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|Thema in ak 699: Alternativgeschichte(n) & vergessene Utopien

»Vielleicht ist es ein Kibbuz«

Tomer Dotan-Dreyfus über die alternative Realität einer jüdisch-sozialistischen Gemeinschaft in seinem Roman »Birobidschan« und das historische Projekt einer Jüdischen Autonomen Oblast in der UdSSR

Interview: Nelli Tügel

Abstrakte Illustration aus verschiedenen Formen (Kreise, Halbkreise, Stäbe) und verschiedenen Farben (Grün, rosa, weiß, schwarz).
Illustration: Donata Kindesperk

Birobidschan liegt im Südosten Russlands, dort erscheint eine der ältesten noch existierenden jiddischsprachigen Zeitungen der Welt, der Schtern. Im Roman des Schriftstellers Tomer Dotan-Dreyfus kommt der Schtern auch vor – aber »Birobidschan« ist dennoch die Geschichte einer alternativen Realität. Dort, in einer kleinen jüdisch-sozialistischen Gemeinschaft, tauchen eines Tages zwei Fremde auf, und es kommt zu mysteriösen Todesfällen. Inwiefern in dieser Geschichte Utopisches eine Rolle spielt und was der Roman mit unserer Gegenwart zu tun hat, erklärt Dotan-Dreyfus im Interview. 

In »Birobidschan« geht es um einen Ort, den es wirklich gibt, wenn auch nicht so, wie in deinem Roman. Was hat es mit dem echten Birobidschan auf sich? 

Tomer Dotan-Dreyfus: Birobidschan war ein Experiment der Sowjetunion unter Stalin, der dort eine jüdisch-sozialistische Autonomie kreieren wollte. Wahrscheinlich vor allem mit dem Ziel, die Juden aus Moskau und St. Petersburg loszuwerden. Es war nicht sehr durchdacht: Juden aus den Großstädten wurden überredet, nach Birobidschan zu gehen – für Stalin eher untypisch, dass es nicht erzwungen wurde –, dieser Ort in Sibirien ist aber extrem ländlich, es gab da vorher praktisch nichts. Auf einmal mussten Menschen aus den Großstädten Landwirtschaft betreiben. Es war also schwierig, dort neu anzufangen. Das echte Birobidschan war überhaupt keine Utopie, sondern eine sehr kalte Dystopie. 

Es gab nur eine Straße und einen Bahnhof, eine Station der Transsibirischen Eisenbahn, wahrscheinlich weil eineinhalb Stunden entfernt die Grenze zu China ist. Aber es gab keinen Ort bis zu diesem Versuch. 1928 wurde Birobidschan dann zu einer jüdischen Ortschaft, 1934 zu einer Kleinstadt und 1937 zu einer Stadt erklärt. 

Die Autonome Jüdische Oblast gibt es noch heute, oder? 

De jure, ja. Und Jiddisch ist nach wie vor die Amtssprache. Ich war nicht dort – meine Recherche habe ich nicht zum echten Birobidschan gemacht, sondern zu etwas anderem, das vielleicht auch mit Utopie zusammenhängt, nämlich zur osteuropäischen jiddischen Erzähltradition. Doch soweit ich weiß, gibt es noch Juden in Birobidschan. Aber sie sind dort heute eine kleine Minderheit. In dem Sinne ist das Experiment jüdisches autonomes Gebiet gescheitert. 

Tomer Dotan-Dreyfus

wurde 1987 in Haifa geboren und lebt heute in Berlin. Er ist freier Autor, Lyriker und Übersetzer. Sein Debütroman »Birobidschan« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Foto: Shai Levy 

Hatte die Sowjetunion mit dem Experiment eine Konkurrenz zur zionistischen Bewegung im Sinn?

