analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 692 | Soziale Kämpfe

Ein Stück Arbeitskampf­geschichte

Seit zehn Jahren wehren sich Beschäftigte bei Amazon gegen ihren Arbeitgeber – entschlossen, solidarisch und international bestens vernetzt

Von Sabrina Apicella

Eine Gruppe Menschen in Warnwesten und mit verdi-Fahnen, zwei Transparente sind zu sehen, auf einem steht "pro amazon mit Tarifvertrag" und auf dem anderen "Wir streiken"
Irgendwann war überall das erste mal Streik: Bei Amazon in Rheinberg war das im Juni 2014. Gestreikt wurde auch im September 2015 (im Bild), im Dezember 2017 und im März 2021. Foto: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen/Flickr, CC BY-SA 2.0

Bad Hersfeld und Leipzig im Mai 2013: Von hier gingen die Bilder von Streikenden vor den riesigen grauen Amazon-Distributionshallen durch die Medien. Es waren die ersten Streikaktivitäten in der Unternehmensgeschichte von Amazon überhaupt, getragen von Beschäftigten an den beiden Standorten und ihrer Gewerkschaft ver.di. Zehn Jahre später ist das Unternehmen nicht mehr dasselbe und der Konflikt noch immer nicht befriedet. An zahlreichen deutschen sowie international verstreuten Standorten protestieren die Beschäftigten heute regelmäßig gegen das Unternehmen. Was bedeuten die Jahre des intensiven Arbeitskampfes bei Amazon für die Linke? Ein Blick zurück und nach vorn.

Seit der Gründung 1994 ist Amazon vom Online-Buchhändler zum globalen Player herangewachsen. Heute ist der Versandgigant aus dem Alltag vieler Menschen nicht wegzudenken. Mit über 1,5 Millionen Beschäftigten weltweit, einem Jahresumsatz von über 513 Milliarden US-Dollar und einem Marktwert von 962 Milliarden US-Dollar (2022) gehört es zu den wertvollsten, größten und umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Die Coronapandemie verlieh Amazon nochmals einen Wachstumsschub und bescherte dem Versandriesen Rekordgewinne.

Verräumen, verpacken, verschicken

Seinem Ziel »Allesverkäufer« zu werden, ist Amazon in den vergangenen drei Jahrzehnten immer nähergekommen. Wettbewerber im Einzelhandel werden erfolgreich verdrängt – davon zeugen aktuell die Schließungen von Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen in Deutschland oder der Kollaps des Buchhandels in den USA. Und Amazon wächst weiter über sein Kerngeschäft, den Versandhandel, hinaus: So bietet das Unternehmen die Nutzung seiner Logistik und Software, Arbeits- und Speicherplatz in einer eigenen Amazon-Cloud sowie Film- und Serien-Streaming bis hin zu Exkursionen ins Weltall an.

Der Erfolg des Unternehmens beruht in weiten Teilen darauf, diejenigen Teile der klassischen Verkaufsarbeit im Einzelhandel, die kommunikativ und interaktiv sind und damit schwerer zu kontrollieren, abzutrennen und auf die Onlineplattform zu verlagern. Die übrigen Tätigkeiten, wie das Verräumen, Verpacken und Verschicken von Ware wurden in die gigantischen Versandzentren verlegt, die als rein logistische Orte keinerlei Kontakt zu Kund*innen voraussetzen. Hier wird routinierte Einfacharbeit verrichtet, die repetitiv, körperlich anstrengend und verdichtet ist.

So wird durch die »digitale Taylorisierung« der Arbeitsprozess immer weiter zergliedert und die einzelnen Schritte besser überwachbar. Teile dieses Prozesses wie das »Picken«, also das Scannen und herausnehmen der Waren aus dem Regal, hat Amazon mancherorts mittlerweile vollständig roboterisiert. Diese Dequalifizierung der menschlichen Arbeit, die auf einfachste Tätigkeiten heruntergebrochen wurde, erlaubt zudem den extensiven Einsatz von befristeten und saisonalen Arbeiter*innen, da sie in nur wenigen Stunden eingearbeitet werden müssen. Sie hat aber auch zu einer Diversifizierung der Belegschaften geführt, da Amazon Menschen, egal welches Alters, welches Geschlechts, oder welcher Muttersprache einstellt: Hauptsache, sie machen ihren Job.

