analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 698 | Diskussion

Welche Solidarität braucht es nach dem 7. Oktober?

Wir dokumentieren einige Wünsche und Forderungen an Linke in Deutschland

Von Jules El-Khatib, Iris Hefets, Palestinians and Jews for Peace und Markus Tervooren

Blick durch eine geborstene Mauer in einem höheren Stockwerk, unten sind in der Ferne Menschen zu sehen, die in Trümmern etwas suchen
Das Flüchtlingslager Al Maghazi im zentralen Gazastreifen nach einem israelischen Luftschlag am 5. November. Foto: Mohammed Zaanoun / Activestills

»Wir stehen zu Menschen, nicht zu Flaggen, nicht zu Nationen und nicht zum Krieg«

Von Palestinians and Jews for Peace

Wir sind erschrocken über das, was in Palästina und Israel geschieht, besorgt um Freund*innen und andere Menschen, die in Israel und Palästina leben, besorgt um Palästinenser*innen und jüdische Menschen auf der ganzen Welt. Wir sind enttäuscht über die einseitigen Äußerungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Nachrichtenagenturen, der Politiker*innen, aber vor allem von etlichen linken Medien, Organisationen und Aktivist*innen.

Leider gibt es viele Menschen, die sich sehr schnell positionieren, ohne historisches Wissen oder kritisch über den Konflikt nachgedacht zu haben. Wir haben genug von Leuten, die den palästinensisch-israelischen Konflikt nutzen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen. »Zu Palästina stehen«, ohne die Hamas für ihre gewalttätigen Angriffe zu verurteilen, macht einen nicht zu einem guten Menschen. Ebenso wenig macht es einen guten Menschen aus, »zu Israel zu stehen« ohne die israelische Regierung für ihre menschenrechtsverletzende militärische Reaktion zu verurteilen.

Die Menschen sind bereit, beim ersten Anzeichen vom Wiederaufkeimen des Konflikts eine Seite zu wählen und ihren Hass in die Tasten zu hämmern: Es ist erschütternd, dass andere Mitmenschen, aktivistisch oder unpolitisch, den brennenden Wunsch verspürt haben, unter die Posts und Videos von vergewaltigten und ermordeten israelischen Frauen, von getöteten Kindern aus Gaza oder entführten Senior*innen zu kommentieren, wieso diese Taten gerechtfertigt seien. Und dass »die« das verdient hätten. Die Annahme, dass noch die extremste Gewalt erlaubt sei, widerspricht zutiefst den Vorstellungen von Menschenrechten, die die Linke angeblich teilt. 

In der linken Szene behaupten einige Menschen, dass der so genannte Widerstand der Hamas ein Akt der Dekolonisierung Palästinas sei. Wir positionieren uns entschieden gegen die Hamas, da diese brutale Art von »Befreiungskampf« auf keinen Fall begründet werden kann. Die rechtsextreme, rassistische, fundamentalistische Regierung in der Geschichte Israels heißen wir jedoch auch nicht gut! Wir können anerkennen, dass die Zivilist*innen Gazas durch die israelischen Regierung unterdrückt werden und gleichzeitig, dass deren Ausweglosigkeit von der Hamas ausgenutzt und instrumentalisiert wird. Die Menschenleben werden in der Region weder von Hamas, noch von der israelischen Regierung beschützt.

Daher stehen wir zu Menschen, nicht zu Flaggen, nicht zu Nationen und nicht zum Krieg.

Die Sicherheit jüdischer Menschen und die Gleichberechtigung palästinensischer Menschen schließen sich gegenseitig nicht aus. Das Bedürfnis nach Anerkennung der eigenen Identität und das Bedürfnis nach einem selbstbestimmten, sicheren und vollwertigen Leben ist für jüdische und palästinensische Menschen ein Ziel. 

Wir sind nicht eure Alibi-Jud*innen- und Palästinener*innen. Wir haben unsere eigenen Stimmen. Wir lassen uns von euch nicht gegeneinander aufhetzen. Wir lassen uns von euch nicht für euren Rassismus oder Antisemitismus ausnutzen. Wir stehen gemeinsam. Mit unseren palästinensischen und jüdischen Geschwistern. Und wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen.

