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Das argentinische Paradoxon

Wirtschaftsminister Sergio Massa zieht wider Erwarten in die Stichwahl um das Präsidentenamt

Von Robert Samstag

Nahaufnahme von Javier Milei in einer Fernsehsendung mit weit geöffneten Augen.
Dem ultrarechten Javier Milei scheint die Wahlkampagne ins Gesicht geschrieben zu sein. In die Stichwahl gegen Wirtschaftsminister Sergio Massa schaffte er es trotzdem. Foto: Todo Noticias / Wikimedia, CC BY 3.0 Deed

Hektik, Stress, Ungewissheit – in den Straßen Buenos Aires’ war die Anspannung bereits Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen deutlich zu spüren. Viele fürchteten die wirtschaftlichen Auswirkungen im Falle eines Wahlerfolgs des Marktfanatikers Javier Milei. Bereits bei den Vorwahlen im August lag der Außenseiter mit 30 Prozent der Stimmen vor der Kandidatin der rechten Opposition, Patricia Bullrich, und dem amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa.

Doch das Erstaunen war groß, als die ersten Hochrechnungen der Wahlergebnisse am Abend des 22. Oktober eintrafen. Entgegen allen Umfragen erreichte der peronistische Regierungskandidat Sergio Massa mit 37 Prozent der Stimmen den ersten Platz und übertraf das Ergebnis seiner Koalition bei den Vorwahlen um 10 Prozent. Damit lag er deutlich vor Milei, der nicht über sein Vorwahlergebnis hinauskam und erneut 30 Prozent der Stimmen erhielt.

Das Wahlergebnis sorgte für besondere Überraschung angesichts der tiefen Krise, in der die argentinische Wirtschaft steckt. Die Inflation wird in diesem Jahr 150 Prozent übersteigen, allein in den vergangenen zwei Monaten stiegen die Lebensmittelpreise um über 30 Prozent an. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, zwei von drei Kindern wachsen in Armut auf, und Monat für Monat werden es mehr. Für viele Beobachter*innen handelt es sich um ein Paradoxon: Wie kam es dazu, dass der für diese Krise verantwortliche Wirtschaftsminister der meistgewählte Kandidat wurde?

Bei den Vorwahlen, in denen die Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahlen bestimmt werden, bekam die Regierungskoalition Unión por la Patria (»Union für das Vaterland«, UP) den Unmut über die fortschreitende Verschlechterung der Lebensbedingungen zu spüren und landete auf dem dritten Platz hinter Milei und der rechten Opposition Juntos por el Cambio (»Gemeinsam für den Wandel«, JxC). Massa konnte nun drei Millionen Stimmen zurückgewinnen und in vielen Provinzen des Landes eine echte Aufholjagd hinlegen.

Es war nicht die eigene Stärke, sondern die gespaltene Opposition, die Massa zu seinem Wahlsieg verhalf.

Nichtsdestotrotz handelt es sich um das schlechteste Wahlergebnis des Peronismus seit seiner Gründung als bürgerlich-nationalistische Bewegung mit enger Bindung an die organisierte Arbeiter*innenklasse in den 1940er Jahren. In den vergangenen 20 Jahren wurde der Peronismus von seinem linken Flügel unter Ex-Präsidentin Cristina Kirchner angeführt. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen von 2019 verlor UP drei Millionen Wähler*innenstimmen. Es war also nicht die eigene Stärke, sondern die gespaltene Opposition, die Massa zu seinem Wahlsieg verhalf.

Die Hauptleidtragende dieser Situation ist die Wunschkandidatin des internationalen Finanzkapitals, Patricia Bullrich (JxC). Sie musste eine herbe Niederlage hinnehmen und belegte mit nur 24 Prozent der Stimmen den dritten Platz. So bezeichnete das britische Magazin The Economist das Ausscheiden der ehemaligen Sicherheitsministerin als »schlimmstmöglichen Ausgang«. Ein Ergebnis dieser Wahlniederlage ist die schon jetzt absehbare Neuordnung der politischen Rechten, deren verschiedene Flügel sich entweder hinter Milei oder Massa einreihen werden. Nur wenige Stunden nach der Wahlniederlage erklärte Bullrich ihre Unterstützung für Milei und trieb damit den Bruch mit den Sektoren der rechten Opposition voran, die einen negativen Einfluss der Präsidentschaft Mileis auf die politische Stabilität und das Geschäftsklima befürchten.

Schrille Kampagne der Ultrarechten

Dieser Eindruck schwächte die Unterstützung zentraler Akteur*innen des ökonomischen Establishments und der Medien, die Milei den Rücken kehrten. Milei hatte sich mit seiner emphatischen Agitation gegen die politische Kaste und seinen Vorschlägen zur Bekämpfung der Inflation gerade für einkommensschwache und prekär Beschäftigte in eine Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung ihrer Situation verwandelt. Ein kleinerer Teil seiner besonders jungen und größtenteils männlichen Wähler*innen stimmte hingegen aus tiefer Überzeugung für ihn: Sie sahen in seinen reaktionären Ansichten eine patriarchale Antwort auf die feministische Bewegung der letzten Jahre. Mit seinen relativierenden Aussagen über die letzte Militärdiktatur von 1976 bis 1983, der 30.000 Menschen zum Opfer fielen, konnte er zudem Sektoren der Armee und des Sicherheitsapparates ansprechen.

Im Laufe der Kampagne verhedderte sich der Ökonom jedoch immer mehr im Konstrukt seiner eigenen ideologischen Referenzen: Je mehr in der Gesellschaft über seine Forderungen nach der Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens, über die Liberalisierung des Waffengesetzes und die Einführung eines Marktes für Kinder und Organe diskutiert wurde, desto unattraktiver wurde der schrille Kandidat der neuen Rechten.

