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Guatemalas verfolgte Opposition  

In dem mittelamerikanischen Land spitzen sich vor der Präsidentschaftswahl die autoritären Tendenzen im Staatsapparat weiter zu

Von Knut Henkel

Auf einer Kundgebung in Guatemala Stadt hält ein Mann ein Transparent mit der Aufschrift »Wir sind das Volk, keine Terroristen« in die Höhe
»Wir sind das Volk, keine Terroristen«, steht auf dem Transparent, das ein Mann Mitte Februar auf einer Kundgebung in Guatemala-Stadt hochhält. Foto: Knut Henkel

Carlos Pineda heißt die Nummer drei jener Kandidat*innen, denen vom Verfassungsgericht das Recht in letzter Instanz verweigert wurde bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Juni zu kandidieren. Die Ende Mai verkündete Entscheidung der höchsten Rechtsinstanz kommt nicht überraschend, denn in Guatemala entscheiden derzeit zwei Gerichte über die Zukunft der Demokratie und nicht, wie es eigentlich sein sollte, die Wähler*innen an den Urnen.

Das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht spielen sich seit Monaten gegenseitig die Bälle zu und lassen eine*n Präsidentschaftskandidat*in nach dem und der anderen aus durchsichtigen Motiven nicht zu. Carlos Pineda ist der dritte Kandidat. Vor ihm war der linken Kandidatin Thelma Cabrera und ihrem Vizepräsidentschaftsanwärter Jordán Rodas bereits die Wahl-Zulassung verweigert worden sowie dem konservativem Kandidaten Roberto Arzú.

Mit Edmond Mulet wartet ein vierter Präsidentschaftskandidat auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, und auch dieser Diplomat und langjährige UN-Mitarbeiter wird voraussichtlich aus dem Umfrage-Ranking ausscheiden. Das führte bis Ende Mai Carlos Pineda vor der ehemaligen First Lady Sandra Torres und Edmond Mulet an. Auf dem vierten Platz lag zu diesem Zeitpunkt Zury Ríos, Tochter des ehemaligen Diktators Efraín Ríos Montt.

Ríos könnte die Kandidatin des Kreises sein, der in Guatemala den Ton angibt: der »Pakt der Korrupten«. Hinter dem in Guatemala gängigen Begriff verbergen sich Ex-Militärs, korrupte Politiker*innen und Mitglieder der wirtschaftlich potenten Familien des Landes sowie der organisierten Kriminalität. Letztere häuft mit dem Schmuggel von Drogen gen Norden Macht, Geld und Einfluss an. Dafür, dass auch Zury Ríos auf der Liste des Pakts steht, spricht die Tatsache, dass die von diesem Kreis kontrollierten Gerichte sie als Kandidatin zugelassen haben. Angehörige von ehemaligen Gewaltherrschern dürfen laut Verfassung nicht für das höchste Staatsamt kandidieren. Bei Zury Ríos, Jahrgang 1968, ist das anders, und deshalb ist es wahrscheinlich, dass sich die Tochter des im April 2018 verstorbenen Ex-Diktators Efraín Ríos Montt mit dem Pakt der Korrupten arrangiert hat, so meint Jordán Rodas, der im spanischen Exil lebt.

Beispiellose Rolle rückwärts

Jordán Rodas ist der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte der guatemaltekischen Regierung. Bis Mitte August 2022 lief sein Mandat, und der Jurist aus Guatemalas zweitgrößter Stadt Quetzaltenango ist direkt im Anschluss daran ins spanische Bilbao geflohen. In Guatemala seien er und seine Familie nicht mehr sicher gewesen, meint Rodas und verweist auf den Fall der Staatsanwältin Virgina Laparra, die seit Februar 2022 in U-Haft sitzt. Auch gegen die beiden Anwälte Justino Brito und Juan Francisco Foppa wird ermittelt, weil sie den Direktor der guatemaltekischen Tageszeitung El Periódico gegen den Vorwurf der Geldwäsche verteidigten. Vorbei, denn nun sitzen beide im Gefängnis, weil sie es verpasst haben das Land rechtzeitig zu verlassen und ins Exil zu gehen – wie mehr als dreißig andere Justizangestellte aus Guatemala, darunter auch der Richter Miguel Ángel Gálvez.

