analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 696 | International

Pakt gegen Arévalo

In Guatemala deutet sich nach der Wahl eine Linkswende an – die Widerstände des alten Establishments sind indes groß

Von Tobias Lambert

Bernardo Arévalo, Sieger der Stichwahl um das Präsidentenamt in Guatemala, steht an der Tür eines schwarzen Autos, bereit zum einsteigen, und winkt lächelnd in die Kamera. Zwei Männer, mutmaßlich Bodyguards, stehen rechts neben ihm und gucken ebenfalls in die Kamera.
Bernardo Arévalo, Sieger der Stichwahl um das Präsidentenamt in Guatemala, strahlt Optimismus aus. Den wird er in den kommenden Wochen auch brauchen. Foto: Gobierno de Guatemala/Wikimedia Commons, gemeinfrei

Die herrschende Elite hat sich verzockt. Eigentlich deutete alles darauf hin, dass sich in der Stichwahl in Guatemala am 20. August zwei Kandidat*innen gegenüber stehen würden, die das bestehende System des umgangssprachlich so genannten Paktes der Korrupten stützen. Diese Netzwerke in Justiz, Politik, Wirtschaft und Militär, die eng mit dem organisierten Verbrechen verzahnt sind, geben in Guatemala seit Jahren den Ton an. Damit das so bleibt, hatte das Oberste Gericht im Vorfeld der ersten Runde am 25. Juni drei unbequeme Kandidat*innen mit Antrittsverboten belegt. (ak 694)

Doch sie übersahen Bernardo Arévalo. Der Mitte-Links-Politiker der jungen Partei Movimiento Semilla (Saatkorn-Bewegung) lag in den Umfragen noch bis kurz vor der Wahl im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Überraschend schaffte er es dann in die Stichwahl gegen Sandra Torres von der Partei Unidad Nacional de la Esperanza (Nationale Hoffnungspartei, UNE), die bereits zum dritten Mal kandidierte. Die Ex-Frau des ehemaligen Präsidenten Álvaro Colom (2008 bis 2012) vertrat einst moderat sozialdemokratische Positionen, ist aber längst deutlich nach rechts gerückt. Während Torres im ersten Wahlgang knapp 16 und Arévalo zwölf Prozent erreichte, war die populärste Option jedoch eine andere: Ungewöhnlich hohe 17,4 Prozent waren bewusst abgegebene Nullstimmen (voto nulo), wohl aus Protest gegen die Suspendierung der Anti-Establishment-Kandidat*innen. Weitere sieben Prozent entfielen auf die ebenfalls vorhandene Option, »keine der Kandidat*innen« (voto en blanco).

In der Stichwahl wanderte ein Großteil dieser Stimmen dann zu Arévalo. Der 64-jährige triumphierte mit knapp 61 Prozent deutlich über seine Kontrahentin. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 45 Prozent. Während der derzeit noch amtierende Präsident Alejandro Giammattei das Ergebnis anerkannte, spricht die unterlegene Kandidatin Torres bis heute von Betrug. Belege dafür gibt es freilich keine.

Die Linke nach dem Putsch

Bernardo Arévalo ist der Sohn des ersten demokratischen, linksreformerischen Präsidenten Juan José Arévalo, der von 1945 bis 1951 regierte. Gemeinsam mit seinem Nachfolger Jacobo Árbenz prägte dieser einen zehnjährigen demokratischen Frühling, dem der von den USA unterstützte Putsch 1954 ein jähes Ende bereitete. Auslöser waren Enteignungen von brach liegenden Ländereien der United Fruit Company (heute Chiquita). Das US-amerikanische Unternehmen besaß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen »Staat im Staate« dar. Bernardo Arévalo selbst kam aufgrund dieser Ereignisse 1958 im uruguayischen Exil zur Welt und verbrachte seine Kindheit in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. In Guatemala folgten auf den Putsch Militärdiktaturen und ab 1960 ein 36-jähriger Bürgerkrieg, unter dessen Folgen das Land bis heute leidet. Insgesamt 200.000 Menschen kamen während des Krieges gewaltsam ums Leben. Laut dem Bericht der UN-Wahrheitskommission gehen 93 Prozent der begangenen Menschenrechtsverletzungen auf die Sicherheitskräfte zurück.

