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Der Krieg in der Ukraine und das russische Kapital

Warum die imperialistische Invasion nicht aus den ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse abgeleitet werden kann

Von Ilya Matveev

Putin sitzt zwischen Politikern und Militärs in Uniformen und mit vielen Orden
Ist Putin ein bonapartistischer Herrscher, wie er im (marxistischen) Lehrbuch steht? Und heißt das, die russische Bourgeoisie rauft sich heimlich die Haare über seine Politik? Aufnahme von der Parade am 9. Mai in Moskau. Foto: kremlin.ru / Wikipedia, CC BY 4.0

Mit seinem Artikel »Behind Russia’s War Is Thirty Years of Post-Soviet Class Conflict« (1) hat Volodymyr Ischtschenko einen wichtigen Beitrag zur Debatte über das Wesen des russischen Imperialismus und den Krieg in der Ukraine geliefert. Er postuliert, dass hinter dem Krieg ein Klassenkonflikt zwischen den »politischen Kapitalisten« in Russland einerseits und einer Allianz des transnationalen Kapitals und der qualifizierten Mittelklassen der Ukraine andererseits steht.

Ischtschenko zufolge entspricht die Entscheidung des Kremls, in die Ukraine einzumarschieren, den kollektiven Interessen der russischen herrschenden Klasse, auch wenn sie den individuellen Interessen des einen oder anderen politischen Kapitalisten zuwiderläuft. Ischtschenkos Artikel ist zwar ein hervorragender Ausgangspunkt für die Debatte, aber er verkennt letztlich das Wesen der herrschenden Klasse in Russland sowie die Gründe für Russlands Aggression in der Ukraine. Ischtschenko stellt fest: »Einige Analyst*innen behaupten, dass der Krieg die autonome Rationalität eines ›politischen‹ oder ›kulturellen‹ Imperialismus habe. Letztlich ist das eine eklektische Erklärung.«

Eklektizismus mag eine Sünde sein, aber eine eben solche ist es, die Indizien falsch zu interpretieren, damit die Theorie passt. In diesem Artikel konzentriere ich mich auf die historische Entwicklung des russischen Kapitals, seine Beziehung zur imperialistischen Politik des Kremls und die Divergenz zwischen der wirtschaftlichen Expansion und der militärischen Aggression seit 2014.

Im Gegensatz zu Ischtschenko argumentiere ich, dass der russische Imperialismus seine eigene Logik hat, die sich nicht auf die Interessen der herrschenden Klasse reduzieren lässt. Dass die nicht-ökonomischen Wurzeln des aggressiven russischen Expansionismus seit 2014 hervorstechen, wirft Fragen nach der Gültigkeit klassischer Imperialismustheorien auf.

Fraktionen der herrschenden Klasse Russlands

Ischtschenko definiert die herrschende Klasse bzw. die einflussreichste Fraktion der herrschenden Klasse in Russland als »politische Kapitalisten«, deren vorrangige Strategie »die Ausnutzung eines politischen Amtes zur Anhäufung von privatem Reichtum« ist. Er bezieht sich auf mehrere Autoren – Steven Solnick, Ruslan Dzarasov, Iván Szelényi –, um die Abschöpfung öffentlicher Ressourcen und die staatlich abgesegnete Ausplünderung zu beschreiben, wie sie für russische Kapitalist*innen charakteristisch sind.

Alle von Ischtschenko zitierten Forscher legen den Fokus auf die späten 1980er und die 1990er Jahre, und ihre Schlussfolgerungen sind in Bezug auf diesen Zeitraum zweifellos richtig. Zu Russlands »ursprünglicher Akkumulation« gehörte ohne Frage die massive Aneignung öffentlichen Reichtums – sei es durch die Privatisierung von Staatseigentum oder die Bereicherung an öffentlichen Geldern, die korrupte Amtsträger*innen in Privatbanken umgeleitet haben. Auf diese Weise haben die »Oligarchen«, oder Großunternehmer, ihr Vermögen gemacht.

Die 1990er Jahre waren eine Zeit der »virtuellen Ökonomie«, in der es fast keine Investitionen und Kapitalbildung gab, bei gleichzeitig hektischer Spekulation und Vorteilsnahme durch gut vernetzte Insider. Die vorherrschende Unternehmensform, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre herausbildete, war der sogenannte finanzindustrielle Verbund, ein Konglomerat aus Finanz-, Industrie- und Medienvermögen, das im Wesentlichen alles umfasste, was seine Eigentümer – meist vom Staat – entwenden und an sich reißen konnten.

