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Inter­nationalismus ist mehr als Diplomatie

Erst ging es Linken um die Weltrevolution, dann um Staaten – heute ist das Völkerrecht für viele der Horizont, hinter dem nichts mehr kommt. Das ist zu wenig

Von Nelli Tügel

Zwei junge Menschen in Uniformen auf gebastelten Pferden auf einem schneebedeckten Weg in nächtlicher Umgebung
Ein Ritt durch die Geschichte linker Weltpolitik – aber dieses Bild hat nichts damit zu tun. Es stammt aus der Reihe »Where I was born« und entstand im Januar 2022 im südukrainischen Krasnojilsk an der Grenze zu Rumänien. Foto: Lisa Bukreyeva

Kurz nach Ausbruch des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine tat die Linkspartei mal wieder das, was sie noch am besten kann: sich öffentlich streiten. Ein wütender Brief Gregor Gysis, außenpolitischer Sprecher der Fraktion im Bundestag, an Sahra Wagenknecht und eine Handvoll weiterer Abgeordneter, machte nach einem Leak die Runde. Gysi warf seinen Genoss*innen »Emotionslosigkeit« in Bezug auf den Krieg vor, Wagenknecht erkannte den Ernst der Lage, reagierte ungewöhnlich schnell und wies Gysis Vorwürfe öffentlich zurück. In dieser Posse stecken ein paar interessante Aspekte, doch hier soll es nur um einen gehen, darum, was Detlef Georgia Schulze auf Twitter treffend feststellte: »Besonders kurios: Die Konvergenz beider Seiten im – nur anders interpretierten / genutzten – (post)stalinistischen Völkerrechts-Idealismus«.

Was bedeutet das – und warum ist das überhaupt wichtig?

Nein zur »Heiligkeit der internationalen Verträge«

Im August 1911 schrieb Rosa Luxemburg einen kurzen Artikel in der Leipziger Volkszeitung mit dem Titel »Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik?« Anlass war die zweite Marokkokrise: Frankreich war im Mai 1911 in Marokko einmarschiert, das Deutsche Reich schickte darauf hin Kriegsschiffe, es drohte eine Eskalation zwischen imperialistischen Staaten auf dem Gebiet Marokkos. Das Thema beschäftigte auch die SPD. Eduard Bernstein schlug allen Konfliktparteien vor, sich auf die Algecirasakte zu besinnen – jene völkerrechtliche Vereinbarung, mit der 1906 die erste Marokkokrise beigelegt (das hieß auch: der Zugriff des Imperialismus verrechtlicht) worden war. Luxemburg hatte für Bernstein nur beißenden Spott übrig (»Bernstein hebt schließlich als eignen Vorschlag der Sozialdemokratie einen zerknüllten Papierfetzen vom Boden auf, den er unter dem Tisch der Diplomaten fand, diesen streicht er auf dem Knie mit aller Sorgfalt glatt und hält ihn freudig in die Höhe als die einzige, die beste Lösung des Marokkokonflikts (…): Es ist die Algecirasakte!«) und nutzte die Gelegenheit, um aus ihrer Sicht zu erklären, weshalb es nicht die Aufgabe von Sozialist*innen sei, »Rezepte für die kapitalistische Diplomatie und ihre Kabinette aus(zu)arbeiten«.

Luxemburgs Ablehnung der Diplomatie resultierte daraus, dass sie internationale Verträge als prekäre Abbilder des vom Imperialismus geprägten Weltkräfteverhältnisses betrachtete: »Welches politische Kind weiß nicht heute, dass diese Verträge nur dazu gemacht werden, um bei entsprechender Verschiebung der Kräfte gebrochen zu werden? Wo ist bis jetzt ein internationaler Staatsvertrag imperialistischen Charakters, der nicht gebrochen worden wäre? An die Unverrückbarkeit und Unantastbarkeit der internationalen Verträge der kapitalistischen Staaten kann nur glauben, wer keine Ahnung davon hat, dass sich die internationale Lage in ständigem Fluss befindet, dass auch hier Verschiebungen, Entstehen und Vergehen, Entwicklung und Bewegung das Gesetz bilden«, schrieb sie. »Ist doch diese internationale weltpolitische Entwicklung nichts andres als bloß die Kehrseite der inneren Entwicklung des Kapitalismus, auf ihr basiert unser Bestreben zur sozialistischen Umwälzung. Und nun soll die Sozialdemokratie gerade die Heiligkeit der internationalen diplomatischen Verträge, die stets Ausgangspunkte neuer Gegensätze und Kämpfe sind, zu ihrer Losung machen! Sie soll die kapitalistische Welt zur ›Moral‹ bekehren!«

Moralische Empörung spiele freilich »in unsrer Protestbewegung gegen die Weltpolitik eine große Rolle«, so Luxemburg. Sie werde aber nur dann zum politischen Faktor, »wenn sie mit dem Verständnis der historischen Gesetze der Erscheinung verbunden ist, wenn sie sich nicht gegen äußere Formen, sondern gegen das Wesen, nicht gegen die Folgen, sondern gegen die Wurzel richtet«.

