Russland hat es nicht eilig
Die Chancen, dass die in Istanbul aufgenommenen russisch-ukrainischen Gespräche zu einem raschen oder gar gerechten Frieden führen, sind gering
Von Tomasz Konicz

Wie schlecht es militärisch um die Ukraine steht, macht gerade die Tatsache deutlich, dass es in Istanbul zu Friedensgesprächen zwischen Kiew und Moskau kommen konnte. Noch am 10. Mai forderten die vier europäischen Staats- und Regierungschefs, die in einer Solidaritätsgeste in die ukrainische Hauptstadt gereist waren, gemeinsam mit ihrem Amtskollegen Selenskij eine 30-tägige Waffenruhe als Vorbedingung für etwaige Gespräche. Diese bedingungslose, umfassende Waffenruhe würde »der Diplomatie eine Chance« geben, forderte Selenskij im Beisein der britischen Premiers Starmer, des französischen Präsidenten Macron, des polnischen Regierungschefs Tusk und des deutschen Zweitkanzlers Merz.
Die an das Waffenstillstandsangebot gekoppelte Sanktionsdrohung der EU, die verstärkt gegen die russische Schattenflotte vorgehen will, ließ der Kreml ungerührt verstreichen – es gibt keinen Waffenstillstand, weil dies nicht dem Interesse des Kremls entspricht. Die russisch-ukrainischen Gespräche begannen dagegen unter Feuer, da dies Russlands Verhandlungsposition stärkt. Zudem blieben die Europäer, wie schon gewohnt, auch von diesen Verhandlungen ausgeschlossen, die unter Beteiligung der US-Administration geführt wurden. Mit dem Ausschluss der Europäer will Putin offensichtlich die Spaltung des Westens weiter forcieren. Schließlich ließ sich der Kreml auch nicht auf die Forderungen Selenskijs ein, direkte Gespräche mit Putin führen zu wollen.
Realitäten des Abnutzungskrieges
Russland war es somit möglich, die Vorbedingungen für die Verhandlungen in Istanbul nahezu vollständig zu diktieren. Der Ukraine bleibt dagegen kaum noch eine andere Option als zu verhandeln, da sich im Abnutzungskrieg im Osten unweigerlich das größere Ressourcenpotenzial (Material, Technik, Menschen) des russischen Imperialismus durchsetzt. Die letzte große Offensive der Ukraine, der Vorstoß in die russische Region Kursk, endete mit einem strategischen Fiasko. Das Kalkül Kiews bestand darin, sich in der russischen Grenzregion einzugraben und diese zu halten, um ein Faustpfand bei etwaigen Verhandlungen zu haben – nun hält Russland Teile der ukrainischen Grenzregion im Oblast Sumy besetzt. Beide Seiten haben bei den Kämpfen in Kursk, bei denen auch nordkoreanische Einheiten zum Einsatz kamen, hohe Verluste erlitten. Doch ist der Kreml eher als Kiew in der Lage, dies durch erfolgreiche Rekrutierungskampagnen zu kompensieren.
Es sind auch westliche, mit der Ukraine sympathisierende Denkfabriken, die nach jahrelanger Schönfärberei inzwischen nicht umhinkommen, den Realitäten des Abnutzungskrieges an der Front Rechnung zu tragen. Das Institute for the Study of War (ISW) geht in einer aktuellen Einschätzung davon aus, dass Russland nicht nur genügend neue Kräfte mobilisieren kann, um die Verluste an der Front auszugleichen, sondern auch um »die Armeegruppierungen in der Ukraine zu vergrößern«. Der russischen Armeeführung steht somit mehr Menschenmaterial zur Verfügung, obwohl Russland laut ISW in letzter Zeit »signifikante Verluste bei geringeren Erfolgen« erleide. Das zunehmende Ungleichgewicht könnte dazu dienen, die Ukraine bei Verhandlungen »unter Druck zu setzen«. Zudem scheine Moskau darüber hinaus in der Lage zu sein, durch erfolgreiche Rekrutierung eine beachtliche »strategische Reserve« aufzubauen, so das ISW.