Es sind die alten Parallelstrukturen aus Militärs und erzkonservativen Unternehmenszirkeln, die das Land wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Für den 64-jährigen Richter, der zu den renommiertesten Personen im Justizsektor des Landes gehörte, sind es die alten Parallelstrukturen aus Militärs und erzkonservativen Unternehmenszirkeln, die das Land ähnlich wie damals im Bürgerkrieg (1960-1996) wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. »Hier hat es einen beispielslosen Rollback zwischen 2015, dem Zeitpunkt des unfreiwilligen Rücktritts vom Präsidenten und Ex-General Otto Pérez Molina, und dem Auftakt des Wahlkampfes im Dezember 2022 gegeben. Alle öffentlichen Institutionen werden kontrolliert und gesteuert – die letzte, die kippte, war die Generalstaatsanwaltschaft unter Jordán Rodas«, erklärt Gálvez.

Wie die Strukturen verlaufen, ist Gálvez letztlich erst in ganzer Tragweite klar geworden, als er sich mit dem Diario Militar beschäftigen musste – einer geheimen Todesliste. Die Liste für die militärischen Todeskommandos enthält Namen, persönliche Informationen zur Familie und politische Aktivitäten von 183, später 195 Personen, die auf 74 Karteikarten festgehalten wurden. Die meisten dieser Personen sind verschwunden. Die Karteikarten gelten als »Artefakt der Techniken des staatlichen Terrors«, und die höchste juristische Institution der Region, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, hat den guatemaltekischen Staat 2012 dazu verurteilt, die Verbrechen aufzuklären. Dafür war Miguel Ángel Gálvez mitverantwortlich. Er war für die Beweisaufnahme verantwortlich, vertiefte sich immer mehr in die Materie und wurde immer unbequemer für die militärisch-ökonomischen Netzwerke dahinter und die neun ranghohen angeklagten Militärs.  

Letzter Ausweg: Exil

Das sorgte dafür, dass der Richter über Monate bedroht und ausspioniert wurde und Mitte November 2022 schließlich das Handtuch warf. Er floh nach Deutschland, weil er in Guatemala nicht mehr sicher war und weil er nicht wie seine Kollegin Laparra mit 64 Jahren in einer kleinen, dunklen Zelle ohne Tageslicht landen wollte. Das eint ihn mit Jordán Rodas und etlichen anderen Jurist*innen und Aktivist*innen, die Guatemala gen Costa Rica, die USA oder auch Europa verlassen haben.

»Es gibt so etwas wie einen Rachefeldzug gegen Richter*innen, Staatsanwält*innen, aber auch Journalist*innen, die nur ihre Arbeit gemacht haben. Wer nicht rechtzeitig ausreist, geht ein hohes Risiko ein«, so Rodas. Er ist im August 2022 ausgereist, allerdings auch heimlich wieder zurückgekommen. Rodas hat sich auf der Versammlung des Movimiento para la Liberación de los Pueblos (Bewegung für die Befreiung der Völker MLP) im Dezember zum Vizepräsidentschaftskandidaten an der Seite der indigenen Kandidatin Thelma Cabrera wählen lassen. Das war mutig, aber auch gewitzt, weil niemand in Guatemala auf die Idee gekommen ist, dass Rodas an der Seite von Cabrera kandidieren und sich persönlich den Delegierten stellen würde. Doch genau so kam es. Cabrero hatte bereits bei den letzten Wahlen 2018 für Aufsehen gesorgt, indem sie auf einem respektablen vierten Platz gelandet war.

Das hat sicherlich dazu beigetragen, dass das Duo Cabrera/Rodas nicht zugelassen wurde. Zu gefährlich aus Perspektive des »Paktes der Korrupten«, der sich, anders als von Rodas erwartet, gegen einen leidlich fairen Wahlkampf entschieden hatte. Vorbei. Für Rodas ist die Beschneidung des Wahlrechts durch die Entscheidung des Wahlgerichts jedoch der potenzielle Brandbeschleuniger für soziale Proteste. »Die Menschen haben die Nase so voll von den autoritären Strukturen in Guatemala. Die Mächtigen glauben jedoch, dass die Bevölkerung alles schlucken wird, aber dem ist nicht so. Das Risiko einer sozialen Explosion steigt«, glaubt Rodas.