Luxemburg legte hier in kurzen Worten dar, wie der revolutionäre Flügel der SPD auf Diplomatie blickte. Mit »Recht« und »Moral« könne man Erscheinungen wie den modernen Imperialismus nicht messen.

Bis unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war auch innerhalb der Zweiten Internationale mehrheitlich, zumindest die nach außen kommunizierte Position, dass nicht mit Diplomatie, sondern durch Generalstreiks – also Klassenkampf, »proletarischer Weltpolitik« also – ein solcher verhindert werden könne. Im nationalistischen Taumel aber brachen fast alle mit diesem Grundsatz und schlossen den Burgfrieden.

Fortgeführt wurde die Haltung Luxemburgs unter anderem in der Spartakus-Gruppe und den mit ihr verbündeten sozialistischen Kriegs-Gegner*innen anderer Länder. Das imperialistische Stadium des Kapitalismus führe, so waren diese überzeugt, zwangsläufig und immer wieder zu Kriegen, deshalb sei es Aufgabe von Sozialist*innen, durch die soziale Revolution für eine nachhaltige Friedensgrundlage zu sorgen.

Fensterreden in Brest-Litowsk

In Russland gelang 1917 dann eine solche soziale Revolution. Damit allerdings änderten sich auch die Voraussetzungen für die Haltung zur Diplomatie: Mit der Eroberung der Staatsmacht stellte sich die Frage noch nicht gänzlich, aber doch grundsätzlich neu. Wie wurde sie beantwortet? Die Vertreter der jungen bolschewistischen Regierung traten den von Luxemburg schon verworfenen Regeln der internationalen Diplomatie mit offener Verachtung entgegen. Ihr Ziel war nicht, ein für sie möglichst gutes Gleichgewicht mit den kapitalistischen Staaten auszuhandeln, sondern die Weltrevolution.

Das war 1917/1918 keine naive Position denn in vielen europäischen Staaten waren Proteste gegen den Krieg ausgebrochen, in Deutschland führten sie aber erst im November 1918 zur Revolution (jedoch nicht zur sozialistischen). Während der Verhandlungen in Brest-Litowsk über einen Frieden zwischen Russland und den Mittelmächten nutzten die Abgesandten der Sowjetregierung – darunter Adolf Joffe, Leo Trotzki und Karl Radek – die Bühne, um die Arbeiter*innenklasse in den westlichen Staaten zu agitieren. Trotzki brachte die Teilnehmer der Verhandlungen zur Verzweiflung, als er dort an die deutschen Arbeiter*innen gerichtete Reden hielt, Radek verteilte bei Ankunft am Brest-Litowsker Bahnhof Flugblätter aus dem Zug heraus an deutsche Soldaten und Offiziere. Als Verhandlungsführer versuchte Trotzki, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, in der Hoffnung, dass Sowjetrussland nicht allein bleibe. Trotzki selbst schrieb später darüber: »In die Friedensverhandlungen traten wir mit der Hoffnung ein, die Arbeitermassen Deutschlands und Österreich-Ungarns wie auch der Ententeländer aufzurütteln. Zu diesem Zweck war es nötig, die Verhandlungen möglichst in die Länge zu ziehen, damit die europäischen Arbeiter Zeit hätten, die Tatsache der Sowjetrevolution und im besonderen ihre Friedenspolitik gehörig zu erfassen.«

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Diese Taktik ging in Brest-Litowsk zwar nicht auf – schließlich musste die Sowjetregierung einen Friedensvertrag akzeptieren, der mit erheblichen Zugeständnissen einherging – doch an der Verweigerung, die internationale »Ordnung« zu akzeptieren und dem Ziel der Weltrevolution änderte dies zunächst nichts.