Das Atlantic Council warnt bereits vor einer großen russischen Sommeroffensive, die zur »tödlichsten des bisherigen Krieges« auszuarten drohe. Auch hier findet sich zwischen den Zeilen das Eingeständnis der drohenden Niederlage. Die russische Armee erleide zwar weiterhin Verluste bei »kostspieligen Frontalangriffen«, doch befinde sich diese Taktik in konstanter Evolution, sodass diese Attacken mit »Drohnenschlägen, Gleitbomben und Artillerie« unterstützt würden, was die Abwehrmaßnahmen der Ukraine erschwere. Russland halte derzeit die Initiative an der Front und befinde sich »an mehreren Punkten auf dem Vormarsch« (Sumy, Charkiw), wobei die russische Armeeführung laut Einschätzung des Atlantic Council in den kommenden Monaten im Donbass zum großen Vorstoß ansetzen werde – rund um Pokrowsk. Ukrainische Offensivpläne sind somit längst Makulatur. Es geht nur noch um die Frage, ob die Front angesichts der russischen Angriffe und etwaiger Offensiven gehalten werden kann. Der Sommer drohe für die »kriegsmüde Ukraine« somit zu einer »Ausdauerprobe« voller »brutaler Kämpfe« zu werden – gerade angesichts schwindender amerikanischer Militärhilfe.
Der Kreml kann aus einer Position der Stärke in Verhandlungen gehen, um seine Kernforderungen durchzusetzen, die auf die Legalisierung der imperialistischen Aggression abzielen.
Eine direkte militärische Intervention der Europäer gegen die Atommacht Russland – die zeitweise öffentlich in der EU debattiert wurde – gilt inzwischen, trotz aller öffentlichen Solidaritätsbekundungen, als nahezu ausgeschlossen. Mitte Mai erklärte Macron, dass Frankreich trotz aller Unterstützung nicht beabsichtige, wegen der Ukraine den »3. Weltkrieg« zu entfachen. Kurz zuvor bestritten polnische Regierungsstellen Aussagen des amerikanischen Ukraine-Gesandten Keith Kellogg, wonach Warschau bereit sei, Armee-Einheiten in die Ukraine zu verlegen. In Deutschlands Regierungskoalition ist wiederum umstritten, ob Kiew überhaupt die avancierten Taurus-Marschflugkörper geliefert werden sollen. Während Zweitkanzler Merz in einer »strategischen Ambiguität« in dieser Frage verharren möchte, sprach sich SPD-Fraktionschef Matthias Miersch explizit gegen die Lieferung aus.
Ein karikaturhaft imperialistischer Deal
Angesichts dieser für ihn günstigen militärischen und geopolitischen Konstellation kann der Kreml aus einer Position der Stärke in Verhandlungen gehen, um seine Kernforderungen durchzusetzen, die im Endeffekt auf die Legalisierung der imperialistischen Aggression Russlands abzielen, und sogar mehr ukrainisches Land zu fordern, als derzeit von russischen Truppen gehalten wird. Die Logik hinter einem solchen Deal ist klar: die unausweichliche militärische Eroberung auf dem Verhandlungsweg realisieren. Die territorialen Minimalforderungen Putins dürften die Legalisierung der Annexion der Oblaste Krim, Lugansk, Donetsk, Saporischschja und Cherson in ihrer Gänze umfassen. Die marginalen russischen Eroberungen in den Oblasten Charkiw und Sumy dürften Verhandlungsmasse sein.
