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Zerstörung auf Türkisch

Im Schatten des Krieges in Palästina und Israel beginnt die nächste große Repressionswelle gegen die kurdische Bewegung

Von Hêlîn Dirik

Im Visier der türkischen Armee: die Volksverteidigungseinheiten YPG (hier eine Aufnahme von 2015) und ihre »gesamte Infrastruktur im Irak und Syrien«. Foto: Gemeinfrei

In staatsnahen türkischen Medien wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit der erneuten Eskalation des Kriegs in Palästina und Israel als heldenhafter Unterstützer der Palästinenser*innen porträtiert. »Es gibt kein Wasser, keinen Strom. Gnadenlos werden Gotteshäuser und Krankenhäuser bombardiert. Wo bleiben die Menschenrechte?«, heißt es in seiner Presseerklärung vom Oktober über die aktuelle Situation in Gaza.

Wenn man nicht wüsste, von wem das Zitat stammt, könnte man denken, es ginge um Nordsyrien, wo die Türkei zeitgleich exakt das tut: zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Fabriken, Energie- und Wasserversorgungsanlagen sowie Wohnsiedlungen bombardieren. Die neue sogenannte Luft-Boden-Offensive seit dem 4. Oktober reiht sich ein in eine Kette von andauernden Angriffen gegen die benachbarte Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), genannt Rojava, die sich seit Jahren in mal niederer und mal höherer Intensität wiederholen. Die türkische Armee setzt dabei ihre Bayraktar-Drohnen, Kampfflugzeuge und Artillerie ein, um sowohl Zivilist*innen als auch Kämpfer*innen der Selbstverteidigungskräfte Rojavas anzugreifen.

Neben größeren Angriffskriegen wie in Afrîn 2018 oder in Girê Spî und Serê Kaniyê 2019 steht die selbstverwaltete Region seit Jahren quasi unter Dauerbeschuss durch die türkische Armee und ihre islamistischen Söldnergruppen. Die jüngste Offensive versucht die türkische Regierung, mit der Aktion zweier Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK am 1. Oktober in der türkischen Hauptstadt Ankara zu legitimieren, bei der zwei Polizisten leicht verletzt wurden. Bei einer Pressemitteilung zwei Tage danach behauptete der türkische Außenminister und ehemalige Geheimdienstchef Hakan Fidan, dass die Kämpfer in Rojava ausgebildet worden seien, lieferte jedoch keinerlei Begründung für diese Aussage. Stattdessen wurde verkündet, dass die »gesamte Infrastruktur der PKK/YPG, insbesondere im Irak und in Syrien« deshalb ab sofort Ziel der türkischen Streitkräfte sein würde.

Zivilist*innen als Ziel

Bei den aktuellen Luftangriffen der türkischen Armee unter dem Vorwand der »Terrorbekämpfung« sind jedoch in besonders hohem Maße Zivilist*innen und zivile Infrastruktur im Visier. Allein innerhalb der ersten Woche wurden Dutzende Zivilist*innen sowie Kämpfer*innen durch die Angriffe getötet; darunter zwei Geschwister im Alter von acht und neun Jahren, die bei einem Artillerieangriff in Ain Issa am 10. Oktober ums Leben kamen. Darüber hinaus wurden Dutzende Wohnsiedlungen, Wasser- und Energieversorgungsanlagen, landwirtschaftliche Betriebe, Schulen, Krankenhäuser sowie Fabriken bombardiert. Der Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen wird durch die Angriffe massiv beeinträchtigt. Eine humanitäre Katastrophe und eine drastische Binnenvertreibung sind abzusehen. Die Kriegsverbrechen deuten darauf hin, dass die Türkei auf die Vertreibung, Aushungerung und eine totale Zerstörung der Lebensgrundlagen der kurdischen, armenischen, assyrischen, arabischen und turkmenischen Bevölkerung Rojavas abzielt.

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Letztere hat in den letzten elf Jahren unermüdlich und trotz zahlreicher und permanenter Angriffe durch die Türkei und/oder islamistische Kräfte am Aufbau und an der Erhaltung eines demokratischen, selbstverwalteten Gesellschaftsmodells gearbeitet, das auf den Prinzipien der Rätedemokratie, Frauenbefreiung, Ökologie und kooperativen Wirtschaft beruht. Als die Region ab 2014 vom Islamischen Staat (IS) belagert wurde, waren es Kampfeinheiten in Rojava wie die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) und YPG (Volksverteidigungseinheiten), später Teil der SDF (Syrische Demokratische Kräfte), die gegen den Terror des IS, der Zehntausende Menschenopfer forderte, unerbittlich Widerstand leisteten. Durch sie konnte der IS in Syrien weitestgehend besiegt werden.