In den ersten Jahren Sowjetrusslands – die stark vom Bürgerkrieg, in dem auf den Seiten der zaristischen Weißen Truppen die imperialistischen Großmächte kämpften, geprägt waren – bildete sich dann eine Art Doppelstrategie heraus, die auch Diplomatie mit den und Konzessionen an die westlichen Staaten beinhaltete. Zudem begann die Sowjetregierung, sich taktisch an Nationalbewegungen in anderen Teilen der Welt anzunähern, die mit Sozialismus oder dem 1917 in einem der ersten Sowjetdekrete proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Nationen wenig zu tun hatten, etwa mit der türkischen Nationalbewegung, die zuvor den Völkermord an den Armenier*innen verbrochen hatte. Verstärkt wurde die Doppelstrategie dieser Jahre dadurch, dass einerseits die Regierung Sowjetrusslands diplomatisch und außenpolitisch agierte, gleichzeitig aber auch die Komintern, die Dritte Internationale, als Akteurin mit einem weitverzweigten Netz handelte – mitunter, etwa 1922, als die Russische Sowjetrepublik und das Deutsche Reich den Vertrag von Rapallo besiegelten, mit dem sie diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen wieder aufnahmen, während die KPD am Sturz der deutschen Regierung arbeitete, führte dies zu Widersprüchen; sie verstärkten sich, als 1924 auch Großbritannien, Frankreich und Italien die (im Dezember 1922 gegründete) Sowjetunion offiziell anerkannten.

Die trostlose Selbstbeschränkung linker Außenpolitik auf Appelle an Diplomatie und die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge haben viele Linke in der Bundesrepublik nach 1989 nie überwunden.

Mit dem vorerst endgültigen Scheitern des Versuchs einer Revolution in Deutschland im Jahr 1923, wo der erfolglose Hamburger Aufstand den 1918 begonnenen Revolutionszyklus beendete, der Niederlage in China 1927 und der vollständigen Marginalisierung der Linken Opposition in der Sowjetunion, verschwamm der strategische Horizont der Weltrevolution immer mehr. So wurde die Stalinsche Revision des Grundsatzes der frühen Jahre, dass das außenpolitische Ziel die Weltrevolution sei, und seine Verzerrung zur Doktrin des »Sozialismus in einem Land« möglich.

Diese Wende änderte alles. Denn nachdem der »Sozialismus in einem Land« Anfang der 1930er Jahre zur neuen sowjetischen Staatsdoktrin erhoben worden war und sich die Kommunistische Internationale faktisch und praktisch vom Ziel der Revolution in anderen Staaten verabschiedet hatte, diese sogar begann zu bekämpften (1), war wiederum das Ziel der diplomatischen Verständigung mit dem Imperialismus (und die Auflösung der Komintern 1943) die logische Folge. In den kapitalistischen Zentren nahm man das erleichtert auf, so kommentierte etwa das britische Außenministerium Anfang der 1930er Jahre anerkennend, »dass die Niederlage der fanatischen bolschewistischen Opposition eine Außenpolitik ankündigt, die nationale Instrumente nutzt«. (2) Die Sowjetunion bemühte sich nun um einen Platz am Tisch – statt darum, den Tisch umzuwerfen. Mit Erfolg. 1934 – kurz nachdem die sowjetische Führung in der Ukraine Millionen Menschen durch systematischen Hunger ermordet hatte – nahm der Völkerbund die Sowjetunion in seine Reihen auf.

Damit bestätigte sich wiederum, was Luxemburg so hellsichtig analysiert hatte: Nicht um Moral und Frieden geht es in der internationalen Diplomatie, den völkerrechtlichen Verträgen und supranationalen Organisationen, sie waren und sind vielmehr stets ein Abbild der Kräfteverhältnisse. Der imperialistische Westen begann, »geordnete« diplomatische Beziehungen zu Stalins Sowjetunion zu pflegen und akzeptierte vorerst ihre Existenz, weil er es musste – und zwar als diese sich gerade ihrem diktatorischen Höhepunkt näherte. Dass dies indes eine tödliche und sich schnell auch wieder gegen die Sowjetunion selbst richtende »Ordnung« war, zeigte sich spätestens als Nazi-Deutschland den Hitler-Stalin-Pakt brach und die Sowjetunion überfiel mit dem Ziel, sie zu vernichten.