Hinzu kommen die Einschränkungen der ukrainischen Souveränität, die vom Kreml unter dem Label »Entnazifizierung« verkauft werden: Dies läuft einerseits auf Verhinderung einer Einbindung der Ukraine in die westliche Einflusssphäre hinaus, die durch Neutralitätsverpflichtungen und Rüstungsbeschränkungen für die ukrainische Armee realisiert werden könnten, sowie auf einen »Regime Change«, bei dem Neuwahlen in der Ukraine angesetzt würden. Russland will nicht das ganze Land okkupieren, sondern es wieder in seinen imperialen Orbit einzubinden. Mittelfristig hofft der Kreml darauf, die »Restukraine« in eine Scheinsouveränität zu manövrieren, wie sie derzeit Belarus innehat. Formell unabhängig, ist die ehemalige Sowjetrepublik faktisch – ökonomisch wie militärisch – schon Teil der Russischen Föderation.
Russland muss sich somit gar nicht beeilen bei den Verhandlungen, mitunter stellt sich die Frage, ob diese nicht aus reinen Propagandagründen unternommen werden. Kiew hingegen hat kaum noch gute Karten in diesem imperialistischen Verhandlungspoker, weshalb Selenskij sich auch bereit erklären musste, zu Putins Bedingungen seine Delegation nach Istanbul zu schicken – je länger er wartet, desto schlechter wird seine Position werden. Zudem nehmen die Spannungen an der westlichen Grenze der Ukraine zu, wo der ukrainische Geheimdienst zwei ungarische Staatsbürger verhaftet hat, die Spionage für die Orbán-Regierung in Budapest betrieben haben sollen – es sollen militärische Einrichtungen, die Stimmung in der Bevölkerung und die Verteidigungsfähigkeit der von einer ungarischen Minderheit bewohnten Region Transkarpatien ausgekundschaftet worden sein. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen Ungarn und der Ukraine, beide Länder haben Diplomaten der Gegenseite des Landes verwiesen. Der autoritäre Regierungschef Orbán, aus dessen Umfeld immer wieder Forderungen nach einer Annexion Transkarpatiens ertönen, gilt als russlandnah.
Einzige Chance für Kiew, noch einen gewissen Machthebel zu halten, scheint in der faktischen Kapitulation vor dem Extraktivismus Trumps zu bestehen: Kiew hat ein demütigendes Ressourcenabkommen mit den USA abschließen müssen, um deren Unterstützung nicht vollends zu verlieren. Das Kalkül Kiews: Dieser Anfang Mai unterzeichnete, karikaturhaft imperialistische Deal hätte nur dann einen Sinn, wenn die ressourcenreichen östlichen Gebiete der Ukraine weiterhin unter ukrainischer – nun ja – Souveränität blieben. Kiew hofft darauf, dass Washington sein Interesse an der Rohstoffextraktion militärisch flankieren wird. Die Ukraine wird somit aber de facto zwischen Ost und West zerrissen.
Immerhin will die Financial Times schon Mitte Mai eine »leise Verschiebung« zugunsten der Ukraine innerhalb der unverblümt imperialistischen US-Administration wahrgenommen haben. So erklärte Vizepräsident JD Vance anlässlich einer öffentlichen Tagung in Washington, dass seiner Administration eine Reihe von Forderungen Russlands bekannt seien, die das Kriegsende ermöglichen sollen: »Wir denken, dass sie zu viel verlangen«, so Vance wörtlich. Zugleich aber gab der Vizepräsident zu bedenken, dass man trotz »umfassender Kritik« an Putin die Sichtweise des Kremls nachvollziehen müsse, um die »Motivation der anderen Seite« zu verstehen. Vance war der Ansicht, dass Russland weiterhin an einer »Lösung interessiert« sei.
Wie könnte diese Lösung aussehen? Auch beim ukrainischen Ressourcenpoker sitzt der Kreml am längeren Hebel: Schon Ende Februar, als Kiew sich noch bei dem Verscherbeln der Bodenschätze querstellte, bot Putin seinem amerikanischen Amtskollegen an, die Ressourcen der östlichen Ukraine gemeinsam zu fördern und an die USA zu verkaufen. Ein großer Teil der Bodenschätze befindet sich ohnehin schon unter russischer Kontrolle.