter zu konsumieren, würde eine falsche Sehnsucht bedienen.

Sozialverbände, ver.di, BUND, Greenpeace, Attac, unterstützt von Fridays for Future, rufen zu breiten Demonstrationen für einen »Solidarischen Herbst« auf. Einige Forderungen erscheinen etwas bescheidener. Bemerkenswert ist allerdings, dass sie explizit Maßnahmen fordern, um die Abhängigkeit von fossilen Energien zu beenden.

Die richtige Forderung nach der Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets, die alleine keine ökologisch relevante Wirkung hätte, dient mittlerweile als Alibi. Die bislang bescheidene Beteiligung an den Demonstrationen deutet darauf hin, dass der Sozialpopulismus höchstens ansatzweise mobilisierungsfähig ist. Möglicherweise merken viele Menschen, dass die Krise viele Gesichter hat und ihr mit einfachen Parolen wie »Preise runter!« nicht mehr beizukommen ist.

Wer einen dauerhaften ökologischen und antikapitalistischen Widerstand aufbauen will, muss die kapitalistischen Zwänge und ökologischen Grenzen ansprechen. Der Unwille traditionalistischer Linker, die Energieproblematik umfassend anzugehen, bringt zum Ausdruck, dass viele die Dringlichkeit der Veränderungen des Erdsystems nicht begriffen haben und die Ergebnisse der Klima- und Erdsystemforschung schlicht ignorieren. Es ist dringend nötig, die ökologische Dimension in allen gesellschaftlichen Konflikten zu erkennen.

Kipppunkte sind bereits erreicht

Forscher*innen berichteten Anfang September in der Fachzeitschrift Science, dass das Erdsystem bereits dabei ist, mehrere Kipppunkte zu überschreiten. Es laufen bereits Dynamiken, die sich selbst verstärken und sich auch mit einer massiven Reduktion der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre nicht mehr rückgängig machen lassen. Die von den Regierungen vorgesehenen Klimaschutzmaßnahmen führen bis Ende des Jahrhunderts zu einer Erwärmung von 2,7 bis 3,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit. Damit wird die Erde zum heißen Planeten. Der eingeschlagene Kurs wird bereits in wenigen Jahrzehnten viele Gebiete der Erde unbewohnbar machen. Zwei bis drei Milliarden Menschen, vor allem in den ärmsten der Regionen der Welt, werden ihren Wohnort verlassen müssen. 

Wer anerkennt, dass vor allem die frühindustrialisierten und imperialistischen Länder den Großteil der Treibhausgasemissionen verursacht haben, muss auch eingestehen, dass unsere Gesellschaften die wesentlich größere Verantwortung haben, ihre Wirtschaft zu defossilisieren als andere Regionen. Wer die ökologische Herausforderung ernst nimmt, protestiert nicht nur gegen hohe Energiepreise, sondern setzt sich dafür ein, dass zuallererst die reichen Länder den Energieverbrauch und Materialdurchsatz deutlich senken. Wer jetzt die Wiederöffnung der Gaspipelines fordert und den Ausbau von Flüssigerdgas-Anlagen duldet, leugnet den Notstand und stellt sich auf die Seite fossiler Kapitalgruppen. 

Die gestiegenen Weltmarktpreise für Öl, Gas und Strom sind Ergebnis struktureller und unmittelbarer Faktoren. Ein zentraler Grund ist die relative und teilweise sogar absolute Knappheit von Ressourcen für erneuerbare Energieträger. Die Unternehmen investieren zu wenig in die Energieinfrastruktur, weil sie unsicher über die Entwicklung der künftigen Profite und über die Nachfrage sowohl bei den fossilen als auch erneuerbaren Energien sind. Zugleich weigern sich die Staaten ihrerseits, in die Energiewende zu investieren. Gleichzeitig steigt aber der Energieverbrauch weltweit weiter an. Dass die großen transnationalen Energiekonzerne nun riesige Surplusprofite erzielen, ist nicht Ursache, sondern Folge dieser Konstellation. Die ökologische Krise bewirkt ebenfalls Preissteigerungen, beispielsweise, wenn in Frankreich ein Großteil der AKWs wegen der Trockenheit abgeschaltet werden muss. 

Wichtig ist es, soziales Elend, ökologischen Umbau und internationale Solidarität gleichermaßen anzusprechen.

Schließlich treibt das Putin-Regime mit seinen Einschränkungen der Gaslieferungen die Gaspreise zusätzlich in die Höhe. Die Herrscher im Kreml nutzen die von europäischen Regierungen selbst gewählte Abhängigkeit vom russischen Gas, um mit Lieferstopps auf die politischen Auseinandersetzungen einzuwirken. Linkspartei-Politiker*innen wie Sahra Wagenknecht oder Klaus Ernst verlängern dieses Manöver in die politische Arena hinein. Die EU will nun die Einkaufspreise von Gas und Öl deckeln. Die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) ist aber schneller und schränkt die Fördermengen ein, um die Preise hochzuhalten. Die hohen Preise werden uns längerfristig begleiten, was immer auch die eine oder andere Regierung zu tun gedenkt.

Wie in die Offensive kommen?

Wie können die Klimabewegung und eine vielleicht entstehende Bewegung gegen die Massenverarmung in die Offensive gehen? Wichtig ist es, das zunehmende soziale Elend, den dringenden ökologischen Um- und Rückbau der Produktion sowie die Anforderungen internationaler Solidarität gleichermaßen und gleichzeitig anzusprechen.

