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|ak 697 | Diskussion

Für einen pragmatischen Internationalismus

Wie könnte die Linke besser über ihre Position zum Krieg in der Ukraine streiten?

Von David Ernesto García Doell und Marta Tycner

Gemälde das chaotische Szenen zeigt: Schlachten, möglicherweise den Sturm auf die Bastille, aber auch einen Forscher, darüber düstere Wolken und ein Ritter auf einem Pegasus
Dass über die Interpretation der chaotischen Verhältnisse erbittert gestritten wird, ist nicht neu. Ein Versuch, den ideologischen Konflikt in der Linken über den Ukraine-Krieg zu ordnen. Bild: Raphael’s Almanac / Public Domain Review, Public Domain

Knapp 19 Monate nach Kriegsbeginn blicken deutsche Linke immer noch ohnmächtig auf das Massenmorden und Massensterben in der Ukraine. Waren viele durch die Invasion zunächst schockiert, begann bald ein erbitterter ideologischer Konflikt über die richtige Position zum Krieg. In ak 696 bemühten sich Simon Konstantinow und Anna Ortakova um eine Bestandsaufnahme der Debatte und Kritik linker Positionen. Wenngleich das Ziel einer Systematisierung der Debatte zu begrüßen ist, hat der Text einige Schwächen.

Das grundlegendere Problem des Textes ist allerdings, dass er auf einer politischen Ebene kaum Positionen anbietet. In der Kritik polemisch, bleibt er letztlich selbst unterbestimmt und ruft nur abstrakt zu einer neuen Internationale auf. Der einzige konkretere Hinweis lautet, dass diese neue Internationale im Sinne der »Zimmerwalder Linken« (1915) angelegt sein solle, wobei gerade diese Referenz zum Ersten Weltkrieg nicht plausibel ist. Die Ukraine 2023 ist nicht vergleichbar mit Deutschland 1915, sie ist kein imperialistischer Akteur. Der ukrainische Soziologe Wolodymyr Ishchenko beschrieb sie 2021 als »nördlichstes Land des globalen Südens«, das die Krise des postsowjetischen Raums wie kein anderes Land verdichte. Möglicherweise kann von einer Semi-Kolonie gesprochen werden, die ihre relative Autonomie am Rande des russischen Imperiums aus Putins Sicht überreizt hat.

Die USA haben ihren strategischen Fokus unlängst in den pazifischen Raum verlegt, um die Konfrontation mit China um die imperialistische Weltführung im 21. Jahrhundert auszutragen. Der westliche Block, der durch die Ukraine einen Stellvertreterkrieg führt, hat bis auf die Schwächung Russlands kaum etwas zu gewinnen, die Selenksyj-Regierung muss ständig um Waffen betteln. Auch China als wichtigster ökonomischer und politischer Partner Russlands hat kein Interesse an diesem Krieg, liefert allenfalls indirekt Waffen an die russische Seite. Die Gefahr eines Weltkrieges, so real sie in einer imperialistischer, militaristischer werdenden Welt ist, scheint derzeit zumindest an dieser Stelle nicht besonders hoch.

Worauf können sich Linke einigen?

Anstatt mit einer detaillierteren Kritik an Konstantinow/Ortakova zu beginnen, wollen wir bewusst anders vorgehen, nämlich zuerst Gemeinsamkeiten linker Positionen bestimmen – beziehungsweise Felder, in denen linke Positionen eine pragmatische Einheit erzielen können. Linke internationalistische Positionen müssten sich bei allen Differenzen eigentlich auf mindestens zehn Grundpositionen einigen können:

1. die Kritik jedes Imperialismus (nicht nur des westlichen beziehungsweise nicht nur des russischen oder chinesischen); 2. die Kritik der Aufrüstung der BRD und deren ideologischer Begleitmusik; 3 die Analyse der russischen Kapitalfraktionen und Staatsapparate, die den Krieg in der Hauptsache treiben; 4. die Unterstützung der russischen Antikriegsbewegung, der russischen linken Opposition und von Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisationen; 5. die Kritik spezifisch kriegerisch-patriarchaler Gewalt im Zuge des Krieges, worunter insbesondere die Vergewaltigungen durch Soldaten zu nennen sind; 6. die Unterstützung russischer und ukrainischer Deserteur*innen; 7. die Kritik der neoliberalen und nationalistischer werdenden Selenskyj-Regierung; 8. humanitäre Unterstützung für die Menschen in der Ukraine; 9. die Unterstützung von Flüchtlingen; 10. die Unterstützung von NGOs, Linken, Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisationen in der Ukraine. Weniger eine Position, eher eine zusätzliche Aufgabe sehen wir in der Transnationalisierung linker Debatten.

