Geflüchtete auf Dauer
Fast 50 Jahre nach der Besetzung Westsaharas leben viele Sahrauis weiterhin in Camps – und organisieren sich politisch

Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource – diese traurige Realität kennen die Sahrauis nur allzu gut. Seit bald 50 Jahren lebt die Bevölkerung der Westsahara unter marokkanischer Besatzung oder in Geflüchteten-Camps im algerischen Exil und ist Menschenrechtsverletzungen und prekären Lebensverhältnissen ausgesetzt. Dass der Westsahara-Konflikt nicht die gleiche diplomatische Dringlichkeit und mediale Sichtbarkeit wie andere »Krisenherde« generieren kann, liegt ein Stück weit auch an der Resilienz und Organisationsfähigkeit, mit der die Sahrauis der militärischen Besatzung begegnen und seit Jahrzehnten die selbstverwalteten Camps führen.
Neokolonialer Nachbar
Obwohl Spanien 1975 seine kolonialen Besitzansprüche auf Westsahara aufgab, ist das Land weiterhin besetzt. Das Gebiet im Westen der Sahara, das sich gut 800 Kilometer südlich von Marokko am Atlantischen Ozean entlang erstreckt, wurde nach dem Rückzug der Kolonialmacht vom nördlichen Nachbarn Marokko annektiert. Im November 1975 beteiligten sich Hunderttausende marokkanische Zivilist*innen und Soldaten am harmlos klingenden »grünen Marsch« und besetzten Westsahara.
Dabei verstieß Marokko schon damals gegen das Völkerrecht: Bereits in den 1960er Jahren forderte die UN-Generalversammlung die Dekolonialisierung und pochte auf das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis; noch wenige Monate vor der Invasion wies der Internationale Gerichtshof die territorialen Ansprüche Marokkos und Mauretaniens auf Westsahara ausdrücklich zurück. Diese juristische Einschätzung und das Anrecht auf Selbstbestimmung wurden in den letzten Jahrzehnten durch weitere Urteile bestätigt und sind entsprechend unumstritten.
Trotzdem schreckt Marokko nicht davor zurück, seine Interessen militärisch durchzusetzen. Mit der Invasion 1976 begann das Land einen Krieg gegen die Befreiungsfront Frente Polisario. Die ursprünglich marxistische Organisation kämpft politisch und militärisch für die Unabhängigkeit Westsaharas. 15 Jahre lang führte Marokko mit ungleichen Mitteln Krieg und versuchte so, den Gebietsanspruch durchzusetzen.
Mit einem Waffenstillstandsabkommen 1991 wurde der Krieg vorerst beigelegt, an dessen Ende aber Realitäten geschaffen worden waren: Zehntausende Sahrauis waren vor Bombardierung und Folter ins benachbarte Algerien geflüchtet und bauten kurz hinter der Grenze im südwestlichsten Zipfel des Landes mehrere Camps auf, die bis heute bestehen. Marokko errichtete die mit 2.700 Kilometern damals längste Grenzmauer der Welt , die bis heute das besetzte und ressourcenreiche Gebiet im Westen des Landes von einer schmalen, von der Frente Polisario verwalteten »befreiten Zone« trennt.
Seit dem Waffenstillstandsabkommen 1991 hat es keine signifikanten Schritte in Richtung Unabhängigkeit gegeben. Die im Abkommen vereinbarte Durchführung eines Referendums über die Unabhängigkeit verhindert Marokko weiterhin und unterhält mit rund 250.000 Militärs und Sicherheitskräften ein hochgerüstetes Besatzungsregime. Immer wieder gibt es Berichte über Misshandlungen und Folter in den besetzten Gebieten und Drohnentötungen entlang des Grenzwalls. Seit 2010 hält Marokko zudem Dutzende Sahrauis gefangen, die an einem Protest-Camp im besetzten Ort Gdeim Izik beteiligt waren.
Die Frente Polisario kündigte 2020 wegen der anhaltenden militärischen Aggression und dem fehlenden Entgegenkommen Marokkos das Waffenstillstandsabkommen auf, hat aber weder militärisch noch politisch Aussicht auf größere Erfolge. Denn: Marokko wird von einflussreichen westlichen Partnern unterstützt. Die marokkanische Armee kann auf Waffensysteme aus den USA, Frankreich und Deutschland zurückgreifen und erhält zunehmend auch mehr politischen Beistand. So schlug sich Spanien 2022 im Tausch für Migrationsvereinbarungen auf die Seite Marokkos; auch Frankreich, die Trump-Administration und seit Juni 2025 die britische Regierung unterstützen mittlerweile die Annexionspläne Marokkos. Anders als die derzeit 46 überwiegend afrikanischen und mittel- und südamerikanischen Länder, die die Eigenständigkeit der Westsahara anerkennen, unterstützen die westlichen Mächte aus eigenen wirtschaftlichen und migrationspolitischen Interessen ein neokoloniales Besatzungsregime.
