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Der große Lithiumrausch

Im Norden Argentiniens kämpfen Arbeiter*innen und indigene Gemeinschaften gegen die Plünderung ihrer natürlichen Ressourcen

Von Robert Samstag

Eine Gruppe von Demonstrant*innen laufen auf einer Landstraße und halten indigene Flaggen und Transparente. Im Hintergrund sind Gebirge zu sehen
Wie hier in San Salvador de Jujuy im Juni gingen viele Menschen gegen die autoritäre Verfassungsreform auf die Straße. Foto: Susi Maresca

Jujuy sollte der Testballon für die Angriffe der Herrschenden werden. Doch es wurde zu einem Labor des Widerstandes von unten.« Mit diesen Worten fasst Miguel Guzmán gegenüber ak die Stimmung zusammen, die seit zwei Monaten in der Provinz im Norden Argentiniens herrscht. Guzmán ist Grundschullehrer an einer öffentlichen Schule in der Kleinstadt Humahuaca, die vor allem aufgrund ihrer atemberaubenden Berglandschaft ein beliebtes Tourismusziel ist. In den letzten Wochen war der Ort Teil einer enormen Protestwelle, die ganz Jujuy erschütterte und kurz vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen von großer Bedeutung für die Zukunft des Landes ist.

»Die Reform muss weg, die Löhne müssen hoch«

Auslöser der Proteste war eine Reform der Provinzverfassung, die der konservative Gouverneur Gerardo Morales durchsetzen wollte. Mit der autoritären Reform wollte Morales die Macht seiner Regierung ausweiten und das Protestrecht einschränken. Doch nicht nur das: Die Reform ermöglicht es dem Staat auch, Gebiete zu räumen, die aktuell von indigenen Gemeinden bewohnt werden. In diesen Gebieten befinden sich große Vorkommen an wertvollen Metallen wie Lithium, das für die Batterieproduktion benötigt wird. Damit wollte Morales eine Provinz nach seiner Vorstellung schaffen: ohne Möglichkeit auf Widerstand und mit perfekten Bedingungen für imperialistische Konzerne, in Jujuy ihre Gewinne zu erzielen.

Schnell formierte sich breiter Widerstand, zum einen von Lehrer*innen, die Anfang Juni für höhere Löhne und gegen die Reform in den Streik traten, und zum anderen von indigenen Gemeinden, die mit zeitweise über 20 Straßenblockaden die wichtigsten Verkehrsadern der Provinz lahmlegten. Dazu kamen mehrere provinzweite Streiks im öffentlichen Dienst und massive Demonstrationen von Tausenden, die sich in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy versammelten. Ein wesentlicher Grund für die breite Unterstützung ist die prekäre wirtschaftliche Lage, in der sich der Großteil der arbeitenden Bevölkerung befindet: Die Inflation liegt bei 120 Prozent und ein Gehalt im öffentlichen Dienst liegt mit umgerechnet 120 Euro weit unter der Armutsgrenze. Daher lautete die von den Protestierenden am häufigsten wiederholte Losung: »Die Reform muss weg, die Löhne müssen hoch.«

Die Polizei ging mit aller Brutalität gegen diese Proteste vor. Bei einer Straßenblockade am 17. Juni in der Ortschaft Purmamarca wurde Cristian Oviedo, ein vollkommen unbeteiligter Tourist, von der Polizei festgenommen und für 24 Stunden in Gewahrsam gehalten. Wenige Tage darauf kam es während einer Demonstration in der Provinzhauptstadt zu 70 Festnahmen. In Humahuaca ging die Polizei bei einer Versammlung vor dem Kommunalparlament mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor – einer von ihnen, der 28-jährige Joel Rodrigo Paredes, verlor dabei sein rechtes Auge. Die Bilder der Polizei, die auf die Köpfe der Demonstrant*innen zielte, ähnelten denen, die von den Massenprotesten der vergangenen Jahre in Chile oder Kolumbien um die Welt gingen.

Trotz großer Widerstände wurde die Verfassungsreform am 15. Juni von den Abgeordneten der konservativen »Radikalen«, zu denen Morales gehört, sowie der peronistischen Opposition einstimmig angenommen. Die einzigen Abgeordneten, die sich von Beginn an gegen die Reform und für die Offenlegung ihrer Inhalte eingesetzt hatten, hatten die Versammlung bereits verlassen und sich den Protesten angeschlossen. Die trotzkistische Front der Linken und Arbeiter*innen – Einheit (FIT-U) war bei den Gouverneurswahlen im Mai mit 13 Prozent die drittstärkste Kraft geworden und hatte sechs Sitze in Verfassungskonvent. Schon seit einigen Jahren sind die FIT-U und besonders der indigene Müllarbeiter Alejandro Vilca von der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS) Bezugspunkte für viele Arbeiter*innen und Jugendliche, die sich vom politischen System abwenden und sich an Protesten beteiligen. Die Abgeordnete Natalia Morales, ebenfalls Teil der PTS, wurde zu einer bekannten Figur der Bewegung, nachdem sie bei einer Straßenblockade in Purmamarca brutal festgenommen und mehrere Meter über den Boden geschleift worden war.