Um ein konkreteres Beispiel zu einem der Themenfelder zu nennen: Die Zahl russischer Millionäre ist seit Kriegsbeginn krass angestiegen, »2022 etwa um 56.000 auf 408.000, während die Zahl der sehr vermögenden Privatpersonen – Menschen mit einem Vermögen von über 50 Millionen US-Dollar – um fast 4.500 stieg«, wie das Portal Business Insider im August berichtete. Der russische Soziologe Ilya Matveev schlussfolgerte in seinem sehr lesenswerten Text in ak 694: »Es ist noch einiges an Arbeit notwendig, um die einzelnen Cliquen und Koalitionen innerhalb der russischen Elite zu identifizieren, die Putins kriegerische Impulse unterstützten und förderten; eine weitere Aufgabe wäre es, die Rolle des irredentistischen großrussischen Nationalismus zu verstehen.« (1)

Es wäre schon viel gewonnen, wenn Linke in Deutschland genauso viel Mühe in die praktisch-politische sowie theoretische Arbeit in Bezug auf diese Themenfelder stecken würden wie in die polemische Konfliktführung. Dass der ideologische Konflikt innerhalb der Linken so erbittert geführt wird, könnte daran liegen, dass die empfundene Ohnmacht durch ideologische Scheingefechte überkompensiert wird. So lange man damit beschäftigt ist, der jeweils anderen Seite vorzuwerfen, Nato-Fans oder Putin-Knechte zu sein, muss man sich vielleicht weniger mit der eigenen politischen Handlungsunfähigkeit auseinandersetzen.

Was sind die Streitpunkte?

Was die utopischen Maximalforderungen angeht, so lassen sich diese leicht bestimmen. Eine internationalistische Linke muss für transnationale Solidarität und eine kommunistische Weltrevolution kämpfen. Auf der konkreten Ebene wird es schnell komplizierter. Vermutlich würden mehr oder weniger alle Linken für sich beanspruchen, antiimperialistische und antimilitaristische Positionen zu vertreten – nur wie diese Begriffe konkret bestimmt werden, unterscheidet sich stark.

In Bezug auf den Ukraine-Krieg lassen sich hier grob zwei linke Positionen modellieren, die jeweils noch einmal zwei Unterpositionen haben. Diese Positionen könnte man als Appell zum Widerstand gegen den russischen Imperialismus auf der einen Seite bzw. zum Antimilitarismus gegen den westlichen Imperialismus auf der anderen Seite sowie als entweder bewegungsorientierter (Perspektive »von unten«) bzw. staatsorientierter (Perspektive »von oben«) beschreiben. Beide der erstgenannten Positionen gibt es in einer stärker staats- bzw. stärker bewegungsorientierten Ausprägung.

Es wäre möglich, eine vollkommen »richtige« Position zu vertreten, aus einer antiimperialistischen Perspektive den Abzug der russischen Truppen zu fordern und gleichzeitig den westlichen Imperialismus zu kritisieren. Genauso wäre es möglich, eine vollkommen »richtige« Position zu vertreten, aus einer antimilitaristischen Perspektive »Krieg dem Krieg« und »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« zu sagen und gleichzeitig den russischen Angriffskrieg zu verurteilen. Diese Positionen sind abstrakt genug, um konsequenzenlos richtig zu sein. Damit kann man sozusagen nichts falsch machen, aber leider auch nicht viel gewinnen.

Dass der ideologische Konflikt innerhalb der Linken so erbittert geführt wird, könnte daran liegen, dass die empfundene Ohnmacht durch ideologische Scheingefechte überkompensiert wird.

Offensichtlich ist in Hinblick auf diese Frage letztlich nur eines möglich: entweder den Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen oder nicht. Dies wird in der Diskussion unter Linken besonders an der Frage der Waffenlieferungen festgemacht, die quasi-religiös aufgeladen ist. Anhand der Antwort auf diese eine Frage wird in heftiger Polemik festgelegt, ob Debattengegner*innen wahlweise Putin-Knechte oder Nato-Fans sind. Die Aufladung der Waffenlieferungsfrage ist für die linke Debatte hinderlich. Viel sinnvoller wäre es beispielsweise, darüber zu sprechen, wie konkrete Unterstützung für Deserteur*innen aus Russland oder der Ukraine aussehen könnte. Schon mit der Fokussierung auf die Frage der Waffenlieferungen nähern sich Linke einem (staatsorientierten) Blick »von oben« an. Während Linksradikale ohne Probleme Deserteur*innen unterstützen können, können wir in der Regel nicht Waffen liefern oder wirtschaftliche Sanktionen verhängen.

Das Problem einer abstrakt richtigen Position lässt sich mit Blick auf die Forderung nach Friedensverhandlungen illustrieren. Konstantinow/Ortakova sprechen sich dagegen aus, auf chinesische oder brasilianische Vermittlungsversuche zu hoffen, mit dem Hinweis, dass dies eine Appell an den Staat sei. So richtig das abstrakt sein mag, so sehr muss man doch realpolitisch anerkennen, dass dies derzeit die größten Möglichkeiten für eine baldige Beendigung des Krieges sind. Natürlich können und sollten wir als internationalistische Linke langfristig eine eigenständige Stärke aufbauen, die Kommunismus und Frieden erkämpfen kann. Wer allerdings ausschließlich darauf setzt, würde ein Ende des russisch-ukrainischen Krieges auf die ferne Zukunft verschieben. Warum sollten Linke nicht gleichzeitig internationale Strukturen aufbauen und in der Zwischenzeit auf eine Vermittlung durch China, Brasilien, die Türkei oder Israel hoffen?

