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|Thema in ak 681: Internationalismus heute

Schiffe blockieren, Bahnverkehr stoppen

Gewerkschaftlicher Internationalismus ist eine potenziell mächtige Waffe gegen den Krieg

Von Anne Engelhardt

Ein Mann mit Regenschirm und Schild (Auschrift: SEIU ULP Strike) steht auf einem verregneten Hafenparkplatz, im Hintergrund Containerkräne und ein Auto
Ukrainische Gewerkschaften rufen derzeit auf, russische fossile Brennstoffe nicht mehr zu entladen Sie appellieren an die große Macht, die Transportarbeiter*innen haben. Hier: Hafenarbeiter*innenstreik 2012 in Oakland, USA. Foto: Daniel Arauz / Flickr , CC BY-SA 2.0

In Zeiten von Kriegen haben Gewerkschaften ein Problem: Klassenformationen und -kämpfe geraten in den Hintergrund. Vermeintliche Abkürzungen in nationaler Einheit mit den Regierenden wie Aufrüstung, Einmarsch und Repression drängen in den Fokus. Dabei sind Grenzen, Sprachen und Moral Kapitalist*innen egal. Sie fühlen sich aber in Nationalstaaten am wohlsten, denn diese garantieren ihnen eine gewisse Ruhe vor sozialen Revolten und den Versuchen der Arbeiter*innenklasse, ihnen die Profite und Enteignungen wieder abzutrotzen.

Der Nationalismus der Herrschenden dient als Spaltung, Unterdrückung sowie Entrechtung durch unterschiedliche nationale Arbeitsgesetze, Pässe usw. Wenn sie wollen, jagen sie uns von einem Teil des Globus zum anderen, von einer Produktionsstätte zur nächsten. Ein reales Beispiel: Ein Kollege musste mit seiner Familie aus Aleppo fliehen. Die Stadt wurde unter anderem durch Leopard-II-Panzer zerstört. Die Familie gelangte nach Kassel, wo der Familienvater ein Jobangebot bekam: In der Panzerfabrik Krauss-Maffei Wegmann, die Leopard-Panzer-Haubitzen herstellt.

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Die Arbeiter*innenklasse hat kein Mutterland. Dennoch sind die meisten Gewerkschaften ebenfalls nationalstaatlich orientiert und organisiert und bewegen sich im Spannungsverhältnis zwischen regionalen und internationalen Arenen. Sie entstehen, um zunächst konkrete betriebliche und nationale Tarifverträge und Arbeitsbedingungen zu verhandeln und um der physischen und körperlichen Ausbeutung der Arbeiter*in Grenzen zu setzen. Schon bei Marx wird das unmittelbare Leid der arbeitenden Lohnabhängigen offenkundig, wenn er über eine Streichholzfabrik schreibt: »Dante würde in dieser Manufaktur seine grausamsten Höllenphantasien übertroffen finden.« (1) Die regionalen, betrieblichen und nationalen Strukturen von Gewerkschaften sind sinnvoll für den lokalen Klassenkampf. Sie entsprechen aber nicht den aktuellen globalen politischen und sozialen Herausforderungen. Schon das gegenseitige Ausspielen von Kolleg*innen innerhalb eines Betriebes mit verschiedenen weltweiten Standorten lässt sich durch national orientierte Gewerkschaften nicht beenden. Es verhindert, den Krisen und Kriegen unserer Zeit wirkungsvoll zu begegnen.

Kriege treiben internationale Spannungen auf die Spitze – und lassen unter dem Dach des Nationalstaates die Klassen zusammenrücken, einerseits. Gerade weil Kriege im Gegensatz zu anderen Formen von Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung so brutal das rationale Gesicht kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse offenbaren, haben sie andererseits aber auch das Potenzial, Arbeitskämpfe und soziale Aufstände zuzuspitzen. Denn die Notwendigkeit von Solidarität zeigt sich im Krieg viel offensichtlicher als in anderen Kämpfen. Gewerkschaften können dabei nur verlieren, wenn sie sich in den Nation-vs.-Nation oder Block-vs.-Block Strudel ziehen lassen, insbesondere dann, wenn Kolleg*innen auf Kolleg*innen schießen müssen. Sie müssen sich daher auf ihre potenzielle Kernstärke konzentrieren: Klassenkampf und Internationalismus.