Versteinerter Kern linker Friedenspolitik

Nach 1945 hatte der, auf der aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges hervorgegangenen neuen Weltordnung wie auch der weiterhin geltenden Doktrin des »Sozialismus in einem Land« (auch wenn nun mehrere Staaten darunter fielen (3)) beruhende, Bipolarismus und das Ziel der friedlichen Koexistenz den auf Weltrevolution abzielenden Internationalismus ersetzt. Sehr deutlich zeigte sich das etwa in der DDR, deren vorrangiges außenpolitisches Ziel die offizielle Anerkennung als Staat (was 1973/1974 auch geschah) und der Austausch diplomatischer Beziehungen war. Die spiegelbildliche Entsprechung im Westen fand sich in der sozialdemokratischen Ostpolitik. Die Unterstützung antikolonialer und sozialistischer Bewegungen in anderen Ländern durch die Sowjetunion oder Staaten des Ostblocks hing in diesen Jahren stets auch davon ab, wie sich diese in das internationale Gleichgewicht einflechten ließen.

Was bis 1989 vielleicht nachvollziehbar, zumindest einer Machtlogik folgend, wenn auch weit weg von dem Internationalismus und Antiimperialismus Rosa Luxemburgs und der Sozialist*innen zu Beginn des 20. Jahrhundert war, versteinerte nach dem Ende des Ostblocks und dem fast vollständigen Verlust von Staatlichkeit zu einer Politik, die im Grunde wieder dort landete, wo Bernstein 1911 schon gewesen war: zu dem, was eingangs als »(post)stalinistischer Völkerrechts-Idealismus« beschrieben wurde.

Bis heute. Denn diese trostlose Selbstbeschränkung auf Appelle an Diplomatie und die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge haben viele Linke in der Bundesrepublik, vor allem aber die in der PDS und später der Partei Die Linke, nie überwunden. Sie ist der Kern der »Friedenspolitik«, die wiederum im Grunde die einzige »Weltpolitik« ist, die die Linke noch kennt, da sie das aus der Sowjetunion mitgenommene Dogma der Staaten als einzigem oder hauptsächlichen Bezugspunkt nicht abgestreift hat. Dabei ähnelt die Gegenwart, bei allen Unterschieden, vielmehr der Zeit Rosa Luxemburgs als der der Sowjetunion und des Kalten Krieges.

Was folgt daraus? Natürlich muss Diplomatie jederzeit einem »heißen« Krieg vorgezogen werden, das ist keine Frage. Doch wenn es jemals eine Überwindung der Aufteilung der Welt in Einflusssphären von im Zweifel zu den Waffen greifenden Mega-Armeen geben soll, müssen Linke mehr können als die Verhandlungsbereitschaft und Moral kapitalistischer Staaten anzumahnen, dann brauchen wir einen Internationalismus, der sich auf das besinnt, was Luxemburg 1911 schon wusste: »Sucht man aber innerhalb der imperialistischen Politik Abhilfe und Lösungsmittel für seine Konflikte und will man sich seinem Sturm und Drang widersetzen, indem man ihn einfach auf das bereits Überwundene zurückzuschrauben versucht, so ist das (…) hoffnungslose Politik. Diese Politik ist im Grunde nichts andres als stets die Verteidigung des Imperialismus von gestern gegen den Imperialismus von heute.«

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Anmerkungen:

1) Dafür diente u.a. die »Etappentheorie«, die 1935 offiziell Linie der Komintern, aber zuvor schon als theoretische Grundlage herangezogen wurde, um zu begründen, warum einige Länder noch nicht bereit für eine sozialistische Revolution seien und zunächst eine kapitalistische Entwicklung nachholen müssten. Das führte etwa dazu, dass Stalin in China die Unterordnung der Kommunist*innen unter den bürgerlichen Kuomintang und die Selbstentwaffnung erzwang und dessen Führer Chiang Kai-shek, der daraufhin 1927 einen Aufstand niederschlagen und 2000 chinesische Kommunist*innen in Shanghai ermorden ließ, Ehrenmitglied der Komintern war.

2) Dazu mehr in Gabriel Gorodetskys Text »Sowjetische Diplomaten« monde-diplomatique.de/artikel/!5451804

3) Sozialismus in einem Land bedeutete nie, dass er auf ein Land beschränkt bleiben müsse, sondern die Verabsolutierung des Nationalstaates als Teil der internationalen »Ordnung« – als noch die Weltrevolution der Horizont sozialistischer Weltpolitik war, war auch die Frage des Nationalstaates, der Grenzen usw. für Sozialist*innen eher taktischer Natur, im schlechteren Fall, weil sie die Bedeutung staatlicher Unabhängigkeit aus chauvinistischen Gründen ignorierten. Im besseren Fall, weil sie – wie Luxemburg – eine radikal antinationale Position einnahmen.