Zu Russlands ursprünglicher Akkumulation gehörte die massive Aneignung öffentlichen Reichtums. Doch die Wirtschaftskrise von 1998 war ein Wendepunkt.

Die Wirtschaftskrise von 1998 war jedoch ein Wendepunkt. Viele Möglichkeiten zur Spekulation mit und Bereicherung an staatlichen Ressourcen versiegten, während der dramatische Wertverlust des Rubels Rohstoffexporte besonders attraktiv machte. Um die zentrale Bedeutung des Exports für die Wirtschaft wiederherzustellen, wurden Investitionen in die russischen Produktionskapazitäten nötig.

Russische Geschäftsleute erkannten, dass sie die Finanzmittel für solche Investitionen auf den globalen Kapitalmärkten einwerben konnten. Dies wiederum erforderte veränderte Unternehmenspraktiken und mehr Transparenz. Die »finanzindustriellen Konzerne« der 1990er Jahre wurden zu traditionelleren Unternehmen umstrukturiert.

Die Geschichte von Michail Chodorkowski, dem Oligarchen, der zum Erzfeind Putins wurde, steht sinnbildlich für diesen Wandel. Sein Startkapital erlangte er in den späten 1980er Jahren durch seine Verbindungen zum Komsomol – der kommunistischen Jugendorganisation, die Gorbatschow zu einer Drehscheibe für verschiedene unternehmerische Initiativen machte.

Chodorkowskis Bank Menatep beteiligte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre an allen möglichen Spekulations- und Arbitragegeschäften. (2) 1995 erwarb Chodorkowski Yukos, den größten russischen Ölkonzern, durch ein dubioses Loans-for-Shares-Programm (3) für einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes.

Chodorkowski war der archetypische Oligarch der 1990er Jahre. Er leitete ein undurchsichtiges, weit verzweigtes Unternehmen, schikanierte Minderheitsaktionäre und griff, wenn das nicht ausreichte, auch auf kriminelle Gewalt (oder die Drohung damit) zurück. Anfang der 2000er führte er jedoch neue Bilanzierungs- und Transparenzstandards ein und berief unabhängige Mitglieder in den Yukos-Vorstand, um die internationale Legitimität seines Unternehmens zu erhöhen und den Marktwert zu steigern.

Von Bonapartisten und Oligarchen

Der zentrale Aspekt der Geschichte der russischen Wirtschaft seit Anfang des Jahrhunderts ist ihre Internationalisierung. Russische Unternehmen besorgten sich Kapital auf den globalen Märkten, führten Börsengänge an den wichtigsten internationalen Handelsplätzen durch, erwarben Vermögenswerte im Ausland und gründeten Joint Ventures mit ausländischen transnationalen Unternehmen. In den Worten des politischen Soziologen Georgi Derluguian fungierten sie als »Kompradoren-Oligarchien, die die Verbindung zwischen globalen Wirtschaftsströmen und der lokalen Ressourcenausbeutung monopolisieren«. (4)

Die Internationalisierung wurde zu einem integralen Bestandteil ihrer Akkumulationsstrategie. Als Privatpersonen erwarben die reichsten Männer Russlands Luxusimmobilien in London, die dazugehörigen Superyachten und schickten ihre Kinder auf die teuersten Privatschulen, die europäische Länder zu bieten hatten. Es ist wichtig, diese Dimension der Aktivitäten der herrschenden Klasse zu berücksichtigen, da sie in direktem Zusammenhang mit der Außenpolitik des Kremls und, wie ich meine, mit seinen imperialistischen Zielen steht.

Ich stimme Ischtschenko zu, wenn er Putins Regime als bonapartistisch charakterisiert. (5) Ähnlich wie Louis Bonaparte kam Putin mit dem Versprechen an die Macht, »die Ordnung wiederherzustellen«. Obwohl er die Oligarchen verbal angriff, hatte er nie die Absicht, ihren Reichtum umzuverteilen oder die polit-ökonomischen Grundpfeiler der postsowjetischen Ordnung zu revidieren, um die extreme Ungleichheit zu bekämpfen. Stattdessen bot er der Wirtschaftselite einen neuen Deal an: Sie sollte ihren Einfluss auf die Medien und die politischen Parteien aufgeben, dafür könnte sie ihren Reichtum weiter vermehren.

