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|Thema in ak 675: Ist die Zeit der Utopien vorbei?

Das brennende Haus

Ist das Bildnis vom Ende der Welt eine Einladung zur Resignation? Historisch war sie eher Sprache des Widerstandes

Von Paul Dziedzic

Zeichnung eines zertrümmerten und mit Parolen beschriebenen Kopfes einer Statue
Illustration: Maik Banks

Kimpa Vita wuchs im Königreich Kongo zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert auf. (1) Das Königreich, in das sie geboren worden war, zerfiel infolge von Erbfolgekriegen, politischen Intrigen – und dann kamen auch noch die Portugiesen. Sie erreichten die Küste des Königreichs auf Schiffen, machten sich Verbündete, starteten Konflikte und verkündeten dabei eifrig »die frohe Botschaft«. Doch das einzige, was die Portugiesen haben wollten, waren Menschen. Viele der Konflikte drehten sich um Zugang zu versklavten Menschen. Kimpa Vita wuchs inmitten eines Zeitalters der Krise auf. Selbst eine Christin, übersetze sie ihre politische Analyse in die Sprache der Bibel.

In Visionen, sagte sie, waren ihr biblische Gestalten, Heilige und Engel erschienen. Diese waren wie sie: Schwarz. Kimpa Vita machte sich auf und predigte; sie warnte vor den falschen Propheten und verkündete, dass sich die Ereignisse aus der Bibel im Kongo abgespielt hätten und hier auch das jüngste Gericht gehalten würde. Innerhalb kürzester Zeit wuchs ihre Gefolgschaft, ihr schlossen sich überwiegen Bäuerinnen und Bauern, aber auch einzelne Aristokraten an. Die Bewegung wollte das Land einen und einen neuen König wählen und wurde damit zur politischen Macht. Den Machthabern des zersplitterten Königreichs wie den Portugiesen war sie bald ein Dorn im Auge. Auf eindringliche Empfehlung des portugiesischen Klerus wurde Kimpa Vita im Alter von 22 Jahren zum Tod durch den Scheiterhaufen verurteilt.

Über 500 Jahre Genozide, Vertreibungen, Hungersnöte und Seuchen: Sklaverei und Kolonialismus hatten katastrophale Folgen für viele Gemeinschaften – sie waren das Ende der Welt. Um diesem Ende etwas entgegenzusetzen, entstanden Bewegungen, die sich einer religiösen Sprache bedienten. Diese Sprache war die Synthese der Herrschaftssprache und ihrer Antithese. Das war insofern nötig, als dass die Unterschiede zwischen den vielen Gemeinschaften und Nationen überbrückt werden mussten. Nicht selten unterwanderten politische Bewegungen die Dogmen ihrer Unterdrücker, wie Kimpa Vita es tat. Darin stecken für uns heute viele Lektionen, denn angesichts des Klimawandels herrscht wieder Untergangsstimmung. Und die Frage ist: Führt das Bildnis vom Ende der Welt zu Resignation?

Jehovas Zeugen im Klassenkampf

In seinem Buch »A History of Pan-African Revolt« schaut der Schwarze Marxist C.L.R. James auf die vielen Aufstände gegen den Kolonialismus in Afrika und den Amerikas. Ins Auge sticht insbesondere, dass sich James mit der Wachturmbewegung im südlichen Afrika auseinandersetzt. Die Wachturmbewegung war formell eine religiöse Organisation, die den Zeugen Jehovas aus den USA entsprang. Doch recht schnell entwickelten die Zeugen in Afrika ihre eigene Dynamik. Anstatt wie in Europa und Amerika einfach auf das Ende der Welt zu warten, lehnten sich ihre Anhänger*innen in Afrika gegen die koloniale Ordnung auf. Die Bewegung rekrutierte vor allem Industriearbeiter*innen entlang der urbanen Zentren des Kupfergürtels, der sich vom heutigen Zimbabwe bis in den Kongo streckte. Höhepunkt der Aktionen war der Copperbelt-Streik von 1935, der als erster größerer Streik der Industriearbeiter*innen in Rhodesien und Kongo gilt. Das Besondere an diesem Streik war, dass er nicht nur die Mitglieder der Wachturmbewegung mobilisierte. Der Copperbelt-Streik richtete sich gegen die Arbeitsbedingungen, aber zugleich generell gegen die koloniale Ordnung. In der Folge des Streiks entstanden in Rhodesien Gewerkschaften und Parteien, die bis heute existieren. Die britische Kolonialverwaltung sah sich durch den Kampf gezwungen, einige soziale Absicherungen für die Arbeiter*innen einzuführen.


James’ Werk wurde von vielen mit Überraschung aufgenommen, ging er doch auf religiöse Bewegungen ein, gegen die es vor allem im Westen starke Vorurteile gab. Doch sein Zeitgenosse, der antikoloniale Intellektuelle Walter Rodney, schrieb, James habe die Bewegungen im Gegensatz zu den europäischen Beobachter*innen nicht einfach als religiös oder abergläubisch abgetan, vielmehr habe er eine Unterscheidung zwischen Form und Inhalt gemacht. Denn die religiöse Sprache der Protestierenden könnte nicht verbergen, dass die Proteste den Verhältnissen – wie Zwangsarbeit, Landnahme und koloniale Steuern – entsprangen.