Palestinians and Jews for Peace

sind eine Gruppe von palästinensischen und jüdischen Freund*innen, die sich für einen differenzierten Dialog und einen mitfühlenden und respektvollen Umgang miteinander einsetzen, um die Narrative zu verändern.

»Wer schweigt, der offenbart internationale Solidarität als leere Phrase«

Von Jules El-Khatib

Die Frage, welche Solidarität die linke Bewegung jetzt üben sollte, stellt sich für Menschen mit palästinensischen Wurzeln aktuell kaum, denn aus der politischen Linken gibt es kaum Empathie und noch weniger Solidarität. Die Frage, wie Solidarität aussehen sollte, bedürfte daher erst einmal grundlegender Sympathie, stattdessen stellen sich Teile der deutschen Linken offen auf die Seite der israelischen Regierung und haben kein Problem mit der Bombardierung von Zivilist*innen in Gaza. Bevor also die Frage der Solidarität diskutiert werden kann, sollte die linke Bewegung erst einmal deutlich machen, dass sie Gewalt ablehnt, auch wenn sie Palästinenser*innen trifft. 

Wenn diese Frage, deren Antwort eigentlich zum Grundkonsens jeder fortschrittlichen Bewegung gehören sollte, geklärt ist, kann über die konkreten Formen der Solidarität gesprochen werden. Solidarität mit den Menschen in Palästina und Israel würde bedeuten, umgehend einen Waffenstillstand einzufordern, der das Sterben beendet, ein Ende der Blockade einzufordern, die die Menschen in Gaza langsam sterben lässt, weil es zu wenig Strom, Wasser, Lebensmittel und Medizin gibt, und die Freilassung der israelischen Geiseln zu fordern. Es würde ebenso bedeuten, sich für die Freilassung der in israelischen Gefängnissen sitzenden palästinensischen Kinder sowie der ohne Anklage in sogenannter Administrativhaft sitzenden Palästinenser*innen einzusetzen. Konkret würde Solidarität, wenn sie sich nicht nur in Posts, Tweets und Sharepics in den Sozialen Medien artikulieren würde, sondern auch in Kundgebungen und Protesten, in Briefen an die Abgeordneten und die Regierung, öffentlich die Stimme für ein Ende der Gewalt erheben. Konkrete Solidarität kann auch heißen, die Menschen in Palästina mit dem zu unterstützen, was sie aktuell am dringendsten brauchen: Wasser und Medizin. Sowohl das Rote Kreuz als auch das WFP (World Food Programme der Vereinten Nationen) unterstützen die Menschen in Gaza und sind dafür auf Spenden angewiesen. 

Wer es allerdings nicht schafft, die Stimme zu erheben, sich für einen Waffenstillstand einzusetzen, sich gegen die Bombardierungen Gazas zu stellen, der möge bitte nie wieder von Internationalismus und internationaler Solidarität sprechen. Denn wer zu einem der blutigsten Kriege der letzten Jahrzehnte schweigt, der offenbart, dass Internationalismus eine Phrase ist und keine gelebte Praxis.

Jules El-Khatib

ist deutscher und israelischer Staatsbürger, mit palästinensischen und deutschen Wurzeln. Er ist Hochschuldozent und Friedensaktivist.

»Ich wünsche mir Trauer um die Opfer und Empathie« 

Von Markus Tervooren 

ak fragt mich, was ich mir von der Linken, vielleicht besser den Linken in Deutschland und Europa, vor dem Hintergrund des antisemitischen Massakers der Kassam-Brigaden der Hamas, das einen Krieg in Israel und Gaza ausgelöst hat, wünsche. Das ist tatsächlich einfach zu beantworten, aber nicht leicht umzusetzen. Ich wünsche mir Trauer um die Opfer und Empathie mit ihren Angehörigen und Freund*innen in Israel, ungetrübt und ohne »Kontextualisierung«. Ich wünsche mir Solidarität mit den Jüdinnen und Juden hierzulande, die auf »propalästinensischen« Demonstrationen und durch teils tätliche Angriffe im Alltag in Haftung für die Ereignisse in Israel, der Westbank und Gaza genommen werden, das ist klar antisemitisch. Ich wünsche mir, dass auf linken Demonstrationen Leute raus gekantet werden, die einen Schlussstrich unter die »deutsche Schuld« ziehen wollen: Free Gaza from German Guilt war auf zahlreichen palästinasolidarischen Demonstrationen auf Schildern zu lesen – das kommt ansonsten ja traditionell von Neonazis und der AfD. 