Ähnlich wie Louis Bonaparte kam Putin mit dem Versprechen an die Macht, die Ordnung wiederherzustellen.

Für Russlands führende Geschäftsleute erwies sich das als ausgezeichnetes Geschäft, da Putins persönliche Popularität ihre schwache Legitimität in der Gesellschaft kompensierte. Außerdem konnte der Staat, den Putin wiederherzustellen versprach, sie vor Arbeitskonflikten und dem Streben der Bevölkerung nach Umverteilung schützen. Für Putin wiederum waren die russischen Kapitalist*innen eine wertvolle Ressource.

Laut Wladislaw Surkow, einem der wichtigsten politischen Agenten des Kremls, ist die Gruppe der russischen Großunternehmer »sehr schmal und sehr wertvoll … In ihren Händen liegen Kapital, Wissen, Technologien… Die Ölmänner sind nicht weniger wichtig als das Öl; der Staat muss aus beiden so viel wie möglich herausholen.«

Für den Kreml war die ökonomische Elite nützlich. Sie garantierte die ökonomische Entwicklung im eigenen Land und stellte die Ressourcen für die Machtausübung im Ausland zur Verfügung. Natürlich gab es einen kleinen Schönheitsfehler: persönliche Bereicherung durch Bestechung und Erpressung.

Wenn es ein Zitat gibt, das den Zustand des russischen Kapitals unter Putin treffend beschreibt, dann ist es eine Passage aus Marx’ »Achtzehntem Brumaire des Louis Bonaparte«: »dass, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr [der Bourgeoisie] abgeschlagen und das Schwert, das sie beschützen solle, zugleich als Damoklesschwert über ihr eignes Haupt gehängt werden müsse.«

Aus Marx’ Analyse im »Achtzehnten Brumaire« können wir schließen, dass ein bonapartistisches Regime zwar den Interessen der Bourgeoisie dienen kann, dass es aber keine Garantie gibt, dass es diese Interessen bei seinen Entscheidungen über alle anderen Erwägungen stellt. Schließlich könnte das Damoklesschwert eines Tages auch gegen die Bourgeoisie zum Einsatz kommen.

Korrupte Staatsmanager

Obwohl sie ihren Einfluss auf die Staatstätigkeit aufgegeben hatten, unterhielten die Eigentümer der größten russischen Unternehmen individuelle informelle Beziehungen zu den höchsten politischen Entscheidungsträgern. Dadurch hatten sie selten Probleme mit dem Staat. Andere Teile der russischen Kapitalist*innenklasse – die kleineren und mittleren Unternehmer*innen vor allem – hatten diese Beziehungen nicht.

Im Prinzip hatte der Kreml nichts gegen diese Unternehmer*innen, auch sie profitierten von der Politik, die die Kapitalist*innenklasse insgesamt begünstigte – nicht zuletzt von einer für sie sehr vorteilhaften Steuerpolitik. Allerdings wurden sie immer wieder Opfer rücksichtsloser Angriffe verschiedener Regierungs- und Sicherheitsorgane. Der Kreml erwies sich in den meisten Fällen als unfähig oder nicht willens, staatliche Akteure in ihrem räuberischen Verhalten zu bremsen.

Deshalb könnte dieser Teil der Kapitalist*innenklasse, der nicht über die politischen Beziehungen der größeren Geschäftsleute verfügt, potenziell von einer Demokratisierung profitieren – insofern sie es ihm erlauben würde, die Macht des bürokratischen und repressiven russischen Staatsapparats zu begrenzen. Dennoch haben sich Unternehmer*innen nur selten auf die Seite der Oppositionsbewegung gestellt. Sie waren nicht bereit, ihre Profite durch politische Abenteuer in Gefahr zu bringen.

Wir können zwei weitere Fraktionen der russischen Kapitalist*innenklasse unterscheiden: die korrupten Staatsmanager und die »Könige der Regierungsaufträge«.