Integration in den Weltuntergang ist auch nicht die Lösung

In vielen siedlerkolonialen Staaten wie Kanada oder Australien gehört es heute zum guten Ton, dass Offizielle am Anfang einer Veranstaltung das Land anerkennen, auf dem sie stehen. (2) Zwar deutet das auf Erfolge im Kampf um die Erinnerung, andererseits verkommen diese Zeremonien schnell zu leeren Gesten. Das Land wurde nie zurückgegeben, und die Gemeinschaften, deren Land in solchen Worten symbolisch anerkannt wird, werden sozial weiterhin marginalisiert. Was ist also so ein »Acknowledgement of Land« anderes als eine Achtsamkeitsübung? Spätestens, wenn wieder Ressourcen entdeckt werden oder eine Pipeline durch indigenes Land führen soll, reagiert der Staat mit der alten Härte.

In eurozentrischen Diskursen werden die vielen kolonialen Aufstände noch zu oft als tragische und ohnmächtige Versuche gewertet, die koloniale Ordnung zu überwinden. Indirekt wird den Widerständigen falsches Bewusstsein attestiert oder einfach Torheit, sich von den Rändern der »Zivilisation« aus mit einer Übermacht angelegt zu haben. Aber ist der Kampf wirklich vorbei? Denn was ist das Ende der Welt anderes als die Zerstörung von Lebensgrundlagen, Ausbeutung und Ausweglosigkeit?

Ist diese Welt nicht die Summe vergangener Weltuntergänge?

Die einzige Antwort auf die produzierten Ausschlüsse ist, »selbst Schuld« zu rufen und eine »Integration« in das Wirtschaftssystem anzubieten. Heute, angesichts der kommenden Katastrophe, stellt sich die Frage, die schon der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin aufwarf: »Möchte ich mich wirklich in ein brennendes Haus integrieren?« Und auch die Beschaffenheit des Hauses ist zu befragen. Ist diese Welt nicht eben die Summe vergangener Weltuntergänge? Die Maschinerie, die von fossilen Brennstoffen, Landraub und Ausbeutung angetrieben wird, läuft munter weiter.

Bis heute sind das die Gründe, die weiterhin Aufstände, Blockaden und Proteste antreiben. An der Spitze stehen nicht selten indigene Gemeinschaften oder generell die Nachfahren derer, die den Weltuntergang schon einmal erlebten. Die vielen Bäuerinnen und Bauern, die von Subsistenzwirtschaft leben, die fünf Prozent der Menschen, die in indigenen Gemeinschaften leben und über mehr als 80 Prozent der bedrohten Biodiversität der Welt wachen, oder die Water Protectors, die wie vor fünf Jahren in den USA beim Standing Rock Protest gegen die Dakota Access Pipeline sicherstellten, dass das immer wertvoller werdende Wasser nicht von Öl verdreckt wird.

Dass umfassende Bewegungen noch heute möglich sind, zeigt auch Black Lives Matter. Sie steht in einer langen Tradition Schwarzen Widerstands; diejenigen, die sich unter das Banner versammeln, kommen aus unterschiedlichen Denktraditionen, und doch sprechen sie eine Sprache. Black Lives Matter hat kein Geheimrezept, sondern ist das Ergebnis dessen, wie Schwarze Menschen in den Amerikas schon seit Jahrhunderten zusammenkommen. In diesen Bewegungen gibt es Austausch von Ideen, beispielsweise Konzepte von Transformative Justice oder die Forderung nach Einführung der Natur als Rechtssubjekt wie in Ecuador, ein Vorschlag, der helfen soll, die Gegenüberstellung von Mensch und Natur zu überwinden. Bei den Bränden in den USA, Australien und Kanada wiesen viele Gruppen darauf hin, dass indigene Communities Wissen aus Jahrhunderten mitbrächten, wenn es um Waldbrände geht. Doch es braucht viel »Überzeugungsarbeit«, ihnen gesetzgebendes oder organisatorisches Mitspracherecht bei Dingen wie Flächennutzung oder in Brandschutzbehörden zuzugestehen.

An Denkansätzen und Ideen fehlt es nicht. Und gerade jetzt, wo wir zuschauen, wie die Zeit abläuft, und wo gerade Industrieländer die Welt beim Klimaschutz ausbremsen, sollte klar werden, dass aus diesen Ländern keine Lösungen mehr kommen werden. Dem Großteil der Welt aber diktieren eben diese Länder weiterhin die Regeln, verweisen darauf, dass wir uns alle werden anpassen müssen, als ob das nicht schon in den letzten 500 Jahren so gewesen wäre. Die Frage also, ob das Bildnis vom Ende der Welt zu Resignation führt, statt zu Aktion, ist vielleicht auch eine Frage für wen. Für diejenigen, die schon seit Jahrhunderten kämpfen, stellt sich diese Frage nicht.

Anmerkungen:

1) Nicht zu verwechseln mit den heutigen Staaten, die den Namen tragen. Das Königreich erstreckte sich entlang der westafrikanischen Küste von der heutigen Republik Kongo bis nach Angola.

2) Beispiel für Acknowledgement of Land in Australien: »Wir zollen den Ältesten der Vergangenheit und der Gegenwart unseren Respekt. Dieser Respekt gilt auch allen heute anwesenden First Nations.«

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