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Weniger Energie wagen

Die Bundesregierung will russisches Gas und Öl lediglich ersetzen. Das verengt die Debatte um einen entscheidenden Faktor

Von Christopher Olk und Tatjana Söding

Landschaftsbild. Im Hintergrund das Meer und Kaimauern eines Hafens, weiter vorne drei runde, zylindrische Gastanks.
Die anderen haben es schon: Mit LNG-Terminals, wie hier in Portugal, will die Bundesregierung russisches Gas ersetzen. Foto: Wikimedia/TGEGASENGINEERING , CC BY-SA 4.0

Auch nachdem Putins Armee schon seit über einem Monat in der Ukraine wütet, bleiben die konkreten politischen Reaktionen auf den russischen Angriff weit hinter den öffentlichen Solidaritätsbekundungen zurück. Für die Bundesregierung bleibt die Gewährleistung der Energiesicherheit Deutschlands die höchste Priorität. Bislang wurden primär solche Sanktionen erlassen, die die energiepolitische Versorgung Deutschlands nicht riskieren und drastische Einbußen des deutschen Wirtschaftswachstums ausschließen. Dabei wäre ein Stopp des Imports von russischem Gas, das das Putin-Regime jeden Tag mit rund einer Milliarden Euro stabilisiert, mit Abstand die wirksamste wirtschaftspolitische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg.

Nachdem sich die Bundesregierung in den vergangenen Wochen selbst den Handlungsraum verwehrt hat, die Gaslieferungen aus Russland zu stoppen, wird nun angesichts Putins Ankündigung, künftig Gas in Rubel abzurechnen, die Frühwarnstufe des Energienotfallplans ausgerufen. Dass die Bundesregierung sich erst jetzt dazu bewegen lässt, den Angriffskrieg als moralischen und energiepolitischen Notfall zu verstehen, zeugt davon, dass auch die Ampel-Koalition eine rein reaktive Politik verfolgt. Die deutsche Zivilgesellschaft zeigt gleichzeitig eine außerordentliche Bereitschaft, die Auswirkungen eines sofortigen Gasembargos zu schultern. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap würden 68 Prozent der deutschen Bevölkerung »Maßnahmen gegen Russland auch dann unterstützen, wenn es zu Engpässen der Energieversorgung kommt.« Bündnisse wenden sich in offenen Briefen und Petitionen mit der Forderung eines Gasembargos an die Bundesregierung. 

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Davon will die Ampelkoalition nichts wissen. Gerade die FDP, die in den letzten Jahren Klimaschutz vor allem durch höhere Preise bei fossilen Energieträgern durchsetzen wollte, verhindert nun durch das zweite »Entlastungspaket« genau diese Preissteigerung. Den weiteren Bezug russischen Erdgases rechtfertigte Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) zunächst mit Verweis auf die Sicherung des sozialen Friedens, der durch solch ein Embargo auf dem Spiel stehe. Zuletzt befürchtete er, dass ohne russisches Gas Massenarbeitslosigkeit drohte.

Anstatt eines Embargos soll in den kommenden Wintermonaten die angestrebte Unabhängigkeit von Russland durch den Ausbau von erneuerbaren Energieträgern, aber vor allem durch die Freigabe deutscher nationaler Ölreserven und durch den Import von Flüssiggas gewährleistet werden; für letzteres sollen neue Pipelines und Terminals gebaut werden. Zwischenzeitlich stand sogar eine verlängerte Kohleverstromung zur Debatte

Abkehr vom Klimaschutz

All dies kommt einer Abkehr von den vereinbarten Klimazielen gleich. Erst kürzlich offenbarte der neuste Bericht des Weltklimarates (IPCC) die verheerende Bilanz der internationalen Klimapolitik. Die tödlichen Folgen der Erderhitzung, die noch weiter reichen als bislang angenommen, umfassen gravierende Ernte- und Produktionsausfälle, Lieferkettenunterbrechungen, Zerstörungen von kritischer Infrastruktur, Überflutungen und Dürren. 

Wenn also etwas die Versorgungssicherheit von Milliarden Menschen gefährdet, dann die ausbleibenden Bemühungen um echten Klimaschutz. Auch von internationaler Solidarität oder Anstrengungen für geopolitische Stabilität kann keine Rede sein, wenn die Forderung des Weltklimarates nach »konzentrierten, vorausschauenden globalen Maßnahmen« weiter ignoriert wird. Dabei sind die nächsten Jahre entscheidend: Massive politische und finanzielle Ressourcen müssten für den Ausstieg aus fossiler Energieproduktion mobilisiert werden. Ein weiterer Aufschub dieser Maßnahmen hat irreversible ökologische und soziale Schäden zur Folge, dessen Ausmaß die der aktuellen Krisen um unvorstellbare Dimensionen übersteigen wird.