Wir können noch zwei weitere Fraktionen der russischen Kapitalist*innenklasse unterscheiden. Putins Politik der Renationalisierung und der Ausbau des öffentlichen Sektors haben eine Schicht von Staatsmanagern hervorgebracht, die eine der wichtigsten Stützen der Regierung sind und häufig aus dem Sicherheitsapparat kommen. Sie neigten dazu, ihre Positionen zu missbrauchen, etwa zur persönlichen Bereicherung durch Korruption, aber – und das ist wichtig – in Bezug auf die ökonomische Internationalisierung unterschieden sich die größten russischen Staatsunternehmen nicht wesentlich von den größten privaten Unternehmen des Landes. Auch sie bemühten sich aktiv um den Zugang zu Exportmärkten, warben im Ausland Geld ein und gründeten Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen.

Wie ihre »unternehmerischen Gegenstücke« pflegten die korrupten Staatsmanager einen protzigen Lebensstil: Sie kauften Immobilien in Miami, London und Dubai und schickten ihre Kinder auf dieselben europäischen Eliteschulen. Der große Unterschied besteht darin, dass die Staatsmanager noch abhängiger vom Kreml sind als private Geschäftsleute, da sie jederzeit ohne Vorwarnung entlassen werden können.

Schließlich gibt es in Putins Russland noch eine weitere Gruppe von Geschäftsleuten, die man im Weberschen Sinne als politische Kapitalisten bezeichnen könnte, da ihre Haupttätigkeit in der Abwicklung von Staatsaufträgen besteht. Die Mitglieder dieser Gruppe, die vom Wirtschaftsmagazin Forbes als »Die Könige der Regierungsaufträge« bezeichnet werden (jedes Jahr wird eine entsprechende Rangliste veröffentlicht), sind oft Putins engste Mitarbeiter und häufig auch mit einflussreichen Staatsmanagern verbandelt. Ihr Geschäftsmodell ist weniger international ausgerichtet als das der meisten russischen Unternehmen. Um große Regierungsaufträge abzuwickeln, sind jedoch häufig die Dienste technologisch fortschrittlicher ausländischer Lieferanten nötig. Darüber hinaus sind diese politischen Kapitalisten von der »Gesamtgröße des Kuchens« abhängig, der dem Staat zur Verfügung steht, und damit indirekt auch von anderen, global stärker integrierten Industrien.

Russisches Kapital und Weltwirtschaft

In Bezug auf die Weltwirtschaft spielte das russische Kapital gleichzeitig zwei Rollen, was das Paradoxon eines abhängigen, halbperipheren Landes widerspiegelt, das dennoch imperialistisch ist. Als Mitglieder einer »Kompradorenbourgeoisie« haben die größten Unternehmer Russlands natürliche Ressourcen und heimische Märkte ausgebeutet, oft in Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen, während sie ihr Geld auf Offshorekonten und in Luxusimmobilien in den westlichen »Zentren« parkten.

Als Vehikel der »metropolitanen Bourgeoisie« expandierten russische Unternehmen aggressiv in regionale Märkte und stellten Lieferketten aus der Sowjetzeit unter ihrer Kontrolle wieder her. Der Kreml duldete das »Kompradoren«-Element und unterstützte aktiv das »Metropolen«-Element. So brachte er Druckmittel wie den Stopp von Öl- und Gaslieferungen zum Einsatz, um Vermögenswerte in Ländern wie der Ukraine, Moldawien, Georgien und Armenien zu erwerben.

Politische und wirtschaftliche Motive waren dabei oft hoffnungslos miteinander verwoben. In der Ukraine beispielsweise erwarb die staatliche russische Vnesheconombank Ende der 2000er und Anfang der 2010er Jahre mehrere Industrieanlagen im Donbass im Wert von zehn Milliarden US-Dollar. Das Geld der Vnesheconombank wurde sowohl verwendet, um den Zugriff auf Kohle- und Metallfabriken in der Ostukraine zu sichern, als auch, um ukrainische Politiker*innen wie Julia Timoschenko zu finanzieren, in der Hoffnung, so den Einfluss des Kremls auf die inneren Angelegenheiten der Ukraine zu erhöhen.

Insgesamt beinhaltete Putins Vision für den postsowjetischen Raum stets die politische und wirtschaftliche Dominanz Russlands, die durch ein eigenes Integrationsprojekt – die Eurasische Wirtschaftsunion – gefestigt werden sollte.