Unterstützung für Islamisten

Parallel dazu unterstützte die Türkei bereits kurz nach Beginn des Bürgerkriegs islamistische Kräfte und Aktivitäten in Syrien und begünstigte damit das Erstarken des IS. Aktuell besteht in Rojava jederzeit die Gefahr von Anschlägen durch IS-Schläferzellen – und diese wird durch jeden türkischen Angriff erhöht. Die Selbstverwaltung in Nordsyrien, die ohnehin seit Jahren mit dem Problem der IS-Gefangenen allein gelassen wird, wird durch die türkischen Angriffe aktiv in ihrem Kampf gegen die Reorganisierung des IS gehindert. Der Luftangriff am 9. Oktober, bei dem 29 Angehörige der Asayîş, die für die innere Sicherheit in der Selbstverwaltung und somit auch für den Kampf gegen den IS zuständig sind, getötet wurden, verdeutlicht die Absicht der Türkei, islamistische Kräfte in der Region zu unterstützen. »Die Fortsetzung der türkischen Angriffe würde es IS-Zellen ermöglichen, aktiv zu werden und eine Bedrohung für die regionale und internationale Sicherheit darstellen«, erklärt die Deutschland-Vertretung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in einer Stellungnahme.

Der Nato-Staat Türkei greift die einzige Kraft in Nordsyrien an, die eine Reorganisierung des IS verhindert. Reaktionen aus den USA oder Deutschland? Fehlanzeige.

Die aktuelle Angriffswelle ist nicht auf Rojava beschränkt. So wurden etwa im selbstverwalteten Geflüchtetencamp Maxmur in Südkurdistan/Nordirak ebenfalls Zivilist*innen bei einem Angriff auf ein Moscheegelände verletzt. Darüber hinaus verschärft die Türkei unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ihre Repressionen gegen kurdische Aktivist*innen innerhalb der Türkei. In der gesamten Türkei wurden in der ersten Oktoberhälfte Dutzende Menschen durch die Anti-Terror-Einheiten festgenommen.

Zu erwähnen bleibt, dass – wenig überraschend – internationale Reaktionen aus der Politik so gut wie ausbleiben. Derzeit sind Verurteilungen des Terrors der islamistischen Hamas in aller Munde. Was kaum verurteilt wird, ist das Erdogan-Regime, das wohlgemerkt enge Kontakte zur Hamas-Führung pflegt, die in Istanbul eine Kommandozentrale hat und von dort aus Aktivitäten durchführt. Im aktuellen Konflikt bietet sich Erdogan als »Vermittler« an, um mit der Hamas über die Freilassung von Geiseln zu verhandeln. Das Vorgehen der islamistischen Gruppe hat Erdogan in keiner seiner Stellungnahmen klar verurteilt.

Nun greift die Türkei, der Staat mit der zweitgrößten Nato-Armee, die einzige Kraft in Nordsyrien an, die eine Reorganisierung des IS verhindert. In der Politik herrscht Schweigen dazu. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die sich vor nicht allzu langer Zeit mit dem kurdischen Slogan »Jin Jiyan Azadî« (dt. Frau, Leben, Freiheit) präsentiert hat, schüttelt in diesen Wochen Hände mit dem türkischen Außenminister Fidan und findet den Dialog mit der Türkei »wahnsinnig wichtig«.

Im Schatten des Kriegs in Palästina und Israel beginnt gerade die nächste große Repressionswelle gegen die kurdische Bewegung und der nächste große Angriffskrieg in Nordsyrien, der ohne internationalen Druck, Aufmerksamkeit und Solidarität sowohl humanitär als auch politisch katastrophal für Rojava und seine Bevölkerung ausgehen könnte. Rojava brachte auch Hoffnung auf Frieden in der gesamten Region – diese Hoffnung kann nur bestehen bleiben, wenn linke, demokratische und vor allem feministische Kräfte Rojava und seine Errungenschaften aktiv verteidigen.

Hêlîn Dirik

ist freie Autorin und Übersetzerin aus Offenbach und schreibt über feministische Kämpfe, Kurdistan, Geschichte und Philosophie.

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