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Vergissmeinnicht

Das RAF-Fieber ist wieder ausgebrochen – über eine ungenutzte Gelegenheit, mehr zu verstehen

Von Jan Ole Arps

Fotografen stehen vor einem Hauseingang (ein grauer Neubau, Hausnummer 73), in einem dürren Strauch hängt Absperrband. Im Türbereich steht ein Polizist.
Am 26. Februar wurde die seit mehr als 30 Jahren gesuchte Daniela Klette in diesem unscheinbaren Wohnhaus in Berlin-Kreuzberg verhaftet, wo sie die letzten 20 Jahre gelebt haben soll. Foto: Jan Ole Arps

Seit der Verhaftung von Daniela Klette Ende Februar in Berlin grassiert in Deutschland wieder ein spezielles Leiden: das RAF-Fieber. Die Medien sind voll von Berichten und Spekulationen über die »Ex-Terroristen« und ihr Leben im Untergrund, informieren über Klettes Wohnungseinrichtung, ihre sportlichen Vorlieben, ihren Hund, ihre Weihnachtsplätzchen, ihr Waffenarsenal, ihr Fahrrad. Für die Fahndung nach zwei weiteren seit Jahren im politischen und wohl auch räuberischen Ruhestand lebenden Männer, Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub wurden in den Folgetagen mehrere Wohnungen umgekrempelt, ein Bauwagenplatz durchsucht, Nachbar*innen, Kiosk-Betreiber und Obdachlose befragt, Hundebilder abgeglichen und Fahndungsfotos veröffentlicht: Aufruf an die Bevölkerung, mitzumachen bei der großen Terroristenjagd.

»Wir vergessen nicht!« Mit diesen Worten erklärte Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens die Festnahme Klettes zum polizeilichen »Meisterstück«, zum Meilenstein deutscher Kriminalgeschichte, und zweiteres mag sogar stimmen, wenn man sich vor Augen führt, welche Ressourcen die Suche nach den drei seit mehr als 30 Jahren Untergetauchten bereits verschlungen hat und weiter verschlingt. Ein Meilenstein könnte der Fall auch mit Blick auf polizeiliche Befugnisse werden. Vermutlich durch Podcaster auf die Spur gebracht, lechzen Polizei-Lobbyisten nun nach Zugang zu Gesichtserkennungsdatenbanken, die ihnen bisher aus guten Gründen verwehrt sind. Gut möglich, dass sie mit diesem Vorstoß Erfolg haben werden. Dann hätten eifrige Journalist*innen den Weg dafür bereitet, herzlichen Glückwunsch.

Die Vorwürfe

Der Staat vergisst nicht. Aber die Erinnerung ist doch reichlich selektiv. Was wird Daniela Klette, Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub überhaupt vorgeworfen? Zunächst sind das eine Reihe Raubüberfälle auf Geldtransporter und Supermärkte zwischen 1999 und 2016, von denen die ersten bereits verjährt sind und bei denen das Trio insgesamt an die zwei Millionen Euro erbeutet haben soll. Hinzu kommt der Vorwurf des versuchten Mordes, da bei mehreren Überfällen auf Geldtransporter geschossen wurde, einmal auch durch die Tür der Fahrerkabine. Die Kugel verfehlte den Mitarbeiter der Transportfirma und blieb im Sitzpolster stecken. Da viele der Überfälle in Niedersachsen begangen wurden, liegt das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Verden, das Landeskriminalamt Niedersachsen leitet die Ermittlungen.

Darüber hinaus werden die drei der 1998 aufgelösten letzten RAF-Generation zugerechnet. Sie gehören zu den wenigen mutmaßlichen Mitgliedern, die namentlich bekannt sind. Konkret sollen Spuren von Klette, Garweg und Staub bei der Sprengung des Gefängnisneubaus in Weiterstadt 1993 gefunden worden sein. Darüber hinaus wird zumindest Klette mit zwei weiteren Anschlägen in Verbindung gebracht, wegen Haarfunden in Autos, die hierbei genutzt wurden: dem misslungenen Bombenanschlag auf ein IT-Zentrum der Deutschen Bank in Eschborn 1990 und dem Schusswaffenangriff auf die US-Botschaft in Bonn während des Zweiten Golfkriegs 1991. Diese beiden Anschläge werden ebenfalls als Mordversuche verfolgt, weshalb auch sie nicht verjährt sind. Die Ermittlungen hierzu liegen bei der Bundesanwaltschaft. Warum die Weiterstadt-Sprengung noch verfolgt wird und nicht verjährt ist, ist nicht ganz klar. Die Mitgliedschaft in der 1998 aufgelösten RAF ist seit 2018 ebenfalls verjährt.