Bis 2014 handelte Putin im Großen und Ganzen im Interesse der russischen herrschenden Klasse. Dann folgte ein scharfer Bruch.

Die Achillesferse des Kremls bei seinen imperialistischen Ambitionen war, dass es ihm an hegemonialer Strahlkraft mangelte. Putin bevorzugte Hinterzimmerdeals mit den postsowjetischen politischen und wirtschaftlichen Eliten, was ihm oft gelang, insbesondere im Falle seiner Autokratenkollegen in den Nachbarstaaten. Für die Bevölkerung der postsowjetischen Staaten bedeutete Russland jedoch im besten Fall »mehr vom Gleichen« – dieselbe Armut, dieselbe Ungleichheit, derselbe Zynismus, die für den postsowjetischen Raum insgesamt charakteristisch sind.

Im schlechteren Fall handelte es sich um einen autoritären Eingriff in junge Demokratien, legitimiert durch den arroganten Anspruch auf »Einflusssphären« und stets mit der Möglichkeit einer militärischen Intervention im Hintergrund – wie in Georgien 2008. Während der Kreml Forderungen an das »benachbarte Ausland« und an die Vereinigten Staaten als globaler Hegemon stellte, konnte er nie eine positive Vision anbieten. Seine ständigen Rufe nach »Multipolarität« klangen hohl, da sie einzig darauf hinausliefen, den postsowjetischen Raum ohne Einmischung des Westens zu beherrschen.

Der Einmarsch in die Ukraine

So begann auch die jüngste Runde der Konfrontationen zwischen Russland und der Ukraine im Jahr 2013 als Handelskonflikt: Die Ukraine konnte nicht gleichzeitig Teil des Freihandelsabkommens mit Russland und der EU sein. Putins spätere Überlegungen (etwa in seinen Interviews mit Oliver Stone) zeigen, dass er sich sehr bewusst darüber war, was wirtschaftlich auf dem Spiel stand. Was dann geschah, markierte jedoch einen scharfen Bruch zwischen der ökonomischen und der politischen Logik des russischen Imperialismus.

Was auch immer den Kreml bewogen hat, die Krim zu annektieren, es waren keine wirtschaftlichen Motive: Die Frage, die Putin mit seinen Berater*innen erörterte, war nicht, wie viel Russland wirtschaftlich gewinnen würde, sondern, ob es in der Lage sein würde, westlichen Sanktionen in Reaktion auf die Annexion standzuhalten. Dem Nutzen, den Russland aus der Enteignung (öffentlicher und privater) ukrainischer Vermögenswerte auf der Krim zog, standen deutlich größere Kosten durch verlorene oder entwertete russische Vermögenswerte in der übrigen Ukraine gegenüber.

Darüber hinaus führten die Kämpfe im Donbass zwischen 2014 und 2015 zur Zerstörung einiger wichtiger russischer Investitionen. So kostete der Beschuss einer Ölraffinerie in Lisitschansk (Region Luhansk) durch die ukrainische Artillerie den staatlich kontrollierten russischen Ölkonzern Rosneft bis zu 300 Millionen US-Dollar. Noch wichtiger ist, dass die Konfrontation mit dem Westen infolge der Krim-Annexion die Internationalisierung der russischen Wirtschaft insgesamt infrage stellte.

Russische Unternehmen verloren teilweise den Zugang zu westlichen Technologien, zu Export- und Kapitalmärkten. Einige Geschäftsleute wurden mit Sanktionen belegt, während andere unter der ständigen Drohung von Sanktionen und dem Einfrieren ihrer Vermögen lebten. Die Zahl der russischen Milliardär*innen auf der Forbes-Liste stagnierte nach 2014, und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Russland lag zwischen 2014 und 2021 bei durchschnittlich nur einem Prozent. Ich stimme Ischtschenko zu, dass Putin bis 2014 im Großen und Ganzen im kollektiven Interesse der russischen herrschenden Klasse handelte, insbesondere der drei mächtigsten Fraktionen: der größten privaten Unternehmen, der korrupten Staatsmanager und der politischen Kapitalisten (der »Könige der Regierungsaufträge«). Und tatsächlich hatte der Konflikt in der Ukraine wirtschaftliche Wurzeln.

Was auch immer den Kreml bewogen hat, die Krim zu annektieren, es waren keine wirtschaftlichen Motive.