Drei Formen des Internationalismus

Ich möchte drei Formen des Internationalismus unterscheiden, die immer auch miteinander verwoben sind: Den lokalen, den betrieblichen und den politischen Internationalismus.

Erstens: Lokaler Internationalismus. Menschen aus der Ukraine, Georgien und Polen kommen als zirkuläre Migrant*innen nach Deutschland. Sie stechen Spargel, pflegen Menschen, arbeiten in der Fleischindustrie. Immer wieder gibt es Fälle von Lohnvorenthaltung, schlechter Unterbringung und massiven Überstunden. Lokaler Internationalismus bedeutet, sich mit diesen Kolleg*innen zu solidarisieren, ihre Anliegen sichtbar zu machen. Die Wirtschaft im deutschen Staat kann nur konkurrieren, weil es Staaten mit schlechten Löhnen und Lebensbedingungen gibt, die Menschen zwingt, regelmäßig hierher zu pendeln oder eben auch hier bleiben zu müssen. Internationale Kolleg*innen haben dadurch ein Interesse daran, die Bedingungen in Deutschland infrage zu stellen, seien es Menschen aus Tunesien, die mit ihren Gewerkschaftserfahrungen hier bei Amazon die Arbeitskampfstrategien herausfordern und verbessern,oder seien es Kolleg*innen bei dem Lieferdienst Gorillas, die schockiert über das deutsche repressive Gesetz sind, das politische Streiks sowie Whistleblowing verbietet und Beschäftigte zur Treue verpflichtet. Ihren Streiks ist es zu verdanken, dass momentan über genau diese Gesetzgebung u.a. vor Gericht verhandelt wird. Abgesehen davon ist der riesige Support der Kolleg*innen gegenüber neu ankommenden Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern beeindruckend und ebenfalls Teil des lokalen Internationalismus.

Zweitens: Betrieblicher Internationalismus. Durch die Globalisierung, Ausgründung, Monopolisierung und Neu-Verstrickung globaler Wertschöpfungsketten gibt es Arbeiter*innen, die weltweit für denselben Konzern arbeiten – wenn auch häufig zu unterschiedlichen Bedingungen. Als in Folge der Wirtschaftskrise in Spanien und Portugal die Arbeitsbedingungen an Häfen verschlechtert werden sollten, streikten 2014 und 2016 für zwei Stunden Hafenbeschäftigte in ganz Europa – organisiert von dem International Dockerworkers Council (IDC). Ende März 2022 wurden in Großbritannien 800 Seeleute von P&O Ferries von jetzt auf gleich entlassen, was eine Welle weltweiter Solidarität von Transportgewerkschaften auslöste. Kolleg*innen bei Amazon haben sich international vernetzt und streiken gemeinsam um den 4. Juli, Black Friday, Cyber Monday oder auch in Solidarität mit den Klimastreiks und dem Internationalen Frauen- und Queerkampftag am 8. März. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg solidarisierten sich zuletzt Seeleute weltweit, koordiniert über die International Transport Workers’ Federation (ITF) und die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) mit den gestrandeten ukrainischen und russischen Besatzungsmitgliedern, entweder weil deren Heimat zerstört oder durch den gesperrten Luftraum, auslaufende Visa und gesperrte Konten nicht zugängig ist.

Betrieblicher Internationalismus hat unterschiedliche Qualitäten. Natürlich sind Solidaritäts-Botschaften vergleichsweise zahm, im Vergleich zu Solidaritäts-Streiks oder sogar gemeinsamen Streikaktionen entlang des gesamten Betriebes. Dennoch würde es beispielsweise viel Druck ausüben, wenn ver.di und der DGB Hamburg die Hafenterminals der HHLA organisieren, sich mit den Kolleg*innen der HHLA-Terminals in Odessa solidarisieren, Protestaktionen durchführen, Spenden für die momentan arbeitslosen Hafenkolleg*innen sammeln oder sich – wie unten noch ausgeführt wird – an den Blockade-Aktionen gegen russische Schiffe und Ladungen beteiligen würden.

Hafenkolleg*innen aus Australien, Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Neuseeland, den USA und Kanada haben russische Schiffe und vor allem Ölfässer boykottiert.