Weitere konkrete Anhaltspunkte für Beteiligungen der drei an RAF-Aktionen gibt es, soweit bekannt, nicht. Gleichwohl wird in der Berichterstattung vielfach auf die neun ungeklärten Morde der dritten RAF-Generation verwiesen – und bisweilen suggeriert, gegen Klette, Staub und Garweg werde auch deswegen ermittelt, obwohl dies zumindest bisher nicht der Fall ist. Die Bundesanwaltschaft hegt wohl leise Hoffnungen, doch noch Hinweise von Daniela Klette zu erhalten, die zur Aufklärung beitragen könnten. Denn in nahezu allen Fällen tappen die Behörden seit Jahrzehnten im Dunkeln. Beim Mord an Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder 1991 sehen die Ermittler*innen Anhaltspunkte für eine Anwesenheit von Wolfgang Grams am Tatort; beim Bombenanschlag auf die Rhein-Main Air Base 1985 und der Ermordung des US-Soldaten Edward Pimental soll Eva Haule beteiligt gewesen sein. Das war’s, was man weiß.

Wer also war diese dritte RAF-Generation? Die Frage zu beantworten, fällt nicht nur den Ermittler*innen schwer. Die erste und zweite Generation waren in einer Phase des Bewegungsaufschwungs entstanden. Mit Blick auf die 1970er Jahre erinnert sich eine ehemalige ak-Genossin: »Du trafst gelegentlich Leute aus der RAF, sie kamen damals noch zu Veranstaltungen der Bewegung, du kanntest den Anwalt der einen oder den Bruder der anderen vom letzten Urlaub, und du diskutiertest nächtelang mit deinen Genoss*innen darüber, warum ihr nicht zur RAF gingt, ob es dafür gute Gründe gab, oder ob ihr nur zu feige wart. Wir fanden den Schritt nicht grundsätzlich falsch. Wir diskutierten, ob er taktisch richtig war.«

Wer war die dritte Generation?

Der Ausgangspunkt der dritten Generation war die Niederlage von 1977. Die Versuche, die RAF-Gründer*innen aus dem Gefängnis zu befreien, waren gescheitert, die meisten Gründer*innen tot, viele ihrer Nachfolger*innen ebenfalls verhaftet, bei Festnahmeversuchen erschossen, ins Ausland geflohen oder in der DDR untergetaucht, weite Teile der Linken politisch zerrüttet. Auf diese Situation reagierten die Verbliebenen mit einer inhaltlichen Neubestimmung, die im »Mai-Papier« oder »Front-Papier« von 1982 festgehalten ist. Es war die erste programmatische Erklärung nach Jahren und inhaltliche Grundlage der nun entstehenden dritten Generation.

Hatte sich die frühe RAF ebenso als Avantgarde der Klassenkämpfe in Westdeutschland wie als Akteurin des globalen Antiimperialismus verstanden, fiel der erste Aspekt im 1982er-Dokument weg. Auch wenn die Autor*innen die seit etwa 1980 neu entstandene Radikalität (in Hausbesetzungen, Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung) offenbar wahrnahmen, beschränkte sich ihr politischer Vorschlag auf die Aufforderung, sich als gemeinsame »Front« gegen den Imperialismus zu formieren. Im Inneren der eng an die USA angebundenen neuen »Machtzentrale« Westeuropa sollte durch militante Aktionen zum Angriff übergegangen und so der US-Imperialismus und seine europäischen Handlanger ins Wanken gebracht werden, um im Bündnis mit Befreiungskämpfen weltweit das System zu stürzen.