Jagd nach dem »weißen Gold«

Dieses autoritäre Vorgehen gegen soziale Proteste ist keine Ausnahme, sondern ein Charakteristikum des staatlichen Handelns, dem besonders die indigenen Gemeinden der Mapuche im Süden des Landes bereits seit Jahren ausgesetzt sind. Und auch in Jujuy haben es die Provinzregierung und multinationale Konzerne vor allem auf die Ländereien der indigenen Gemeinden der Kollas und Atacameños abgesehen. In diesen Gebieten, die im sogenannten »Lithium-Dreieck« zwischen Argentinien, Bolivien und Chile liegen, befindet sich die Hälfte der weltweiten Lithiumreserven. Argentinien ist nach Australien, Chile und China das Land mit den viertgrößten Lithiumreserven der Welt. Die gestiegene Nachfrage hat zu einem enormen Preisanstieg des »weißen Goldes« geführt: Eine Tonne Lithiumkarbonat kostet aktuell 30.000 US-Dollar, im Jahr 2016 lag der Preis noch bei 5.000 US-Dollar.

Eine Tonne Lithiumkarbonat kostet aktuell 30.000 US-Dollar, im Jahr 2016 lag der Preis bei 5.000 US-Dollar.

Das Alkalimetall spielt eine zentrale Rolle in der Strategie imperialistischer Regierungen und Konzerne, die angesichts des Klimawandels in der Elektromobilität eine Säule der Erneuerung der Kapitalakkumulation unter »grünen« Vorzeichen sehen. Damit einher geht eine verstärkte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch diese multinationalen Konzerne, besonders im globalen Süden. Dieser Neo-Extraktivismus, wie unter anderem die argentinische Soziologin Maristella Svampa ihn nennt, sei immanenter Bestandteil der aktuellen Phase der kapitalistischen Akkumulation auf der ganzen Welt. Das verschärfe die Abhängigkeit halbkolonialer Länder wie Argentinien von imperialistischen Staaten wie den USA, Deutschland und Frankreich oder Japan.

Aktuell gibt es 38 Bergbauprojekte in Argentinien, eines der größten liegt im Salar de Olaroz in Jujuy. Dort ist das australische Bergbauunternehmen Alkem zusammen mit Toyota und der argentinischen Jemse aktiv. Im Mai dieses Jahres fusionierte Alkem mit dem US-amerikanischen Minenkonzern Livent, der ein Projekt in der Nachbarprovinz Catamarca betreibt, zu einem der weltweit größten Lithium-Förderer. Im vergangenen Jahr exportierte Argentinien Lithiumkarbonat im Wert von 696 Millionen US-Dollar, bis 2030 sollen es satte 8,7 Milliarden US-Dollar werden. Von diesen Milliarden bleibt jedoch nur ein Bruchteil im Land. So erhebt die Provinz Jujuy eine Exportsteuer von gerade einmal drei Prozent, verglichen mit 40 Prozent, die das Nachbarland Chile aus Lithium-Exporteinnahmen einbehält. Erst vor kurzem wurde öffentlich, dass Firmen wie Livent diese Abgaben durch Steuertricks noch weiter senken, indem sie die Metalle an Subunternehmen unterhalb des Marktwertes verkaufen und so zu einem geringeren Preis exportieren – eine illegale Praxis, gegen die der Staat jedoch nicht vorgeht.

Der Großteil des argentinischen Lithiums wird dabei nach Ostasien exportiert, allen voran China und Japan. Während US-amerikanische und australische Bergbauunternehmen und ihre ostasiatischen Abnehmerkonzerne den Gewinn unter sich aufteilen, versuchen sich auch deutsche Konzerne an dem gewinnreichen Geschäft zu beteiligen. Bei seinem Südamerika-Besuch im März machte sich Bundeskanzler Olaf Scholz besonders für Handelsabkommen und Partnerschaften stark, um einen Teil der Rohstoffausbeutung zu erhalten. BMW unterhält bereits eine Partnerschaft mit dem US-Unternehmen Livent, dessen Abbaustätte in Catamarca die bayerischen Motorenwerke mit Lithium für ihre E-Autos beliefern.

Zu den Leidtragenden dieses lukrativen »grünen« Geschäfts gehört in erster Linie die lokale, meist indigene Bevölkerung, deren Lebensgrundlagen häufig mit dem Umfeld der Salzseen zusammenhängen, aus denen das Lithium gewonnen wird. Sowohl die Provinzregierung als auch die Konzerne sprechen davon, dass die Gewinnung umweltverträglich sei. Um das Lithium aus der unter den Salzseen befindlichen Salzlösung abzuschöpfen, wird diese auf Felder gepumpt, wo sie verdunstet. Diese Methode bedeutet in einer der trockensten Zonen der Welt einen enormen Wasserkonsum. Andrea Izquierdo, Biologin der staatlichen Forschungsorganisation Conicet, schätzt im Gespräch mit der Onlinezeitung La Izquierda Diario die Auswirkungen des Lithium-Abbaus wie folgt ein: »Die Minen greifen in die Feuchtgebiete und Ökosysteme der Salzseen ein, von denen die lokale Bevölkerung lebt. Sie rauben ihnen dadurch etwas so Grundlegendes wie das Wasser, das sie trinken.«

Im aktuellen Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im Herbst sprechen sich alle Kandidat*innen der bürgerlichen Parteien für die Ausweitung dieser extraktivistischen Praxis aus. Von dem Kandidaten und Wirtschaftsminister der Regierungskoalition, Sergio Massa, bis hin zu eben jenem Gouverneur Morales, der für die neoliberale Opposition antritt und mehr Repression und Sparprogramme vertritt. Die Proteste in Jujuy haben deutlich gemacht, dass diese Angriffe auf breiten Widerstand treffen werden – und dass die in der FIT-U vereinte Linke eine tatkräftige Unterstützung für die anstehenden Kämpfe sein kann.

Robert Samstag

lebt in Argentinien und schreibt für ak und Klasse Gegen Klasse über soziale Kämpfe und die politische Lage im Land.