Sicherlich hat der Zionismus Stalin gestört. Insofern vermute ich es, aber ich weiß es nicht sicher. Man muss dazu sagen: Es gab damals viele solcher Versuche und Ideen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Zionismus eine Bewegung unter vielen in der jüdischen politischen Welt, die sehr, sehr divers war. Es gibt zum Beispiel im Birobidschan des Romans die Jugendbewegung »Tsukunft«. Die echte »Tsukunft« war die Jugendbewegung der Bundisten, einer damals starken antizionistischen Bewegung. Antizionismus vor 100 Jahren war etwas anderes als Antizionismus heute. Es war eine durchaus legitime Haltung hauptsächlich innerhalb der jüdischen Welt. Außerhalb der jüdischen Welt war es vielen egal, was die Juden machten, anders als heute. Die Bundisten vertraten die Idee von Doykheit. Doy ist »da« auf Jiddisch, und Doykheit bedeutete: Unsere Heimat ist dort, wo wir sind, und Antisemitismus soll dort bekämpft werden, wo er auftaucht, und nicht dadurch, dass wir woanders hingehen. Diese Ideologie wurde durch den Zweiten Weltkrieg zerstört. Wenn ich aber an die Welt vor 100, 120 Jahren denke, dann finde ich sie faszinierend. Doch waren die Bundisten, wie gesagt, eine Bewegung unter vielen.

Es gab vor der Gründung Israels auch noch einige andere Ideen, wie eine jüdische Autonomie kreiert werden könnte. Zum Beispiel den Ararat Plan auf einer Insel in Upstate New York. Oder den Kimberley-Plan: Die Idee, in Nordwestaustralien eine jüdische Autonomie zu begründen; eine Delegation war damals vor Ort und prüfte diese Option. Also: Es gab mehrere Möglichkeiten, und Birobidschan war eine davon. Das bedeutet: Auch wenn es von Stalin nicht als Opposition zum Zionismus gedacht gewesen sein sollte, war es das faktisch. 

Der jüdisch-russische Revolutionär Leo Trotzki, der in den 1930er Jahren den Holocaust erahnt und davor gewarnt hatte, hat 1938 Birobidschan als »eine bürokratische Farce« bezeichnet. Hatte er Recht? 

Wenn Trotzki Bürokratie sagte, meinte er: Parteibeamte regierten die Sowjetunion anstatt der Arbeiter. Und ja, so wird es auch in Birobidschan gewesen sein. Die Tragödie von Birobidschan sah man auch später, während des Großen Terrors: Viele seiner Bewohner wurden ermordet. Insofern kann man sagen: Die Partei, die Parteiorgane waren wichtiger als das Experiment und die Menschen, die dort gelebt haben. Er hatte wohl recht. 

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Das Birobidschan in deinem Roman ist alles andere als eine bürokratische Farce, es ist ein magischer, aus der Zeit gefallener Ort, an dem ungewöhnliche Dinge geschehen, die vielleicht übernatürlich sind. Aber das wohl Magischste ist, dass die Menschen dort eine kleine, funktionierende jüdisch-sozialistische Gemeinschaft leben und diese sogar erhalten können, nachdem die Sowjetunion verschwunden ist. Welche Sehnsucht, welche Wünsche stecken in dieser alternativen Realität?

»Birobidschan« ist auch ein Labor, in dem der Erzähler vieles ausprobiert. Zum Beispiel: Wie sieht eine jüdische Gemeinschaft aus ohne Antisemitismus? Das wurde teilweise kritisiert: dass es in meinem Roman keinen Antisemitismus gibt. Für mich ist genau das aber faszinierend. Die Gemeinde in dem Buch ist davon nicht geprägt, und deshalb muss man sich irgendwann im Laufe des Romans fragen: Was macht diese Gemeinschaft eigentlich jüdisch?