Für einen Teil in den neuen radikalen Bewegungen hatte der Vorschlag, die eigenen militanten Aktionen in einen größeren Zusammenhang – bewaffneter Kampf an der Seite der RAF – zu stellen, Anziehungskraft. Deutlich mehr begriffen das »Front-Papier« indes als Anmaßung, die zu den eigenen Kämpfen nur ein instrumentelles Verhältnis einnahm. Trotz großer Mobilisierungen zur Unterstützung der Hungerstreiks war die RAF in den 1980ern bereits ziemlich isoliert.

Dass sie sich von Bewegungen, der Linken und der Bevölkerung überhaupt isoliert hatte, begann die dritte RAF-Generation Ende der 1980er Jahre zu reflektieren. Dann kam die Wende.

Das hinderte sie nicht, technisch immer ausgefeiltere Anschläge zu planen, darunter tödliche auf US-Soldaten und eher weniger bekannte Vertreter aus Rüstungsindustrie, »Hochtechnologie« und Außenpolitik. Die Abkapselung half sicher dabei, unentdeckt zu bleiben. Die RAF bewegte sich vielleicht nicht als Fisch im Wasser. Aber so reichte es immerhin nicht aus, das Wasser zu vergiften, um sie zur Strecke zu bringen. Die Attentate mobilisierten indes, anders als die Entführung des verhassten Arbeitgeberpräsidenten und Altnazis Hanns Martin Schleyer – zu der auch die Ermordung seines Fahrers und seiner drei Leibwächter gehörte –, nicht einmal mehr wirklich klammheimliche Freude.

Dass sie sich von Bewegungen, der Linken und der Bevölkerung überhaupt isoliert hatte, begann diese RAF-Generation Ende der 1980er Jahre zu reflektieren. Dann kam die Wende – und alles änderte sich. Mit der Ermordung des Treuhand-Chefs Detlev Karsten Rohwedder 1991 versuchte die RAF noch, an den breiten Unmut im Osten gegen die Abwicklung der DDR-Wirtschaft anzudocken. Aber dass dieses Wessi-Attentat außer den Ermittlungsbehörden niemanden motivierte, im Gegenteil die Proteste gegen die Treuhand schwächte, bemerkten wohl auch die RAF-Illegalen.

In die Suche nach neuen Ansätzen stieß Anfang 1992 eine Versöhnungsinitiative des damaligen Justizministers Klaus Kinkel (FDP), der in Aussicht stellte, RAF-Gefangene wie normale Strafgefangene zu behandeln, sie etwa frühzeitig zu entlassen, wenn auch die RAF die Eskalation zurücknähme. Die RAF antwortete mit dem »April-Papier«, in dem sie ankündigte, tödliche Angriffe auf Repräsentanten aus Staat und Wirtschaft vorerst einzustellen, um, im Austausch mit anderen Teilen der revolutionären Linken, neue Vorstellungen für eine politische Strategie zu entwickeln (weg vom abstrakten Antiimperialismus, hin zur »Gegenmacht von unten«). Auch wenn die Erklärung betont, dass dieser Schritt nicht reaktiv zu verstehen, sondern zur politischen Neubestimmung schlicht notwendig sei, diskutiert sie die Kinkel-Initiative als Möglichkeit, aus der festgefahrenen Lage in Bezug auf die Gefangenen herauszukommen.

Isolation, Umsteuern, Ende

Zugleich suchten die Illegalen den Austausch mit anderen, schrieben Briefe an linke Zeitungen, luden zur Diskussion ein – und versuchten wohl auch, in persönlichen Treffen mit einzelnen Genoss*innen aus der legalen Linken zu diskutieren. In diese Zeit fällt die Weiterstadt-Sprengung 1993, bei der das RAF-Kommando penibel darauf achtete, dass keine Menschen zu Schaden kamen.