Dazu kam eine von der Regierung angeheizte Angstkampagne, die Milei mit einem kompletten Kontrollverlust in Verbindung setzte. Milei selbst spielte mit dem Feuer, als er sich für eine größtmögliche Entwertung des argentinischen Pesos aussprach, um so seine Pläne der Dollarisierung, also der Einführung des US-Dollar als Ersatz für die Landeswährung, durchführen zu können. Große Teile der Bevölkerung fürchteten eine Hyperinflation und den Verlust ihrer Ersparnisse, wie es bereits 1989 bis 1991 und 2001 geschehen war, und wählten mit Massa die Person, die in den kommenden Monaten die größere Stabilität verspricht.

Wahlkampf der radikalen Linken

In diesem polarisierten Klima überwog die Angst vor dem Chaos gegenüber der Ablehnung einer bereits jetzt für weite Teile der arbeitenden Bevölkerung nur schwer zu ertragenden Situation. Besonders das Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Abzahlung des 45-Milliarden-US-Dollar-Kredites schränkt die Sozialausgaben ein und treibt die Inflation an. (ak 692) Obwohl sich Massa während des Wahlkampfes rhetorisch gegen den IWF positionierte, leistete er als Präsident des Abgeordnetenhauses einen entscheidenden Beitrag zur Abstimmung des Abkommens im Frühjahr 2021. Am Tag nach der Vorwahl verkündete er im Auftrag des IWF eine Entwertung des argentinischen Peso um 22 Prozent, was einen schlagartigen Anstieg der Inflation und den Verlust der Kaufkraft von Renten und Löhnen zur Folge hatte.

Neben den Kandidaturen der Herrschenden konnte mit Myriam Bregman auch eine Vertreterin der radikalen Linken zu den Präsidentschaftswahlen antreten. Während des Wahlkampfes verurteilte die Spitzenkandidatin des trotzkistischen Wahlbündnisses Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (»Front der Linken und Arbeiter*innen – Einheit«, FIT-U) die Sparpolitik der Regierung im Dienste des IWF und trat für die souveräne Nichtanerkennung der Auslandsschulden ein. Stattdessen sollten Löhne, Renten und Sozialleistungen erhöht und an die Inflation gekoppelt werden, finanziert durch eine Reichensteuer und die Verstaatlichung des Bankenwesens und des Außenhandels.

In der Kampagne und besonders in den TV-Debatten konnte Bregman vor Millionen Menschen ein sozialistisches Programm vorstellen und erhielt viel Unterstützung für ihre Forderungen. Sie stellte sich klar gegen den ultrarechten Milei, den sie als »Schmusekatze der Bosse« bezeichnete, grenzte sich jedoch auch klar von der Regierungspolitik von Sergio Massa ab und kritisierte, dass seine Kürzungspolitik die Grundrente auf umgerechnet 120 Euro gedrückt hat.

Dass die FIT-U trotz der Krise nicht an Stimmen zulegen konnte, lässt sich zu großen Teilen der Angst zuschreiben, die Mileis Kandidatur unter Arbeiter*innen und Frauen weckte.

Mit 2,7 Prozent der Stimmen und insgesamt rund 850.000 Stimmen konnte die FIT-U ihre Wähler*innenbasis beibehalten und erzielte einen weiteren Abgeordneten, den Soziologiedozenten Christian Castillo. Dass die FIT-U trotz der Krise nicht an Stimmen zulegen konnte, lässt sich zu großen Teilen der Angst zuschreiben, die Mileis Kandidatur unter Arbeiter*innen und Frauen weckte. Im Kontext ausbleibender Proteste schien für diese Sektoren eine Stimme für die Regierung die beste Möglichkeit, die Rechte zu stoppen. Dort wo die radikale Linke ihr Programm in konkreten Kämpfen unter Beweis stellen konnte, wuchsen ihre Stimmanteile kräftig. Wie im äußersten Norden in Jujuy (ak 695), wo die Linke Teil der Proteste von Arbeiter*innen und indigenen Gemeinden gegen den Lithiumabbau durch multinationale Bergbaukonzerne war.

Auch wenn Massa mit einem gewissen Vorsprung in die Stichwahlen geht, ist der Ausgang der Wahlen vollkommen offen. Die Unterstützung Bullrichs könnte Milei die nötigen Stimmen verschaffen, auch wenn sich ein Sektor der rechten Opposition bereits als Teil einer möglichen Massa-Regierung sieht, der im Falle eines Wahlsieges eine »Regierung der nationalen Einheit«, einer Art »Großer Koalition« mit Liberalen und Konservativen, bilden möchte.

Seine Präsidentschaft wäre das Ende der 20-jährigen kirchneristischen Hegemonie innerhalb des Peronismus, also der Vorherrschaft des von Ex-Präsidentin Cristina Kirchner angeführten linken Flügels hin zu einem unternehmensfreundlichen Peronismus wie in den 1990er Jahren. Eine solche Regierung würde eine größere Nähe zum US-Imperialismus und eine Intensivierung des auf den Abbau und Ausverkauf natürlicher Ressourcen basierenden Neo-Extraktivismus zur Folge haben. Der Ablehnung des »geringeren Übels« und der Bewahrung der politischen Unabhängigkeit wird es die FIT-U zu verdanken haben, einen strategischen Stützpunkt der Organisierung des Klassenkampfes gegen die Kürzungspolitik der kommenden Regierung bilden zu können.

Robert Samstag

lebt in Argentinien und schreibt für ak und Klasse Gegen Klasse über soziale Kämpfe und die politische Lage im Land.