Die VVN hat 1948 die Gründung des Staates Israel begrüßt: »Unsere durch den Faschismus verfolgten und schwergeprüften jüdischen Kameraden erhalten nunmehr die versprochene Heimat und nationale Selbständigkeit. Wir aber verfolgen mit ernster Besorgnis die Tatsache, dass die Sicherheit dieses Staates durch einen neuen Krieg bedroht ist und unsere Kameraden und das jüdische Volk die Geburt dieses Staates mit den Waffen erkämpfen müssen …«. Die Solidarität mit den Kamerad*innen war unmittelbar, man hatte das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager geteilt, wusste um die ermordeten Familienangehörigen und Freund*innen. 

Wer nach der Shoa heute Israel einen Genozid an Palästinenser*innen vorwirft, will nicht die schrecklichen Kriegsereignisse beschreiben, sondern Jüdinnen und Juden weltweit verletzen. Linke müssen dem widersprechen. Vor der Kritik am israelischen Regierungshandeln sollte, nein muss die Kritik, unbedingte Ablehnung, Bekämpfung der Hamas, der Hisbollah und Daesh kommen und die Einsicht, dass Linke sich mit religiösen Fundamentalist*innen nie gemein machen dürfen. Dabei geht es nicht um deutsche Staatsräson, nicht darum das Leiden der Palästinenser*innen zu verschweigen; sondern um die Grundlagen internationaler, antifaschistischer Solidarität mit allen Opfern dieses Krieges. Kritik an der israelischen Regierung kam und kommt vor allem von unseren israelischen Genoss*innen und Freund*innen – vergesst nicht die eindrucksvollen wöchentlichen Demonstrationen gegen die »Justizreform« von zahlreichen Organisationen, die auch jetzt für gleiche Rechte und ein friedliches Zusammenleben kämpfen – vom Jordan bis zum Mittelmeer. 

Und nicht zuletzt: Bring. Them. Home.

Markus Tervooren

arbeitet als Geschäftsführer für die Berliner VVN-BdA e.V. (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten).

»Die Verletzung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ist inakzeptabel«

Mit einem »Brief aus Berlin« meldeten sich Ende Oktober mehr als 350 Wissenschaftler*innen zu Wort. Sie kritisieren u.a. zahlreiche Verbote von Protesten, die sich mit der Zivilbevölkerung in Gaza solidarisieren, in der Hauptstadt. »Als kritische Wissenschaftler*innen rufen wir die verantwortliche Landesregierung dazu auf, politische Repression dieser Art, die etwa auch repressive Anweisungen des Senats an Berliner Schulen umfasst, umgehend zu unterlassen«, heißt es in dem Schreiben. Die Unterzeichnenden, darunter auch ak-Autor*innen, etwa Daniel Loick, Vanessa Thompson, Johanna Bröse, Alp Kayserilioğlu oder Miryam Frickel, weisen auf vermehrte antisemitische Anschläge in Berlin seit dem 7. Oktober hin. Auf diese gefährdete Sicherheit jüdischer Menschen werde aber mit repressiven Maßnahmen wie z.B. Racial Profiling – etwa im Berliner Stadtteil Neukölln – reagiert, statt mit Aufklärung, demokratischer politischer Bildung oder antifaschistischer Strukturen. Die »Verletzung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit« sei inakzeptabel und »kein probates Mittel gegen den latenten sowie zunehmend aggressiven Antisemitismus in Deutschland«.

Eine Logik der Gleichsetzung ziehe sich, so die Unterzeichnenden, »in erschreckendem (wenn auch wenig überraschendem) Ausmaß auch durch die deutsche Politik und Öffentlichkeit«. Nach dem 7. Oktober seien die Massaker im Süden Israels und die Geiselnahmen durch die Hamas »teilweise zynisch verharmlost und die Trauer israelischer Angehöriger verhöhnt« worden. »Große Teile der Medien sowie der Landes- und Bundespolitik bezeichnen Solidarisierungsbekundungen mit der palästinensischen Zivilbevölkerung allerdings pauschal als Hamas-Verharmlosung oder gar -Verherrlichung und folgen damit ebenfalls einer verheerenden, rassistischen Logik der Gleichsetzung. Palästinensische Menschen sind nicht gleichzusetzen mit der Hamas, ebenso wenig wie jüdische Menschen gleichzusetzen sind mit der israelischen Regierung«, heißt es in dem Brief. Er schließt mit den Worten: »Gegen jeden Antisemitismus. Gegen Polizeigewalt und Rassismus. Freilassung aller Geiseln und Waffenstillstand jetzt.«

Der ganze Brief und die Namen aller Unterzeichner*innen kann hier nachgelesen werden.