Die Annexion der Krim und die verdeckte Intervention Russlands in der Ostukraine wurden jedoch nicht von einer wirtschaftlichen Logik geleitet, sondern untergruben die Position des russischen Kapitals erheblich. Die Widersprüche des russischen Kapitalismus können diesen Schritt nicht erklären; es lag an etwas anderem. Aus Putins eigenen späteren Verlautbarungen könnte man folgern, dass die Krim-Annexion eine Konsequenz seines tiefen Glaubens an die Unvermeidbarkeit einer totalen Konfrontation mit dem Westen war, in der selbst die fantastischsten Szenarien – etwa eine Bedrohung Russlands durch die Stationierung westlicher Atomwaffen auf der Krim – Realität werden könnten.

Diese Überzeugung lässt sich zum Teil mit den einseitigen Maßnahmen der USA in der vorangegangenen Zeit erklären, wie etwa dem Ausstieg aus dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) im Jahr 2002. Sie ist aber auch darin begründet, dass Putin die Möglichkeit von Volksaufständen und Revolutionen (einschließlich der Maidan-Revolution 2013–2014) strikt verneint. Er betrachtete sie als vom Westen orchestrierte Staatsstreiche gegen Russland (mit dem Ziel, einen solchen Staatsstreich in Russland selbst herbeizuführen).

Putins Handlungen wurden zudem von der tiefen Furcht vor Mobilisierungen der Bevölkerung angetrieben. Seine Unfähigkeit, die Existenz von Macht im Arendt’schen Sinne, das heißt von kollektiver sozialer Macht, zu begreifen, führte ihn letztlich dazu, auf Gewalt zu setzen: Repression im Inland, militärische Aggression im Ausland.

Mit dieser strategischen Orientierung stand Putin gewiss nicht allein da – ein großer Teil des russischen Sicherheitsapparats teilte sie. Von Angst und Misstrauen getrieben, verfolgte der Kreml das, was der Professor für Internationale Beziehungen, Jack Snyder, als »Mythen des Imperiums« bezeichnet: eine strategische Ausrichtung, nach der ein guter Angriff die beste Verteidigung ist. Diese Logik veranlasste den Kreml, sein eigenes (im Budapester Memorandum von 1994 verankertes) Versprechen zu brechen, die nationalen Grenzen der Ukraine zu respektieren und einen Teil des ukrainischen Territoriums zu annektieren.

Putins Entscheidung für eine umfassende Invasion in der Ukraine im Februar 2022 beruht auf der Erkenntnis, dass die Politik der hybriden Aggression gegenüber der Ukraine in der vorherigen Periode gescheitert ist. Die Annexion der Krim und die Besetzung des Donbass durch vom Kreml kontrollierte Kräfte haben die Ukraine nicht ausreichend destabilisiert, um sie von einem klar prowestlichen und antirussischen Kurs abzubringen.

Mythen des Imperiums

Als Volodymyr Selenskyj die Minsker Vereinbarungen nicht in der vom Kreml gewünschten Weise umsetzte und drei Fernsehsender schloss, die vom Geschäftsmann und Politiker Viktor Medwedtschuk, einem Putin-Vertrauten, kontrolliert wurden, wurde Putin klar, dass er seine Veto-Macht in ukrainischen Angelegenheiten verloren hatte. Daraufhin versuchte er, den Westen zu überreden, die Ukraine unter Druck zu setzen, damit sie seine Forderungen akzeptiert. Als das auch nicht funktionierte, entschied er sich für die Invasion.

Die »Mythen des Imperiums« scheiterten 2014–2022 kläglich. Doch anstatt sie aufzugeben, setzte der Kreml erneut auf präventive Aggression. Es überrascht nicht, dass sie abermals scheiterte, diesmal jedoch mit noch tragischeren Folgen.

In Russland ist die Diskrepanz zwischen den ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse und der militärischen Aggression in der Ideologie und der strategischen Orientierung des Sicherheitsapparats begründet.

Marxistische Imperialismustheorien betonen den Prozess der Kapitalakkumulation und die Interessen der herrschenden Klasse oder zumindest einiger ihrer Fraktionen. Der russische Imperialismus seit 2014 lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres auf diese Weise erklären. Russlands militärische Aggression in der Ukraine seit 2014 hat zu einem erheblichen Verlust von Kapital, Exportmärkten und Auslandsinvestitionen geführt, die Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit transnationalen Konzernen drastisch eingeschränkt und persönliche Sanktionen gegen prominente Vertreter*innen des russischen Kapitals nach sich gezogen.