Der Ausstieg aus dem russischen Gas muss ein Signal sein, um den Gasverbrauch der Industrie für Prozesswärme und der Haushalte für Heizungen rasch substanziell zu reduzieren. Das geht nur mit weitergehenden Umbaumaßnahmen, die auch auf die Reduktion des Materialdurchsatzes zielen. Der weitgehende Ersatz des privaten Autoverkehrs in Städten durch kollektive Transportmittel, die Herstellung langlebiger Produkte, die Verminderung von Verpackungen, die massive Reduktion der Plastikproduktion, die Verbreitung von Mehrwegbehältern und das Verbot von Werbung sind wichtige Schritte in diese Richtung. Zentraler Bestandteil jeder ökosozialistischen Umbau- und Rückbauperspektive ist der radikale und rasche Rückbau der Rüstungsindustrie. Doch diese Perspektive lässt sich aufgrund der zugespitzten imperialistischen Rivalität nur international durchsetzen. Umso wichtiger ist es, dass die Klimabewegung diese Forderung international aufgreift.

Maßnahmen zur Kontrolle der Preise sind im Kapitalismus möglich. Sie sind aber bloße Symptombekämpfung und können zu unerwünschten Effekten wie Knappheit, Spekulation und Unternehmenssubventionen führen. Gewerkschaften und soziale Bewegungen sollten selber Kontrollorgane zur Überwachung der Preise vorschlagen und durchsetzen.

Wer die Energierechnung nicht bezahlen kann, muss weiterhin Strom und Gas beziehen können. Eine starke Widerstandsbewegung kann Strom- und Gasabschaltungen verhindern. Eine Kampagne wie beispielsweise Don’t Pay in Großbritannien könnte mit einer massenhaften Zahlungsverweigerungsbewegung Druck auf die Regierungen und Energiekonzerne ausüben.

Würden die Gewerkschaften einen automatischen und rückwirkenden Teuerungsausgleich durchsetzen, könnten die Lohnabhängigen die Preissteigerungen besser verkraften. Das ist eine Sache elementarer Selbstverteidigung. Doch die Kaufkraft erhalten, um im selben Stil weiter zu konsumieren, Nachfrage zu generieren und volkswirtschaftliche Stabilität vorzutäuschen und damit zugleich die ökologischen Zerstörungen zu steigern, würde eine falsche Sehnsucht bedienen.

Reduktion des Energieverbrauchs

Am wichtigsten ist der Kampf für eine gute gesellschaftliche Infrastruktur. Wer eine kostenlose oder günstige flächendeckende Infrastruktur in Gesundheitsversorgung, Pflege, Schulen, Kindertagesstätten und im öffentlichen Verkehr nutzen kann, lebt besser und ökologisch verträglicher. Städte der kurzen Wege verbrauchen weniger Energie und emittieren weniger Treibhausgase bei einer hohen Lebensqualität. Eine gute Gesundheits-, Pflege-, Bildungs- und Transportinfrastruktur ermöglicht es, die individualisierte Ressourcenverschwendung zu reduzieren, die Geschlechterverhältnisse gerechter zu organisieren und insgesamt besser zu leben. Diese Orientierung zielt auf die Zurückdrängung der Waren- und Profitlogik. Sie eröffnet damit die Perspektive auf radikale ökosozialistische Umbauschritte. Wir sollten dafür kämpfen, dass auch die Basisversorgung mit Strom und Wärmeenergie zur gesellschaftlichen Infrastruktur zählt. Das lässt sich mit einer niedrigpreisigen Energiegrundsicherung realisieren, die einen Sparbonus beinhaltet, um den Menschen einen gewissen Sparanreiz zu bieten. 

Kampagnen wie RWE & Co enteignen bieten den Einstieg in eine breitere Auseinandersetzung zur sozialökologischen Transformation und für die Ausweitung der Commons. Grundsätzlich ist die Energie- und Wärmeversorgung der kapitalistischen Profit- und Akkumulationslogik zu entziehen. Darum ist eine Bewegung für die demokratische gesellschaftliche Aneignung des Energiesektors von unten aufzubauen.

Die Rettung von Uniper, des bedeutendsten deutschen Importeurs russischen Gases, mag oberflächlich als Verstaatlichung erscheinen, ist in Wirklichkeit aber eine gigantische Privatisierung öffentlicher Guthaben. Der deutsche Staat rettet den Konzern, dessen Hauptaktionär bislang der halbstaatliche finnische Energiekonzern Fortum war, indem er für acht Milliarden Euro 99 Prozent des Aktienkapitals übernimmt. Der Staat zahlt also Aktionär*innen aus und rettet sie vor einem Totalverlust. 

Die Energiemärkte sind international miteinander verbunden. Wirksame Eingriffe in die Preissetzung und Gestaltung der Energiezuteilung lassen sich nur auf kontinentaler Ebene verwirklichen. Da die Sonne und der Wind geografisch höchst ungleich ihre Energien entfalten, es immer wieder windarme Zeiten ohne Sonnenschein gibt und die Speicherung erneuerbarer Energien eine große Herausforderung darstellt, sind Erzeugung, Transport und Bereitstellung von Energie großräumig, also kontinental zu planen und zu organisieren. Der Umbau auf erneuerbare Energien lässt sich im Weltmaßstab aber nur dann solidarisch organisieren, wenn wir in den imperialistischen Ländern Maßnahmen durchsetzen, die den Energieverbrauch und Materialdurchsatz reduzieren.

Christian Zeller

ist Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Salzburg. 2020 veröffentlichte er das Buch »Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen«.