In einem außergewöhnlichen etymologischen Exkurs debattierte kürzlich Robert Habeck mit Markus Lanz, ob sich die Ampel-Koalition in ein Dilemma manövriert habe. Habeck dementierte, dass es einen Widerspruch gebe zwischen der finanziellen Unterstützung des Putin-Regimes und der Energieversorgung Deutschlands, die den sozialen Frieden garantieren soll. (Von Klimaschutz war in der Talkshow praktisch keine Rede.) Tatsächlich gibt es dieses Dilemma sehr wohl. Allerdings kommt es nur dadurch zustande, dass eine entscheidende Variable im politischen Diskurs völlig tabuisiert wird: Die Debatte um »Energiesicherheit« kreist lediglich um die Frage, wie und wann ein Ausfall an russischer Energie vollständig ersetzt werden kann. Es geht jedoch nicht darum, ob er überhaupt vollständig ersetzt werden sollte. Die Frage, ob Versorgungssicherheit die komplette Menge der industriell benötigten Energie umfassen muss, wird nicht gestellt. So weigert sich die deutsche Bundesregierung, sich aus der Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum zu lösen. 

Wenn etwas die Versorgungssicherheit von Milliarden Menschen gefährdet, dann die ausbleibenden Bemühungen um echten Klimaschutz.

Dabei wäre der gewünschte Effekt eines Embargos wesentlich größer, wenn nicht die gesamte fehlende Energie aus Fossilen ersetzt werden müsste. Denn durch die steigende Nachfrage nach Flüssiggas und anderen Fossilen würden deren Weltmarktpreise weiter steigen. Das würde nicht nur dem Putin-Regime, sondern auch anderen autoritären und kriegführenden Petrostaaten zugutekommen. Zudem würde es den großen Ölkonzernen, deren Lobby maßgeblich für die ausbleibende Klimapolitik verantwortlich ist, noch höhere Profite bescheren – und damit Anreize für weitere Investitionen in die fossile Energieproduktion schaffen. Staaten im Globalen Süden, die sich bereits jetzt aufgrund von Lieferknappheit von Weizen in einer humanitären Krise befinden, würden weiter unter den hohen Weltmarktpreisen leiden. Und: Die Emissionen blieben insgesamt praktisch unverändert. Da eine Substitution gerade von russischem Gas durch erneuerbare Energieträger sowie Effizienzmaßnahmen nur mit einigem Vorlauf möglich sind, führt für ein effektives Embargo kein Weg daran vorbei, die Nachfrage zu reduzieren.

Dies wäre also der Ausweg aus dem künstlichen Dilemma: eine gerecht verteilte, demokratisch geplante, auf einzelne Sektoren zielende Reduktion des Energieverbrauchs. Deutschland könnte den Import von russischem Gas beenden, das verbleibende gesellschaftliche Energiebudget berechnen, in dem die Menge an verfügbarem Erdgas ungefähr halbiert und dieses Budget dann gerecht verteilt würde. Erforderlich wäre eine demokratische Entscheidung darüber, wo der Verbrauch von Energie zum guten Leben für alle beiträgt – und wo nicht. Solch eine Lösung wird von Ökosozialist*innen und der Degrowth-Bewegung schon seit langem gefordert – aber zunehmend auch von Wissenschaftler*innen. So fordert das regierungsnahe Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) eine Energiereduktion, die durch eine Aufteilung in essentiellen Konsum und Premium-Konsum sozial gerecht gestaltet werden soll. Und auch der jüngste IPCC-Bericht, der erstmals – und zwar gleich 26 Mal – den Begriff »Degrowth« verwendet, fordert eine Reduktion des Energieverbrauchs als effektives Mittel zur Bewältigung der Klimakrise.

Energieumverteilung und Jobgarantien

Die demokratische Reduktion und Umverteilung von Energie würde solche Industrien betreffen, die nur einen geringen sozialen und ökologischen Nutzen erzeugen, aber besonders viel Energie verbrauchen – und insbesondere solche, die ihren Energiebedarf zu besonders großen Teilen aus Erdgas und anderen fossilen Energieträgern decken, wie etwa die Chemieindustrie. Um tatsächlich soziale Sicherheit für alle zu gewährleisten und um dem Schreckensgespenst der Massenarbeitslosigkeit zu begegnen, das mittlerweile jeglicher wirtschaftlichen Umwandlung diskursiv in den Weg gestellt wird, sollte diese Maßnahme mit einer staatlich finanzierten Jobgarantie einhergehen. Diese kann es Arbeiter*innen ermöglichen, in ihrer Heimatregion zu guten Bedingungen und bei reduzierter Arbeitszeit zu arbeiten und sich überdies am Ausbau von sozialen Strukturen zu beteiligen, die bei geringem Energieverbrauch wichtige Bedürfnisse erfüllen. 