Die Gewinne aus der Monopolisierung des heimischen Marktes durch russische Konzerne und der Ausplünderung der besetzten Gebiete gleichen diese Verluste nicht annähernd aus. Die Diskrepanz zwischen den ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse und militärischer Aggression ist nicht nur in Russland zu beobachten: David Harvey hat sie in den Blick genommen, als er die dynamische Interaktion zwischen »kapitalistischer Logik« und »territorialer Logik« in verschiedenen historischen und aktuellen Beispielen des Imperialismus untersuchte, Michael Mann hat sie in Bezug auf die Vereinigten Staaten als »inkohärentes Imperium« beschrieben.

In Russland ist die Diskrepanz zwischen den ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse und der militärischen Aggression in der Ideologie und der strategischen Orientierung des Sicherheitsapparats begründet. Es ist noch einiges an Arbeit notwendig, um die einzelnen Cliquen und Koalitionen innerhalb der russischen Elite zu identifizieren, die Putins kriegerische Impulse unterstützten und förderten; eine weitere Aufgabe wäre es, die Rolle des irredentistischen großrussischen Nationalismus zu verstehen. Die Versuche, einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen den Widersprüchen der Kapitalakkumulation und der militärischen Aggression Russlands herzustellen, sollten jedoch aufgegeben werden, denn sie vernebeln die wahren Ursachen des schrecklichen Krieges in der Ukraine.

Ilya Matveev

forscht mit Schwerpunkt auf russischer und vergleichender politischer Ökonomie. Er schreibt für diverse linke Medien und gehört zu den Gründer*innen des russischen linken Exilmagazins Posle: posle.media.

Der Beitrag erschien zuerst auf Englisch im Dossier des Almeda-Instituts zum Krieg in der Ukraine und der Frage des Internationalismus. Das Almeda-Institute fördert kollektive internationale Forschung, die in sozialen Kämpfen verankert ist. Der Beitrag von Volodymyr Ischtschenko, auf den dieser Text antwortet, ist ebenfalls im Dossier enthalten. Übersetzung: Jan Ole Arps.

Anmerkungen:

1) Erschienen im Herbst 2022 bei Jacobin; eine deutsche Version erschien auf jacobin.de.

2) Arbitragegeschäfte: Ausnutzung von Kurs-, Zins- oder Preisunterschieden zum selben Zeitpunkt an verschiedenen Orten zum Zwecke der Gewinnmitnahme.

3) Von loans for shares scheme (Kredite gegen Aktien) wird in Bezug auf die Privatisierung russischer Staatsunternehmen 1995 unter Boris Jelzin gesprochen. Dabei liehen Geschäftsbanken, meist im Besitz von Oligarchen, dem klammen Staat Geld, der diese Kredite durch staatliche Beteiligung an großen Unternehmen absicherte. Bei der Versteigerung der Anteile erstanden die – zuvor handverlesenen – Bieter, allesamt Oligarchen und Bankiers, die zwölf größten und profitabelsten russischen Staatsunternehmen zu Spottpreisen.

4) Als Kompradorenklasse oder Kompradorenbourgeoisie wird eine lokale herrschende Klasse oder Gruppe beschrieben, die den Ausverkauf der Reichtümer eines Landes an ausländische Kapitalist*innen organisiert. Die Kompradorenklasse sind die einheimischen Profiteure und Handlanger imperialistischer oder kolonialistischer Ausbeutung.

5) Bonapartismus bezeichnet eine autoritäre Herrschaftsform, in der die Bourgeoisie auf politische (nicht aber auf ökonomische) Macht verzichtet, die stattdessen ein autokratischer Führer ausübt, der sich seinerseits auf seine Popularität in den unteren Klassen und Schichten stützt. Weitere Kennzeichen sind eine Pattsituation zwischen den Klassen und eine starke Exekutive. Es gibt eine breite marxistische Diskussion darüber, welche historischen und aktuellen politischen Figuren als bonapartistisch gelten können und wo die Grenze zum Faschismus verläuft. Siehe »Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen« (Karl Dietz Verlag 2018).

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