»Wir haben unterschiedliche Biografien und eigene Stimmen«

Von Iris Hefets

Wenn ich in einer linken Umgebung in Rom oder Madrid bin, kann ich aufatmen. Dort werde ich auch gefragt, wie man »ich bin antikapitalistisch, antirassistisch, antikolonialistisch und I love Israel« sagen kann, ohne vom Berg der ersten Begriffe in den Abgrund der letzten Sprachfloskel abzustürzen. 

Ich habe nur eine psychoanalytische Antwort darauf: Manche deutsche Linke können die Verbrechen ihrer Vorfahren so schlecht ertragen, dass sie es nicht verkraften, dass es in Deutschland fast keine Jüdinnen und Juden mehr gibt. Um die Leere, die sie fühlen, nachdem ihre Vorfahren die Juden vernichtet haben, zu füllen, fressen sie »einen Juden« auf kannibalistische Art und Weise. Wenn ich Linke à la Germania sprechen höre, dann höre ich mich als junge Offizierin in der Erziehungs-Propaganda-Einheit aus ihnen sprechen. Sie sagen ein paar Wörter auf Hebräisch und dass der Mufti Nazi war und damit ist ihre quicky Konvertierung zum Judentum vollzogen. So können sie einen psychischen Prozess des Ungeschehenmachens vollziehen, mit dem »generischen Juden-Objekt« in ihrem Bauch die Vorstellung haben, selbst Juden zu werden. Wenn wir dagegen mit eigener Stimme sprechen, die mit dem von ihnen verschluckten, durch sie sprechenden »Juden« nicht übereinstimmt, bricht diese Illusion zusammen und sie geraten aus dem Gleichgewicht. Daher müssen sie uns zum Schweigen bringen.

In Berlin leben mehrere Israelis wie ich, die für ihre Familien immer noch als Verräter*innen gelten, die mit ihren Eltern und Geschwistern, die zur Armee gehen und an Kriegsverbrechen teilnehmen, nicht sprechen können. Mehrere von ihnen begrenzen die Kommunikation auf Textnachrichten, vor allem in Tagen des Krieges. Es ist nicht leicht, mit dieser Unerreichbarkeit der Familienmitglieder und den Abgründen umzugehen, die sich zwischen uns und ihnen ausbreiten. Für viele solcher Israelis in Berlin ist die linke Community und sind andere Israelis in diesem Zustand ein Familienersatz. Sie treffen sich, feiern die Feiertage zusammen und können so dem kollektiven Druck entgehen. Eine Begegnung mit linken Deutschen lässt sie dagegen die Enge wieder fühlen, der sie entflohen sind. 

Was wir brauchen, ist eine echte linke Bewegung, wie in Madrid oder Rom. Eine Schreinerei des Kollektiven in der selbstverständlich eine Palästina-Flagge hängt, in der man streiten kann und in der man sich als Deutsche*r mit Nazi-Hintergrund nicht als Überjude verkleidet. Lass’ jede*n sein, was er oder sie ist: Wir haben unterschiedliche Biografien. Was wir bestimmt nicht brauchen, ist, kannibalistisch verschluckt zu werden. 

Man muss das Rad nicht neu erfinden: Seid einfach wie in Rom oder Madrid, fahrt dorthin zur Kur oder sorgt dafür, wenn ihr etwas Gutes für Jüdinnen und Juden machen und das Verbrechen eurer Vorfahren reparieren wollt, dass alle Jüdinnen und Juden in Israel das Recht auf einem deutschen Pass bekommen. Das wird der Migrationspolitik hier guttun, und dann werden viele hier es mal mit realen Jüdinnen und Juden zu tun bekommen – und nicht mit einer Idee von ihnen.

Iris Hefets

wurde in Israel geboren, lebt seit vielen Jahren in Berlin und ist Mitglied im Vorstand der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost.

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