Seit Abschluss der Friedensverträge 1996 gilt die Linke als schwach und zersplittert. Dabei sind die sozialen Probleme enorm: Etwa 60 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, viele Menschen verlassen das Land in Richtung USA. Mit gut 17 Millionen Einwohner*innen ist Guatemala das bevölkerungsreichste Land Zentralamerikas mit einem hohen Anteil von über 40 Prozent indigener Bevölkerung. Diese verteilt sich auf mehr als 20 unterschiedliche Maya-Ethnien, die überproportional von der tiefen Krise und einem verbreiteten Rassismus betroffen sind.

Im Wahlkampf hatte sich Arévalo vor allem gegen die Korruption positioniert und eine Stärkung des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystems gefordert. »Unsere Regierung entspringt dem frontalen Kampf gegen die Korruption, die die Institutionen gekapert hat«, erklärte er gegenüber Medien kurz nach seinem Wahlsieg.

Arévalos Partei Movimiento Semilla ging aus Anti-Korruptionsprotesten hervor, durch die vor allem junge Menschen 2015 den Rücktritt des damaligen Präsidenten Otto Pérez Molina bewirkten. Auch Arévalo war damals auf die Straße gegangen. Die Internationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), die unter Leitung der Vereinten Nationen (UN) seit 2006 in Guatemala aktiv war, hatte zuvor zahlreiche Korruptionsfälle ranghoher Politiker*innen und Unternehmer*innen aufgedeckt. 2006 bat die damalige Regierung von Óscar Berger die UN in einem beispiellosen Schritt um Unterstützung, um die grassierende Straflosigkeit zu bekämpfen. Ein Jahr später nahm die CICIG ihre Arbeit auf. 2019 verwies der damalige Präsident Jimmy Morales die UN-Mission des Landes, nachdem er sie vor der UN-Vollversammlung als »Bedrohung für den Frieden in Guatemala« bezeichnet hatte. Die CICIG habe »ein Terrorsystem errichtet, das Andersdenkende verfolgt und gegen sie ermittelt«.

Man könnte es auch anders ausdrücken: Die politischen und wirtschaftlichen Eliten sahen durch die erfolgreiche Arbeit der UN-Mission ihre Macht bedroht. Seit die CICIG das Land verlassen hat, agiert der Pakt der Korrupten ohne institutionelle Gegenwehr. Viele der Jurist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen, die sich gegen Korruption einsetzten, wurden strafrechtlich verfolgt und mussten das Land verlassen.

Institutionen in rechter Hand

Arévalos überraschender Wahlsieg schürt nun die Hoffnung auf einen zweiten politischen Frühling, in dem die Korruption zurückgedrängt und die herrschenden Netzwerke ausgeschaltet werden könnten. Vorwiegend junge Menschen gehen zur Verteidigung der Wahlergebnisse auf die Straße und mobilisieren in sozialen Netzwerken. Auch indigene Bewegungen und Organisationen stellen sich zunehmend hinter den frisch gewählten Präsidenten, obwohl dieser ursprünglich deutlich stärker die junge urbane Bevölkerung ansprach. Doch die Hürden sind hoch. Die Amtsübergabe findet erst Anfang kommenden Jahres statt. »Nach aktuellem Stand kann mich niemand daran hindern, am 14. Januar das Amt anzutreten«, erklärte Arévalo, nachdem das Wahlgericht seinen Sieg verkündet hatte.