Trotzdem machen
Der andauernden Besatzung und politischen Perspektivlosigkeit zum Trotz haben auch die Sahrauis Fakten geschaffen. »Wir haben ein System entwickelt, damit wir schon wissen, wie ein Staat funktioniert, wenn unsere Gebiete befreit sind«, erklärt uns Ezza Bobbih, die Bürgermeisterin des Geflüchteten-Camps Smara. Tatsächlich rief die Frente Polisario bereits 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (kurz DARS) aus, einen Staat, der neben den befreiten Gebieten in der Westsahara auch die Geflüchteten-Camps in Algerien regiert. Die DARS verfügt über ein an repräsentativen Demokratien orientiertes parlamentarisches System mit Wahlen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, einem legislativen Parlament, Ministerien und Gerichten. Die Gewählten gehören allerdings nur einer Partei an, der Frente Polisario, deren Strukturen eng mit dem Staat verwoben sind. Der Strukturaufbau folgt einer schlüssigen Strategie: Er dient der Organisation des andauernden Unabhängigkeitskampfes, dem Ringen um Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft und der Vorbereitung auf den Tag der Wiederaneignung der besetzten Gebiete.
Die eigene Struktur der Sahrauis umfasst jedoch nicht nur die politischen Organe, sondern die gesamte gesellschaftliche, militärische, aber auch humanitäre Organisation. Die rund 200.000 Menschen, die in den fünf Camps in Süd-Algerien leben, werden nahezu vollständig durch humanitäre Hilfe versorgt. Die Koordination der Hilfsgüterverteilung übernimmt der eigene sahrauische Rote Halbmond. »Wir sind die einzigen selbstorganisierten Flüchtlingscamps der Welt«, berichtet uns dessen Präsident Bouhbeni Yahya stolz. Dabei muss die Organisation mit konstant herausfordernden Bedingungen umgehen. Die Wüste macht die Selbstversorgung mit Lebensmitteln trotz einiger Gartenbau-Projekte in der Breite unmöglich und damit für Schwankungen bei den Hilfslieferungen anfällig. Im April waren die angekündigten Lieferungen der internationalen Geber für Juni und Juli 2025 so gering, dass präventiv mit einer Rationierung angefangen werden musste. Mit Sorge beobachtet der Rote Halbmond die zunehmende Verschiebung der politischen Prioritäten in Europa und den USA hin zu höheren Rüstungsausgaben, was die humanitäre Hilfe zusätzlich unter Druck setzt.
Alle haben den gleichen Anspruch auf Hilfslieferungen, Wohnraum und Schulbildung.
Gesellschaftlich lassen sich in den Geflüchteten-Camps Strukturen erkennen, die an die sozialistischen Ursprünge der Frente Polisario erinnern. Mehrfach hören wir, dass ideologische Fragen derzeit dem Kampf um Unabhängigkeit untergeordnet sind. Trotzdem wird immer wieder die Bedeutung von praktischer Solidarität betont. Alle Menschen haben den gleichen Anspruch auf Hilfslieferungen und Wohnraum; die Schulbildung ist für alle Kinder gewährleistet. Immer wieder wird die Gleichberechtigung von Männern und Frauen hervorgehoben, auch wenn einige tradierte religiöse Normen und die klassische Verteilung von Care-Arbeit bestehen bleiben. Nachbarschaftliche Netzwerke spielen – neben Strukturen wie Frauen- und Jugendverbänden – eine wichtige Rolle. Sie sind Orte der kollektiven Verantwortungsübernahme, aber auch der politischen Organisierung.
Vielleicht ist es auch dieses politische Selbstverständnis, was im Wartezustand Kraft spendet. Das Alltagsleben in den Camps mitten in der Wüste ist geprägt von viel Zeit, die sich nur begrenzt füllen lässt. Es wächst bereits eine zweite und dritte Generation heran, die nur dieses Leben kennt. Während einige migrieren, bleiben viele vor Ort oder kehren immer wieder zurück und bezeichnen sich bewusst als Flüchtlinge, um den Anspruch auf die Rückkehr in die eigene Heimat aufrechtzuerhalten. Sie erziehen ihre Kinder zum Streben nach Unabhängigkeit und Rückkehr in die besetzten Gebiete, organisieren in den Camps politische Kundgebungen und von dort ausgehend internationale Kampagnen wie die zur Freilassung der politischen Gefangenen aus marokkanischen Gefängnissen, an denen sich unter anderem Protestierende in Frankreich und Spanien beteiligten. Es sind gerade diese politischen Forderungen, für die sich die Menschen in den Camps mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung wünschen.