Drittens: Politischer Internationalismus. Dieter Nelles (2) schreibt über die Entstehung der Internationalen Transportarbeiter*innen-Föderation: »Schon in der Wiege der ITF stand die Idee eines Weltstreiks aller auf den Schiffen und in den Häfen beschäftigter Arbeiter.« Am Vorabend des Ersten Weltkrieges schworen sich die Gewerkschaften unterschiedlicher Länder in den Konferenzen der Zweiten Internationale, dass sie zu einem Weltgeneralstreik aufrufen würden, wenn Arbeiter*innen gezwungen würden, die Waffen gegeneinander zu erheben. Dieser Schwur fiel jedoch dem Nationalismus und Militärrausch zum Opfer. Erst 1917 und 1918 streikten Seeleute und Hafenarbeiter*innen in Russland, Deutschland und anderen Ländern für Frieden und Brot. Sie unterstützten und entfachten damit sowohl die lokalen Revolutionen als auch das Ende des Krieges. Die Nelkenrevolution in Portugal beendete die Kolonialkriege in Angola, Mozambique und Guinea-Bissau. Die weltweiten Massenproteste gegen den Vietnamkrieg erzwangen das Ende dieses Konfliktes.

Eine Wiederbelebung der Weltstreik-Idee?

Möglicherweise können wir folgende Aktionen als vorsichtige Wiederbelebung der »Weltstreik gegen den Krieg«-Idee beziehungsweise des politischen Internationalismus betrachten: Wie bereits auf Labournet.de zusammengestellt, haben Hafenkolleg*innen aus Australien, Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Neuseeland, den USA und Kanada russische Schiffe und vor allem Ölfässer boykottiert. Als sich in Großbritannien Kolleg*innen eines Hafens weigerten, russisches Öl zu entladen, und die Gewerkschaft UNITE einen Tag nach Beginn des Krieges die Regierung aufforderte, den Boykott zu legitimieren, folgten anderen Staaten dem Beispiel. Die ITF und der IDC unterstützten die Aktionen. In Pisa weigerten sich Beschäftigte des zivilen Flughafens, Waffen in die Ukraine zu schicken, die als humanitäre Hilfe getarnt waren. Sie wurden von italienischen Hafenkolleg*innen unterstützt. In Belarus haben Kolleg*innen Straßenblockaden errichtet und Bahner*innen den Schienenverkehr gestoppt, wodurch keine russischen Militärfahrzeuge und Waffen mehr an die Nordfront gelangen. Auch hier unterstützte die ITF die Aktionen, wenn auch oft zunächst verbal. Eine weitere Stufe wäre, entsprechende internationale Konferenzen einzuberufen und lokal wie international auszuloten, wie sich die Idee eines »Weltstreiks gegen den Krieg« eigentlich umsetzen ließe.

Natürlich werden die Herrschenden in Russland und anderswo nicht offen zugeben, dass solche Aktion sie in ihren Entscheidungen beeinflussen oder gar entmachten. Aber Gewerkschafter*innen sollten Internationalismus als Form des Widerstandes nicht nur ernst nehmen, sondern auch auf allen Ebenen, in denen sie arbeiten, aktiv befördern: Durch Kontaktaufnahme mit betroffenen Kolleg*innen in der Ukraine, in Belarus und Russland, durch lokale Unterstützung bei Arbeitskämpfen oder finanziellen Support aller Seeleute und Flugbeschäftigten – egal welcher Nation. Oder eben durch ganz direkte Sabotage, Boykott, Blockade, was den empfindlich vernetzten Logistiksektor und die Herrschenden nicht nur direkt trifft, sondern auch die Selbstorganisation jenseits nationaler Dogmen befördert. Letztendlich sind Internationalismus und der selbstorganisierte Klassenkampf deshalb die effektivste Möglichkeit, nicht nur Krieg, sondern auch Klimakrise und Ausbeutung langfristig und länderübergreifend zu bekämpfen.

Anne Engelhardt

forscht an der Universität Kassel zu Arbeitskämpfen im Logistiksektor, v.a. zu Häfen und Flughäfen, Brasilien und Portugal, und ist zwanghaft optimistisch, was die Abschaffung des Kapitalismus angeht.

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