Diese Belegschaften stehen einem Management gegenüber, das einen extrem leistungsbetonten, paternalistischen und hierarchisch-autoritären Führungsstil pflegt. Entsprechend ablehnend agiert das Unternehmen auch gegenüber Gewerkschaften. Mitbestimmungsstrukturen im Betrieb sind wenig ausgeprägt und wenig demokratisch. »Union busting«, also die systematische Behinderung von Gewerkschaftsarbeit durch Einschüchterungsstrategien oder gezieltes Mobbing von Aktiven, ist in vielen Verteilzentren an der Tagesordnung. Und Amazon orientiert sich an niedrigen Löhnen oder (in Ländern wie Italien, wo es hierzu gesetzlich verpflichtet ist) an den niedrigsten Tarifverträgen.

Den Countdown-Button abgeschafft

Dieses »Prinzip Amazon« sorgte in den vergangenen drei Jahrzehnten für immer mehr Widerstand. Für die Vehemenz und Entschlossenheit, mit der die aktivistischen Kolleg*innen seit Jahren in den Konflikt mit dem Arbeitgeber gehen, verdienen sie großen Respekt. Gerade weil es dem Konzern immer noch gelingt, Teile der Belegschaften in einem »Pro-Amazon-Lager« zu halten und weil ihnen durch die gewerkschaftlichen Aktivitäten erhebliche Nachteile bis hin zu Kündigungen, entstehen können. Dennoch ist es gelungen, Missstände wie der fehlende Tarifvertrag, fehlende Mitbestimmung, Strategien des Union Bustings oder auch die minutiöse Überwachung von Arbeiter*innen öffentlich zu machen. Und es wurden erhebliche Erfolge erzielt: So haben sich die Löhne seit Beginn der Streiks dem Tarifniveau im Einzel- und Versandhandel immer weiter angenähert. An allen größeren Standorten wurden Betriebsräte eingerichtet. Pausenprotokolle und der Countdown-Button auf den Handscannern wurden abgeschafft.

Seit Beginn der Streiks haben sich die Löhne bei Amazon dem Tarifniveau im Einzel- und Versandhandel immer weiter angenähert.

Die Journalistin Nina Scholz sieht die Amazon-Streiks als Vorbild für moderne gewerkschaftliche Organisierung und internationale Solidarität. Zu Recht, denn hier haben Gewerkschaften auf die Initiative der Beschäftigten hin mit intensiver Organisierungsarbeit reagiert. Aktive aus den jeweiligen Amazon-Standorten beraten sich zudem regelmäßig gemeinsam mit engagierten Gewerkschaftsfunktionär*innen und Unterstützer*innen auf Netzwerktreffen, planen hier weitere Aktionen und fordern die Unterstützung der Gewerkschaft dafür aktiv ein. In Kassel, Leipzig oder Hamburg haben sich außerdem Solibündnisse gegründet.

Gelebte Solidarität und Vernetzung gibt es zudem schon lange auch international. Allerdings nicht ohne Hindernisse: Allein Europa ist ein Flickenteppich von extrem auseinanderdriftenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Amazon für sich zu nutzen weiß. Einheitliche Lohnforderungen werden dadurch verhindert; auch das Arbeits- und Streikrecht unterscheidet sich je nach Standort meist fundamental. Dennoch sind mehrere internationale, vorrangig europäische Netzwerke entstanden, etwa beim Dachverband Uni Global Union oder Amazon Workers International, in denen Amazon-Aktive aus unterschiedlichen Ländern gemeinsam mit Gewerkschaftsfunktionär*innen, unabhängigen Basisgewerkschaften oder linken Aktivist*innen organisiert sind, sich austauschen und gegenseitig unterstützen.