Dazu muss man wissen, dass die Gemeinschaft aus »Birobidschan« säkular ist. Aber es gibt in der Geschichte eine Abspaltung von Birobidschaner*innen, die religiös leben wollen und daher ihr eigenes Dorf nebenan gegründet haben …  

Genau. Und wenn die Religion keine Rolle spielt, weil alle säkulare, sozialistische Juden sind und es auch keinen Antisemitismus gibt, der diese Gemeinschaft prägt, was macht sie dann aus? Das ist, finde ich, ein durchaus gefährliches Gedankenexperiment. Antisemitismus ist ein Teil jüdischer Identität. Wir sind davon geprägt. In der Kritik an der Abwesenheit von Antisemitismus in meinem Roman habe ich daher auch so etwas wie Angst gelesen, vor dem Tag, an dem es endlich keinen Antisemitismus mehr geben wird, denn: Was wird uns dann zu Juden machen? Was unterscheidet uns dann von der Mehrheitsgesellschaft? Vielleicht gelingt es den Birobidschaner*innen im Buch, jüdisch zu bleiben, weil sie so weit weg sind von allem und weil sie keine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft sind; sie sind im wahrsten Sinne des Wortes hinter den Bergen, in Sibirien, und können dort eine jüdische Säkularität leben. Was auch immer das bedeutet. 

»Birobidschan« ist auch ein Labor, in dem der Erzähler vieles ausprobiert. Zum Beispiel: Wie sieht eine jüdische Gemeinschaft aus ohne Antisemitismus?

Der sozialistische Charakter der Gemeinschaft in deinem Buch wird etwa dadurch deutlich, dass du ein Geldsystem beschreibst, bei dem es eine feste Menge an Geld gibt, das in Birobidschan kursiert und von dem alle gleich viel haben. Wenn jemand aus Versehen mal mehr hat, heißt das, dass jemand anderes weniger hat. Der wird dann ausfindig gemacht und unterstützt, bis alles wieder ausgeglichen ist. 

Diese Stellen, in denen ich ein in sich geschlossenes sozialistisches Wirtschaftssystem versuche zu durchdenken, waren ursprünglich noch viel detaillierter beschrieben, das ist aber durchs Lektorat gefallen. Es hatte etwas von einem marxistischen Essay (lacht). 

Aber was bedeutet das eigentlich in der Geschichte? Die Währung in Birobidschan ist nicht Geld, sondern Empathie. Das geht mit ganz vielen Konsequenzen einher: Wenn man in einer Gesellschaft lebt, die – auch wirtschaftlich – von Empathie zusammengehalten wird, muss man viel tun, damit das Empathieniveau stets hoch bleibt. Darum gehts. In dem Sinne ist es eine Utopie, aber vielleicht auch nicht, vielleicht ist es einfach ein Kibbuz.

Wieso hast du dich überhaupt dafür entschieden, einen Roman zu schreiben, dessen Geschichte dort – am äußersten Zipfel der Sowjetunion bzw. des heutigen Russlands – spielt und nicht sonst wo auf der Welt?

Wegen der jiddischen Sprache. Birobidschan ist der einzige Ort auf der Welt, an dem Jiddisch die Amtssprache ist. Als ich das herausfand, war ich total überrascht, dass es überhaupt so einen Ort gibt, denn Jiddisch ist eine Sprache, die jedes Territorium eigentlich ablehnt. Jiddisch wurde dafür entwickelt, dass Menschen aus verschiedenen Ländern und Sprachen miteinander kommunizieren können. Es ist eine ultimativ nomadische Sprache, was man auch in der Literatur dieser Sprache merkt, in der es immer um Bewegung geht, nicht nur geografische Bewegung, sondern auch Bewegung zwischen Dimensionen, dem Diesseits und dem Göttlichen. Jiddisch ist eine Sprache, die immer dazwischen ist, wie das diasporische Judentum, und als solche fordert sie das binäre Denken zwischen »wir« und »sie« heraus. 

Ich möchte deinen Roman nicht zu sehr auf unsere unmittelbare Gegenwart beziehen, aber ich habe ihn nun einmal zufällig Anfang Oktober gelesen und ein wenig erscheint er mir auch wie eine Kommentierung der Gegenwart. Ist er das auch aus deiner Sicht? 