Zudem sollte der Import von besonders energieintensiven Gütern begrenzt werden, der schon vor der Ukrainekrise einer der wichtigsten Treiber der weltweit steigenden Energiepreise war. Letztlich aber wird ein großer Teil des Erdgases von privaten Haushalten zum Heizen verwendet. Da aber der private Energieverbrauch in Deutschland extrem ungleich verteilt ist, wären Haushalte mit geringen Einkommen von einer gerechten Reduktion des gesamten privaten Energieverbrauchs nicht betroffen. Gleichzeitig muss der Ausbau von Erneuerbaren beschleunigt werden. Um den Anteil von Gas im häuslichen Energiemix schnell zu reduzieren, könnte der Ausbau von Wärmepumpen massiv vorangetrieben werden, was auch eine Dezentralisierung des Energiesystems mit sich bringen würde. Dies wäre eine konstruktive, partizipative Gestaltung der von der Bundesregierung angestrebten Energieunabhängigkeit. Unabhängigkeit darf nicht bloß eine Wiederherstellung der nationalen Versorgungssicherheit bedeuten. Echte Autonomie erfordert eine kollektive Entscheidung darüber, welche Ressourcen und Technologien – etwa für den Bau klimafreundlicher Infrastruktur – tatsächlich importiert werden müssen und auf welche Importe aus moralischen Gründen verzichtet werden sollte.

Schließlich sollten staatliche Investitionen wie die aktuelle Aufrüstung aus der Perspektive eines begrenzten Energiebudgets hinterfragt werden. Das Militär ist einer der energieintensivsten Sektoren überhaupt. Eine militarisierte Welt ist deshalb nicht nur eine, die tendenziell zu weniger Sicherheit führt, sie ist auch eine, die das Ziel einer klimagerechten Zukunft noch unwahrscheinlicher werden lässt. Die Art und Weise, in der Bundeskanzler Scholz den Beschluss verkündete, die Bundeswehr mit weiteren 100 Milliarden Euro auszustatten, ist exemplarisch für den Mangel an demokratischer Partizipation bei Ausgaben, die große Teile des de facto begrenzten Energiebudgets beanspruchen. 

Genauso sollten die anstehenden Entscheidungen über die gerechte Verteilung von Energie im Fall eines Lieferstopps nicht von einem homogenen Krisenstab aus Vertreter*innen der Energiewirtschaft und -politik getroffen werden. Um die Gesellschaft insgesamt energiesparender, klimafreundlicher und sozial gerechter zu gestalten und den verschiedenen, miteinander verwobenen Krisen zu begegnen, sollten vielmehr neue deliberative Prozesse erprobt werden.

Richtig ist: Es kann keine nachhaltige Lösung sein, die basale Energieversorgung Deutschlands aufs Spiel zu setzen oder auf individuelle Einsparungen zu setzen. Wahr ist allerdings auch, dass schon die letzte Bundesregierung 2019 mit ihrer Energieeffizienzstrategie 2050 beabsichtigte, den Primärenergieverbrauch bis 2050 gegenüber dem Verbrauch im Jahre 2008 zu halbieren. Dies soll mutmaßlich durch Effizienzsteigerungen geschehen, was aufgrund von Rebound-Effekten jedoch eine unsichere Strategie ist, solange die Wirtschaft weiter wachsen soll. Es gibt weder theoretisch noch empirisch gute Gründe, an »Grünes Wachstum« zu glauben – also daran, dass eine kapitalistische Wirtschaft ohne Weiteres ihre Energienachfrage reduzieren wird.

Während »Sicherheit« für Ukrainer*innen zurzeit eine Frage von Leben und Tod ist, wird in Deutschland schon eine mögliche Abweichung des Energieangebots von der gewohnten Nachfrage als eine Bedrohung der Sicherheit und des »sozialen Friedens« betrachtet. Es gibt aber eine Chance, auf den humanitären Notfall in der Ukraine auf eine Weise zu antworten, die internationale Solidarität mit ökologischer und sozialer Gerechtigkeit verbindet. Trotz allen Leids sollte dies als eine einmalige Gelegenheit verstanden werden, um die öffentliche Debatte über Energieproduktion und -nutzung in Gang zu setzen. Wenn die Politik diese Chance verpasst, läuft sie Gefahr, jede der Krisen weiter zu verschärfen. 

Christopher Olk

ist Ökonom und in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.

Tatjana Söding

forscht zusammen mit dem Zetkin Collective über die Zusammenhänge zwischen Ökofaschismus und Kapitalismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.