Über Wochen hat er in Bilbao auf gepackten Koffern gesessen, wollte Wahlkampf machen, hoffte, dass das Verfassungsgericht Cabrera und ihn letztlich zulassen würde, das es zumindest eine Chance geben würde, den politischen Wandel einzuleiten. Geschichte. Der de facto herrschende »Pakt der Korrupten« reagiert kaum noch auf Kritik von außen, egal, ob sie aus den USA, der Europäischen Union, der Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) oder von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kommt. Alle genannten haben sowohl die Angriffe auf kritische Medien wie El Periódico als auch das Aussperren der drei oder womöglich auch vier Präsidentschaftskandidat*innen deutlich kritisiert.

»Doch der Effekt ist gleich Null«, erklärt Julia Corado, die bis Mitte Mai Redaktionsleiterin von El Periódico war. Mittlerweile hat die Tageszeitung, die zur gewohnten morgendlichen Lektüre derjenigen gehörte, die gegen Korruption und für ein demokratisches Guatemala stimmten, ihr Erscheinen eingestellt. Knapp 27 Jahre hatte es El Periódico gegeben. Auch Rebeca Lane, Soziologin und Rapperin, die sich für Frauenrechte, aber auch für die Aufklärung der Bürgerkriegsverbrechen engagiert, war Leserin und hatte in den letzten Jahren immer wieder darüber nachgedacht, das mittelamerikanische Land zu verlassen.

»Doch das sagt sich leichter, als es getan ist. Emigrieren ist schwer und vor allem mit so einem Pass«, sagt die 36-Jährige und deutet auf ihre guatemaltekischen Papiere und gleich darauf auf ihre 18 Monate alte Tochter. Nun muss sie für zwei denken und agieren. Ein Leben in der Illegalität gehört nicht zu den Risiken, die sie eingehen will. Allerdings hat die Sängerin, die mit Songs wie der »Cumbia de la Memoria« oder »Desaparecidxs« klare Position für die Erinnerung und Aufklärung der Verbrechen der Diktatur und des Bürgerkriegs bezog, genau beobachtet, wie sich die Perspektiven von 2015 bis heute verdüsterten. »Die mafiösen Strukturen haben sich nach 2015 reorganisiert, an Macht gewonnen. Sie sorgen dafür, dass immer mehr Andersdenkende aus dem Land gedrängt werden«, sagt die Musikerin.

Zweikampf

Rebeca Lane erwartet nichts Positives. Ähnlich düster ist die Erwartungshaltung im Lager von Menschenrechtsorganisationen wie CalDH.  Die leitet der Jurist Héctor Reyes. Für ihn war das Duo Thelma Cabrera und Jordán Rodas ein ernstzunehmendes Gespann, das den vielen zugelassenen Kandidat*innen des konservativen Lagers durchaus Paroli hätte bieten können. »Durch die Aussperrung der Beiden und der zwei oder womöglich drei weiteren, eher konservativen Kandidaten, soll der Weg frei gemacht werden für willfährige Kandidaten. Das Wahlgericht hat die für uns so wichtigen Wahlen an die Familien, die das Land dominieren, verkauft«, ist sich Reyes sicher.

Nun könnten die Wahl auf einen Zweikampf zwischen zwei Frauen  hinauslaufen: Zury Ríos gegen Sandra Torres. Während die eine de facto ein Kind des militärisch-unternehmerischen Sektors ist, der in Guatemala die Macht innehat, steht die andere für eine liberale Politik, stand sie doch einst der Sozialdemokratie nahe. Doch das ist Geschichte, und für viele gelten Sandra Torres und ihre »Nationale Einheit der Hoffnung« als wenig vertrauenswürdig. Immer wieder hat es Korruptionsvorwürfe gegen die 67-Jährgie gegeben, die schon zweimal für das höchste Staatsamt kandidierte und jeweils scheiterte. Das könnte auch ein drittes Mal passieren, denn zum einen ist ihre potenzielle Gegenspielerin Zury Ríos populär im evangelikalen Kirchenspektrum, zum anderen genießt sie die Unterstützung der Militärs. Für Jordán Rodas und Héctor Reyes droht Guatemala ein neues autoritäres Regime.

Knut Henkel

ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist in und über Lateinamerika.