Es sollte der letzte Anschlag der RAF sein. Alle Versuche, eine neue politische Grundlage zu erarbeiten, endeten am 27. Juni 1993 im mecklenburgischen Kleinstadtbahnhof von Bad Kleinen. Hier erwartete ein Kommando aus MEK, Polizei und GSG9 Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, beide seit 1984 in der RAF, die sich mit einer Kontaktperson aus der linken Szene, Klaus Steinmetz, zur Diskussion treffen wollten. Wie sich später herausstelle, war Steinmetz Verfassungsschutzspitzel und hatte das Treffen verraten. Beim Versuch, Hogefeld und Grams festzunehmen, konnte Wolfgang Grams zunächst auf den Bahnsteig flüchten; nach einer chaotischen Schießerei, bei der auch ein Polizist unter nie ganz geklärten Umständen erschossen wurde, stürzte er aufs Gleisbett und starb dort durch einen aus nächster Nähe abgegebenen Schuss in den Kopf. Ob sich der schwer verletzte Grams selbst das Leben nahm oder von Polizisten hingerichtet wurde, ließ sich, auch wegen nicht erfolgter Spurensicherung und verschwundener Beweismittel, nicht eindeutig rekonstruieren.

Rekonstruieren lässt sich aber, was nach dem Einsatz mit der RAF passierte. In den folgenden Monaten führte die Frage, wie weiter für eine politische Lösung der Gefangenenfrage gekämpft werden sollte, zum Bruch unter den Gefangenen und zwischen einem Teil der Gefangenen, der den noch Aktiven die Abwicklung der RAF und Anbiederung an die Verhältnisse vorwarf, einerseits und den RAFler*innen außerhalb der Mauern andererseits. Die RAF stürzte in ihre finale Krise, die fünf Jahre später mit der Auflösung endete.

Im Spiegel-Interview von 1997 beschreibt Birgit Hogefeld, wie das Leben in der Illegalität lange vor der Verhaftung die Mitglieder isoliert und ihre Wahrnehmung eingeschränkt hatte: »Man nimmt die Gesellschaft nur noch in wohlgefilterten Ausschnitten wahr. Authentisches kommt nur noch indirekt, zum Beispiel durch Kontaktpersonen, an einen heran.« Eine dieser Kontaktpersonen war der Spitzel Steinmetz.

Aus Briefen, die Birgit Hogefeld unmittelbar nach der Festnahme schrieb, wird deutlich, wie sehr die illegalen RAF-Mitglieder Anfang der 1990er den Austausch mit Genoss*innen in der Legalität suchten, wie begierig sie auf mehr Kontakt zur Realität waren, wie sie sich für die Möglichkeit, nach der Wende in Ostdeutschland herumzulaufen, ins Gespräch mit normalen Leuten zu kommen, interessierten. Die traurige Ironie: Die Versuche, aus der Isolation auszubrechen, ermöglichten letztlich den Polizeieinsatz in Bad Kleinen.

Von Ernst-Volker Staub und Daniela Klette wird vermutet, dass sie an jenem 27. Juni ebenfalls in Bad Kleinen gewesen, aber unerkannt entkommen sein könnten. Über Burkhard Garweg ist aus RAF-Zeiten überhaupt kaum etwas bekannt. Wer darüber hinaus zur dritten RAF-Generation gehört haben könnte, bleibt unklar. Die bereits 1986 verhaftete Eva Haule, vielleicht Horst-Ludwig Meyer, der 1999 bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Wien ums Leben kam – ganz sicher ist es in seinem Fall nicht. Meyer war aber 1991 an einem antisemitischen Bombenanschlag auf jüdische Auswanderer*innen aus der Sowjetunion in Budapest beteiligt, der zum Glück scheiterte. Ob er, der zuvor jahrelang im Libanon gelebt hatte, zu dem Zeitpunkt noch Kontakt zur aktiven RAF hatte, ist nicht bekannt. Es gilt als zweifelhaft. Weitere Namen wurden mangels Anhaltspunkten von der Fahndungsliste gestrichen.

Wir vergessen nicht. Was die Strafverfolgungsbehörden damit meinen: dass sie noch Namen hören, Taten zuordnen, noch Leute hinter Gitter bringen wollen. Um Aufklärung geht es dabei allein im strafrechtlichen Sinne. Genau das wird verhindern, dass offen gesprochen und wirklich irgendwas aufgeklärt wird, was helfen könnte, die Entwicklung der RAF besser zu verstehen.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

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