Waffenlieferungen und ökonomische Sanktionen können offensichtlich nur Mittel zum Zweck eines Friedensvertrags, aber kein Selbstzweck sein. Wolodymyr Ishchenko, der gern von antimilitaristischer Seite vereinnahmt wird, spricht sich beispielsweise dafür aus, Waffen so zu liefern, dass ein Friedensvertrag wahrscheinlicher wird.

Ein weiteres Problem besteht in der Frage nach dem Inhalt von Friedensverhandlungen. Ishchenko diskutierte in einem Interview für die Rosa-Luxemburg-Stiftung von März 2022 zwei Szenarien für das Ende des Krieges: eines, in dem der Osten der Ukraine (pro)russisch wird und der Westen in die EU aufgenommen wird, und eines, in dem Russland die eroberten Gebiete wieder verliert. Uns fehlt die militärpolitische Expertise, um zu beurteilen, ob das ukrainische Militär den Osten des Landes und die Krim zurückerobern könnte, wenn der Westen die dafür notwendigen Waffen liefern würde. Diese wäre aber notwendig, um die Frage sinnvoll zu diskutieren.

Es reicht nicht, Recht zu haben

Es genügt jedenfalls nicht, abstrakt von Frieden zu sprechen, sondern man müsste dann auch konkretere Vorschläge nennen, welche Territorien an welche Seite gehen und welche Sicherheitsgarantien dafür im Gegenzug gegeben werden. Wer heute einen Frieden will, muss für Abtretung der Ostukraine an Russland sein und der Westukraine im Gegenzug eine Integration in die EU oder Nato in Aussicht stellen. Beim nächsten russisch-ukrainischen Krieg befänden wir uns dann allerdings tatsächlich in einem Weltkrieg. Um die Diskussion, was der Gehalt der Friedensverhandlungen sein soll und welche unangenehmen Konsequenzen das hat, drücken sich Linke nicht erst seit Sahra Wagenknecht herum.

Wenn man eine neue internationale Linke aufbauen möchte, ist auch die Transnationalisierung linker Debatten eine Vorrausetzung. Konstantinow/Ortakova kritisieren, dass Linke sich in einer blinden Unterstützung für den ukrainischen Staat auf ein unkritisches »Die Betroffenen haben Recht« zurückziehen würden. Sie schreiben: »Das Argument ›so wollen es aber die Linken dort‹ ist weder ein guter Ersatz für die materialistische Analyse der Kriegsziele noch faktisch aufrechtzuerhalten.« Diese Polemik arbeitet sich an einem Strohmann ab, der die Gegenposition absurd erscheinen lässt. Dafür müssen sie ausblenden, dass die feministische und antirassistische Losung »Betroffenen zuhören« und nicht »Betroffene haben Recht« heißt. Analog ist es auch richtig, den Menschen und Linken aus der Ukraine zuzuhören. Die allermeisten (weißen) Linken in Deutschland und Westeuropa haben Krieg, Vertreibung oder Ermordung von Angehörigen nicht selbst erfahren.

Das bedeutet nicht, dass ukrainische Linke ein privilegiertes Erkenntnissubjekt wären oder deutsche Linke sich deren Position blind anschließen müssten. Es heißt aber, die Positionen dort zu lesen, sie zweitens auch vor ihrem spezifischen Erfahrungshintergrund ernst zu nehmen und drittens sie solidarisch zu kritisieren. Es sind derzeit zumindest keine gelingenden Versuche von deutscher Seite erkennbar, auf die Diskurse in der Ukraine Einfluss zu nehmen. Linke Gruppen geben sich in der Regel nicht die Mühe, ihre Texte ins Ukrainische (oder Englische) zu übersetzen und dort Gruppen für eine Diskussion vorzulegen. Der Austausch mit Betroffenen, den Konstantow/Ortakova hier tendenziell belächeln und mit der wichtigeren materialistischen Analyse kontrastieren, als ob nicht beides möglich wäre, ist für einen Internationalismus aber unerlässlich.

Marta Tycner

ist Historikerin, macht internationalistische linke Politik in Warschau und hatte zuletzt mit einer schweren Krankheit zu kämpfen.

Anmerkung:

1) Irredentismus bezeichnet eine nationalistische Ideologie, die darauf zielt, möglichst alle Angehörige einer Sprachgruppe oder ethnisch definierten Gruppe in einem Staatsgebiet zusammenzuschließen. In Bezug auf die Ukraine werden hierunter die Bestrebungen Russlands gefasst, die mehrheitlich russischsprachigen Regionen der Ukraine in die Russische Föderation einzugliedern. Die Annexion der Krim 2014 etwa war ein irredentistischer Akt.