Ich hatte das nicht im Kopf, als ich ihn geschrieben habe. Aber ich sage Leuten auch nicht, wie sie meinen Roman lesen sollen. Grundsätzlich denke ich, dass man sich schon fragen muss, wie gelungen das Projekt des demokratischen Nationalstaates ist. Israel-Palästina ist ein Brennpunkt, wo das Konzept ganz klar herausgefordert wird. Doch ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendwo wirklich funktioniert. In dem Sinne ist »Birobidschan« eine Opposition: zum Konzept des Nationalstaates. Vielleicht kann die Idee von sprachlicher, kultureller Autonomie, von autonomen Regionen innerhalb von etwas Größerem, eine Alternative für die Verwirklichung von Selbstbestimmung sein.

Es ist aber auch eine Alternative zur Idee der Doykheit, oder? Denn gemein ist Birobdischan und dem Zionismus ja der Grundgedanke einer geografisch gebundenen nationalen Autonomie für Jüdinnen und Juden.

Etwas gibt es in Israel, was es in »Birobidschan« nicht gibt: die – gefährliche – Behauptung, für alle Juden auf der Welt zu sprechen. Im Roman ist das anders: Die Birobidschaner wissen zwar, dass es Jüdinnen und Juden anderswo auf der Welt gibt, manchmal treffen sie sie bei Austauschfahrten der Jugendbewegung »Tsukunft«. Aber es ist ihnen egal, insofern ist es doch Doykheit, weil keine Exklusivität behauptet wird. 

Ich sage es mal so: Ich bin kein Antizionist in dem Sinne, dass ich nicht an das Existenzrecht Israels glaube – was Israels Regierung tut, ist nochmal eine andere Frage. In der Behauptung, Juden bräuchten einen Ort, um sicher zu sein, steckt jedoch auch die Aussage, dass etwas am diasporischen Juden nicht stimme, dass er sich nicht wehren könne, schwach und passiv sei. Das Versprechen des Zionismus dagegen ist, einen starken Juden, einen Muskeljuden sozusagen, zu erschaffen. Damit habe ich ein riesiges Problem. Ich möchte das Gedankengut, etwas stimme nicht mit den Juden, nicht verinnerlichen. Klar, nomadische Minderheiten innerhalb von Nationalstaaten sind verletzlich. Aber das muss nicht unbedingt negativ beladen werden. Ein Beispiel, das verdeutlicht, was ich damit meine, taucht bei dem US-amerikanischen Talmudforscher Daniel Boyarin auf, der zu Sexualität im Talmud und zur Figur des unmännlichen jüdischen Mannes geforscht hat. Über Jahrzehnte haben Antisemiten uns so betrachtet: jüdische Männer als feminin und jüdische Frauen als maskulin. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, zu sagen: Jetzt brauchen wir dagegen einen richtig männlichen jüdischen Mann. Eine andere Möglichkeit wäre, die Behauptung zu reclaimen: Ja, vielleicht stimmt es, und vielleicht liegt es an etwas in unserer Tradition und unseren Schriften, aber hej, das ist super. Das wäre mein Ansatz. 

Was meinst du: Hätte es das Birobidschan aus deiner Geschichte geben können? Und: Unter welchen Bedingungen wäre es in der Zukunft möglich? 

Ich muss wie gesagt an die Kibbuzim denken, die etwas in der Art versucht haben, wobei das eng mit Nationalismus verbunden war. Die Idee, zum Beispiel einen jüdischen Kibbuz in Brandenburg zu kreieren, könnte so etwas sein. Es würden natürlich viele Probleme auftauchen, vor allem, weil es Antisemitismus gibt und er so bald nicht verschwinden wird. Aber utopisch denken? Ja, darf man. Ich glaube, es kann funktionieren. Es braucht dafür eine stärkere Theorie – in meinem Roman wurde aus guten Gründen vieles davon gestrichen, doch wenn man es wirklich versucht, braucht man das. Und davor, habe ich das Gefühl, braucht es erstmal eine richtige Erschütterung, damit wir überhaupt offen sind für solche Ideen. Wir sind so an unsere Konzeptionen davon, wie ein Staat, eine Gesellschaft, ein Dorf, zu sein hat, gebunden, dass es einen starken Mangel an Kreativität im politischen Denken gibt. Wir waren mal kreativer als heute. Wir können in der Zukunft wieder kreativer werden.  

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

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