Hier gelang es in den vergangenen Jahren, auch grenzüberschreitend Aktionen zu koordinieren, die eine wichtige Grundlage für den Erfolg der Arbeitskämpfe bei Amazon darstellen. So hatte das Unternehmen schon kurz nach den ersten Streiks in Bad Hersfeld und Leipzig mehrere polnische und einen tschechischen Standort in Nähe zur deutschen Grenze eröffnet und die Beschäftigten so in Konkurrenz zueinander gesetzt. Allerdings mit wenig Erfolg, denn die Belegschaften begannen sich bald zu vernetzen und gegenseitig zu unterstützen. So kam es Ende Juni 2015 zu einem solidarischen Bummelstreik von Amazon-Beschäftigten in Poznań, die so verhinderten, dass Bestellungen, die an bestreikten Standorten nicht bearbeitet wurden, nach Poznań verlagert werden konnten. Der »Black Friday«, mit dem das Unternehmen das Weihnachtsgeschäft einläutet, hat sich mittlerweile als internationaler Streiktag etabliert. Unter dem Slogan »Make Amazon Pay« protestierten Amazon-Arbeiter*innen auch im vergangenen Dezember an etlichen Standorten weltweit gemeinsam mit Gewerkschaften, politische Gruppen, NGOs und Wissenschaftler*innen gegen die Arbeitsbedingungen bei dem Versandriesen.

Besonders beachtlich war der italienische Arbeitskampf im Jahr 2021, bei dem italienweit Amazon-Arbeiter*innen streikten, von den Distributionszentren bis hin zu den Lieferant*innen. Ihnen gelang damit ein bislang einmaliger Erfolg: einen gültigen Tarifvertrag für alle Amazon-Beschäftigten in Italien zu erstreiten. Zudem weiteten sich Streiks zuletzt auch auf Länder aus, auf denen schon länger große Hoffnungen ruhten wie die USA, die Türkei oder zuletzt Großbritannien.

Rote Rosen und ein langer Atem

Über zehn Jahre hinweg haben die Kolleg*innen an den deutschen Amazon-Standorten sich organisiert, gestreikt, immer wieder von vorne begonnen, wenn neue Standorte eröffnet wurden, sich bundesweit und international vernetzt und solidarisch gezeigt – das ist sicher einmalig in der bundesdeutschen Streikgeschichte. Es inspiriert zu Widerspruch und Selbstbewusstsein, weit über Amazon hinaus. Den Streikenden ist deshalb zum zehnjährigen Jubiläum anhaltende Ausdauer, Schlagkraft, Visionen und Kreativität in der Auseinandersetzung zu wünschen. Sicher ist: Solange Amazon keinen international gültigen, umfassenden Kompromiss anbietet und sich der Arbeitsprozess nicht ändert, wird die Streikbereitschaft bleiben.

Es überrascht vor diesem Hintergrund, wie wenig sich die deutsche Linke mit Amazon befasst. Sicherlich prallen hier allein angesichts der Dauer und der globalen Skala der Auseinandersetzung Welten aufeinander, da viele linke Strukturen eher kurzlebige Kampagnen auf begrenztem Raum bespielen. Dennoch sind Solistrukturen nach wie vor gefragt, um lokale Auseinandersetzungen zu begleiten, gewerkschaftliche Anliegen zu unterstützen und dabei in engem Austausch auch eigene Akzente zu setzen. Sie können etwa Prozesse begleiten – drei Betriebsräte aus Niedersachsen befinden sich aktuell in gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Amazon –, aber auch ihre Erfahrungen in Sachen Protestformen einbringen wie Straßenblockaden, Demonstrationen oder symbolische Aktionen, bei der Ansprache migrantischer Saisonarbeiter*innen unterstützen oder eine begleitende kritisch-solidarische Berichterstattung und Forschung leisten. Auch die Bereitstellung von Infrastrukturen und Ressourcen für internationale Treffen und Diskussionen ist hilfreich.

Sich mit den Amazon-Streiks zu befassen scheint aber auch deshalb geboten, weil ein gigantischer Reorganisierungsprozess im Handel, eine prägende Branche des zeitgenössischen Kapitalismus, längst in vollem Gange ist. In den USA werden diese Debatten von links auch mit Themen wie Degrowth, Commons oder Klimagerechtigkeit verbunden; hier bietet sich die Chance zu einer politischen Intervention, die über die Frage der Arbeitsbedingungen bei einem global agierenden Unternehmen hinausreicht. Es wäre eine Möglichkeit, die Frage zu bearbeiten, wie wir zukünftig, weit über die eigenen Staatengrenzen hinaus, arbeiten und leben wollen, ohne Leistungsdruck, digitale Überwachung und krankmachende Arbeit.

Sabrina Apicella

ist Aktivistin und Sozialwissenschaftlerin. Die Autorin des Buches »Das Prinzip Amazon« forscht seit 2013 zu den Arbeitskämpfen in dem Unternehmen.

 

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.