Dass der 64-jährige dann tatsächlich den derzeitigen konservativen Präsidenten Giammattei ablöst, ist jedoch alles andere als sicher. Denn der Pakt der Korrupten gibt sich nach der demokratischen Wahl noch lange nicht geschlagen. Bereits kurz nach der ersten Wahlrunde hatten neun rechte Parteien versucht, das Wahlergebnis anzufechten. Auf Geheiß des korrupten Staatsanwalts Rafael Curruchiche suspendierte ein Richter Arévalos Partei Movimiento Semilla aufgrund angeblicher Unterschriftenfälschungen bei der Gründung vor sechs Jahren. Das Wahlgericht weigerte sich jedoch, diesen Schritt mitten im laufenden Wahlverfahren umzusetzen. Die Manöver scheiterten also zunächst, das Oberste Wahlgericht bestätigte die Resultate der ersten wie auch der zweiten Wahlrunde. Nach Arévalos Wahlsieg jedoch suspendierte das Oberste Gericht dessen Partei tatsächlich, um den Schritt dann vorläufig wieder aufzuheben – allerdings nur bis zum 31. Oktober.

Dass Arévalo tatsächlich den derzeitigen konservativen Präsidenten Giammattei ablöst, ist alles andere als sicher.

Wie es anschließend weitergeht und was dies für die Abgeordneten bedeuten würde, die über die Liste von Movimiento Semilla gewählt wurden, ist offen. Ebenso unklar ist, was zu dem teilweisen Rückzieher des Gerichts geführt hat. Möglicherweise hat das nach der Wahl erhöhte internationale Interesse eine Rolle gespielt. Dieses aber wird nicht ewig anhalten. Arévalo sprach von einem »juristischen Staatsstreich«, der im Gange sei. »Bis zum 14. Januar bleibt viel Zeit, um die Amtsübergabe zu behindern«, betonte die indigene guatemaltekische Menschenrechtsanwältin Carmela Curup Anfang September auf der Tagung »Zentralamerika im Fokus« in Berlin. »Es besteht auch die Gefahr, dass infiltrierte Personen bei den friedlichen Protesten auf der Straße Gewalt entfachen.« Dennoch gibt sie sich optimistisch. »Wir haben Hoffnung, auch wenn die Herausforderungen sehr groß sind.«

Hoffen auf demokratischen Frühling

Das Hin und Her zeigt zumindest, dass der Pakt der Korrupten die staatlichen Institutionen nicht gänzlich kontrolliert. Es besteht allerdings die Befürchtung, dass Arévalo und die gewählte Vizepräsidentin Karin Herrera noch vor der Amtsübergabe ermordet werden könnten. Aufgrund konkreter Drohungen erließ die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) Ende August Schutzmaßnahmen. Diese zu gewährleisten obliegt allerdings dem selben korrupten Staatsapparat, den Arévalo dringend reformieren muss. Institutionen wie die Generalstaatsanwaltschaft unter Leitung von Consuelo Porras, die sogar in den USA auf einer Sanktionsliste korrupter Beamt*innen steht, werden ansonsten dauerhaft gegen Arévalo arbeiten.

Im Kongress wird Movimiento Semilla – sollte die Partei nicht aufgelöst werden – mit 23 der 160 Abgeordneten zudem nur die drittstärkste Fraktion stellen. Auch die Zusammenarbeit mit anderen progressiven Parteien würde keine Mehrheit einbringen. Die Kommunalpolitik bleibt zudem fest in der Hand der bisherigen Machthaber, deren korrupte Netzwerke große Teile der Justiz und Verwaltung kontrollieren. Und auch wenn Lateinamerika heute überwiegend von linken Politiker*innen regiert wird, sieht es in der unmittelbaren zentralamerikanischen Nachbarschaft Guatemalas durchwachsen aus. Während in Honduras eine Mitte-Links-Regierung mit unklarem Kurs besteht, befinden sich El Salvador und noch mehr Nicaragua in eindeutig autoritärem Fahrwasser. Dabei ist Arévalo nicht nur auf den Druck der Straße, sondern auch auf internationale Unterstützung angewiesen. Notgedrungen muss er auch Politiker*innen anderer Parteien auf seine Seite ziehen. Sollte der Pakt der Korrupten seinen Amtsantritt nicht noch vereiteln, ist das zumindest nicht ausgeschlossen. Vorerst lebt die Hoffnung auf einen neuen »demokratischen Frühling« weiter.

Tobias Lambert

arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika.